Mit einem Fußtritt stößt der Museumswärter vor der Berliner Nationalgalerie die nackte Frau über steile Treppenstufen hinab, einige Gemälde werden ihr hinterhergeworfen – und der schnauzbärtige preußische Schutzmann in der Karikatur von 1908 kommandiert:
"Portier, schmeißen Se man det Weibsbild, die moderne Kunst, raus, damit Platz wird for unsere echte, preußische Kunst!"
Das Wort der "Jugend" hat Gewicht
Die französische Moderne, Gemälde von Courbet, Manet, Renoir hat Kaiser Wilhelm II. aus der Nationalgalerie verbannt. Gegen diese Berliner Museumspolitik richtet sich die Karikatur der Münchner Zeitschrift "Jugend". Als "illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben" ist sie zur Bühne für Künstler und Intellektuelle avanciert. Das Wort der "Jugend" hat Gewicht – von Anfang an, wie einer ihrer Autoren, der Schriftsteller Ludwig Thoma, betont:
"Am 1. Januar 1896 erschien die erste Nummer der 'Jugend'. Mit welcher Aufmerksamkeit betrachtete man die Zeichnungen, prüfte man die Beiträge, las man die Namen der Künstler und Schriftsteller! Sie waren Ereignisse, über die man diskutierte, nicht Kaffeehauslektüre, die man durchblätterte und weglegte."
Illustre Redaktion: Franz von Stuck, Lovis Corinth, Arnold Böcklin
Dahinter steckt ein umtriebiger Journalist: Der Ökonom Georg Hirth, hat als ambitionierter Kunstsammler 1892 gegen eine konservative Kultur- und Ausstellungspolitik die Gründung der Münchner Secession unterstützt. Deren Künstler holt er 1896 für seine Zeitschrift mit ins Boot. Neben Franz von Stuck und Lovis Corinth kommt der Maler Arnold Böcklin zum Zuge. Im ersten Heft der "Jugend" stellt ihn der Verleger vor, mit einer Fotografie, für die er selbst zur Kamera gegriffen hat: Das von Vignetten umrahmte Doppelporträt zeigt Arnold Böcklin, den Maler, in trauter Eintracht neben Adolf Bayersdorfer, dem Kunsthistoriker und Kritiker. Hirths Absicht:
"Indem ich hier den großen unvergleichlichen Arnold und seinen feinsinnigen gelehrten Ruhmkünder Adolf bildlich vereinigte, konnte ich auch dem Ammenmärchen von der notwendigen Gegnerschaft zwischen Könnern und Kennern eins versetzen."
Hirth öffnet seine Zeitschrift "für alle Talentierten und für alle Tendenzen", und er schreibt Wettbewerbe aus für die Gestaltung von Bucheinbänden, Plakaten oder Menükarten. Viele Teilnehmer lassen sich inspirieren von Böcklins Bilderwelt mit Nixen, Faunen und Fabelwesen, die durch ornamental verschlungene Gefilde wandeln, bekränzt von Blumengirlanden. Daraus entwickelt sich der "Jugendstil". Die neue, nach der Zeitschrift benannte Ästhetik wird schnell zur Mode. Ein Redakteur listet auf, wie Kunstgewerbe und Industrie sich aus dem Mustervorrat floraler Motive bedienen:
"Jugendstil heißen sie jeden Topf, auf dem eine schauerlich stilisierte Lilie, oder ein Frauenzimmer mit verrückter Frisur, oder eine Orchidee abgebildet ist. Die Leute verfertigen jetzt die haarsträubendsten Gegenstände aus Gips, Blech, Glas, Papier, Pappe, Leder, Zink und Weißtduwas. Und nun soll ich für alle Auswüchse die Kosten tragen, für alle Verballhornung durch eine rohe Massenindustrie, die doch nur Jugendstil produziert, weil die Rokokomuster nimmer gehen!"
Georg Hirths politische Ambivalenzen
Ironisch wird selbst der eigene Erfolg infrage gestellt – das ist typisch für die "Jugend" und den Eigensinn ihres Verlegers. Als Liberaler attackiert Georg Hirth Zensurmaßnahmen und den katholischen Klerus, hält aber Abstand zu den Sozialdemokraten. Sein Ideal ist ein durch das Kaisertum geeintes Deutschland. Doch der preußisch-reale Kaiser, Wilhelm II., gilt ihm als lächerlicher Zampano, der die Zukunft der Nation durch cholerisches Säbelrasseln verspielt:
"Durch ewige Zollstänkereien und Attentate auf das ABC der Kultur machen wir uns verhasst. Wie kann man nur einen Industriestaat allererster Klasse fortwährend mit Gott und aller Welt verfeinden?"
Jäher Niedergang in den 20er-Jahren
Diesen kritischen Stachel verliert die "Jugend", als Georg Hirth 1916 stirbt. Die Zeitschrift stimmt ein in die nationalistischen Schlachtgesänge des Ersten Weltkriegs, verliert in der Weimarer Republik vollends ihren Kurs und wird nach zaghaften Anpassungsbemühungen an die nationalsozialistische Diktatur 1940 eingestellt.