"Dabei kann ich mich nur daran erinnern, daß ich bei meiner ersten Prüfung als Student ein Referat über Pirandello halten mußte und prompt durchgefallen bin, weil ich nicht im Stande war, ihn auf eine (solche) Formel zu reduzieren. Ich glaube, Pirandello hat eine sehr eigene, eine sehr originelle Ästhetik entworfen. Also, er hat relativ viele Einflüsse gehabt, ohne daß er je so wirklich einer Schule zuzuordnen gewesen sein könnte. (Er war nie so eindeutig einordbar, daß er bei den Futuristen gewesen wäre.) Er war immer ein bewunderter Einzelgänger."
Den ersten Schritt in Richtung Freiheit macht Pirandello 1887, als er zum Studium nach Rom geht. So kann er sich den existentiellen Nöten des elterlichen Schwefelabbau-Betriebs entziehen und sich in der Metropole mit den verschiedensten aktuellen Literaturströmungen vertraut machen: wie dem Naturalismus oder dem Ästhetizismus eines Gabriele D´Annunzio. In diesen Jahren entsteht auch sein erster Gedichtband `Mal Giocondo`. Nach einem zweijährigen Studienaufenthalt in Bonn kehrt Pirandello 1891 wieder nach Rom zurück. Dort findet er allmählich Kontakt zu den römischen Intellektuellenkreisen und lernt den wichtigsten Theoretiker des Verismus, Luigi Capuana, kennen. Capuana brachte seinen Zögling Pirandello schließlich dazu, sich von Gedichten abzuwenden und Prosa zu schreiben. Von da an arbeitet Pirandello wie ein Besessener an zahlreichen Novellen und veröffentlicht 1901 seinen ersten Roman `L´esclusa`- die Ausgestoßene`.
Doch dieses freie, spannende Leben als Literat wird 1894 durch eine unfreiwillige Heirat gestört: Luigis Vater ist fast bankrott und nur die Eheschließung mit der Unternehmertochter Antonietta kann den Betrieb retten. Pirandello opfert sich pflichtbewußt und lebt von dort an ein Doppelleben: als guter Ehemann und Diener der Kunst. Pirandello bemüht sich um einen Spagat. In einem Brief an seine Frau Antonietta schreibt er:
"Diese persönliche Erfahrung, nicht nur eine Identität zu haben, zieht sich wie ein roter Faden durch Pirandellos Werk." Dazu Rössner:
"Einer der Mythen, die er stürzt ist die des Mythos des einheitlichen Ichs. Und bei Piradello ist es auch eine wichtige Erfahrung der Menschen, daß sie spüren, nicht immer die- oder derselbe zu sein. Daß in ihnen mehrere potentielle Subjekte koexistieren, die unter bestimmten Umständen die Oberhand gewinnen und etwas tun. Damit kann man sich selbst dann nicht mehr identifizieren."
In dem 1904 veröffentlichten Roman `Il fu Mattia Pascal` versucht die Hauptfigur Mattia, sich durch zwei fingierte Selbstmorde ihrer alten Identität zu entledigen. Was sich als Trugschluß herausstellt, denn Mattia wird von seinem anderen Ich auf Schritt und Tritt verfolgt.
Dieses Thema der multiplen Persönlichkeit wird in Pirandellos letztem großen Roman `Uno, nessuno centomila`-Einer, keiner 100.000- auf die Spitze getrieben. Selbst bei intensivster Betrachtung seiner schiefen Nase im Spiegel stellt Vitangelo Moscarda fest, daß er sich selbst nie so sehen wird, wie es andere tun:
"...Ich wollte mich bei meinen natürlichen Handlungen ertappen, die plötzlichen Veränderungen meiner Gesichtszüge bei jeder Seelenregung erhaschen...Die Vorstellung, daß die anderen in mir einen Menschen sahen, der ich nicht war, daß die anderen also ein Leben sahen, das für sie zwar das meine war, in das ich aber nicht eindringen konnte, diese Vorstellung ließ mir keine Ruhe mehr. Wie sollte ich diesen Fremden in mir ertragen ? Diesen Fremden, der ich selber war?"
Irgendwann entdeckt Moscarda, daß er nicht nur eine Identität hat, sondern unendlich viele, je nachdem welche Rolle er gerade spielen muß, und sei es die des braven Ehemannes. Sein Leben entpuppt sich als Rollenspiel.
"Natürlich steht man an der Schwelle zum Wahnsinn, wenn man sich nicht mehr auf eine fixe Rolle festlegen läßt. Es ist zugleich aber auch ungeheuer spannend. Es ist dann eine Möglichkeit, das leben dann als Spiel zu betrachten. Da vielleicht hat Pirandello etwas Postmodernes Und er geht zugleich über die Postmoderne hinaus, denn es ist ein Spiel, das man nicht ohne Einsatz spielen kann. Sondern es ist ein Spiel, bei dem immer das Leben auf dem Spiel steht."
Als Ausweg bleibt am Ende der totale Rückzug, der Tod. Genauso wie die beiden Fin-de-siècle-Autoren Miguel de Unamuno und Italo Svevo, überläßt Pirandello seine Figuren ihrem Schicksal und zieht sich als Autor zurück. Was Pirandello mit seinen Theater- oder Romanfiguren verbindet, ist Mitleid. Dieses Gefühl findet seinen Ursprung in Pirandellos Definition des Humors. In dem Essay `L´umorismo` aus dem Jahre 1908 beschreibt er, was einen Humoristen wie ihn ausmacht:
"Ich sehe eine alte Dame mit gefärbtem Haar, das auch noch vollständig mit einer schrecklichen Pomade eingefettet ist; sie hat ihr ganzes Gesicht lächerlich zurechtgeschminkt. Ich fange an zu lachen. Denn ich stelle fest, daß diese alte Dame das Gegenteil ist von dem, was eine alte, ehrwürdige Dame sein sollte. So kann ich fürs erste und bei oberflächlicher Betrachtung bei diesem komischen Eindruck stehenbleiben. Das Komische liegt eben gerade in diesem Beobachten des Gegenteils. Aber wenn nun die Reflexionsarbeit in mir einsetzt und mir die Überlegung eingibt, daß diese alte Dame vielleicht überhaupt kein Vergnügen daran findet, sich wie ein Papagei herzurichten...und das nur tut, weil sie dem frommen Betrug erliegt,...die Liebe ihres sehr viel jüngeren Ehemannes bewahren [zu können], dann kann ich nicht mehr so darüber lachen wie zuvor, weil nämlich meine Reflexionsarbeit mich über jene erste Feststellung hat hinausgehen...lassen. Sie hat mich von jenem anfänglichen Beobachten des Gegenteils zu einem gegenteiligen Gefühl, zur Empfindung des Gegenteils gelangen lassen. Das ist der ganze Unterschied zwischen dem Komischen und dem Humoristischen."
Der Humorist Pirandello geht analytisch vor; er versucht, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, umeinen ersten, spontan-komischen Eindruck zu überwinden. ´La risa`- das Lachen- ist dann nur eine Etappe auf dem Weg zu seinem Gegenteil. Was ist tragisch oder komisch? Irgendwann erkennt auch der Humorist keinen Unterschied mehr. Hier schließt sich der Kreis des pirandellianischen Weltbildes wieder: Es gibt keine einzige Wahrheit und auch keine einzige Wirklichkeit.
Der Humorist Pirandello holt die Menschen von ihrem hohen Roß herunter, denn die Welt, auf der sie sich bewegen, ist nicht weiter als ein Sandkorn:
"Der Humorist erkennt keine Helden an ...der Humorist vergnügt sich damit, sie zu zerlegen, und man kann nicht einmal sagen, daß das ein wirkliches Vergnügen wäre...Er sieht die Welt, wenn auch nicht eigentlich nackt, so doch sozusagen im Hemd."
Die völlige Entblößung, das war auch das, was Pirandello mit dem damals gängigen naturalistischen Theater vorhatte. Mit seinen ab 1910 entstandenen Bühnenstücken wollte er das Theater in seiner dramatischen Form revoluzionieren, indem er die Logik der Handlung bis zum Äußersten zuspitzte.
"Das interessante zunächst einmal in seiner Zeit ist, daß er anders als die anderen Avantgardisten den weg der frontalen Konfrontation gewählt hat. Er hat versucht, das Theater von Innen heraus zu sprengen. Etwas funktioniert nicht mehr, weil die Logik, ach der das ganze geht, so scharf bis zum Ende gedacht wird, daß sie sich irgendwann mal in ihrem eigenen Netz verfängt. Die Leute finden sich nicht mehr zurecht und bemerken plötzlich etwas, das eine der Grundideen Pirandellos ist, daß sie nicht mehr miteinander kommunizieren können. Da es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die die gleiche Wirklichkeit erleben."
Kürzlich, bei der Wiener Premiere von `stasera si recita a soggetto`-heute abend wird aus dem Stegreif gespielt` wurde sogar das Foyer miteinbezogen: Rössner:
"In der Pause habe ich zwei Leute am Büffet stehen gesehen. Und der eine hat den anderen gefragt: Spielen wir eigentlich jetzt mit, oder sind wir Zuschauer. Und da hat der andere gesagt: Hast du deinen Sekt bezahlt ? Ja! Dann bist du Zuschauer. Was Pirandello macht, ist daß er das Theater insofern ändern möchte, daß er den Zuschauer nicht mehr ungeschoren davonkommen läßt."
Auch in Pirandellos wohl berühmtestem Theaterstück `Sei personaggi in cerca d`autore`- 'Sechs Personen suchen einen Autor' haben die Zuschauer keine Gelegenheit, sich in ihre Sessel zurückfallen zu lassen. Ständig müssen sie sich fragen, wer spielt hier eigentlich: Die Schauspielertruppe und ein dazugehöriger Regisseur, oder die sechsköpfige Familie am Bühnenrand, die den Regisseur bitten, ihre Familientragödie aufzuführen:
Bei der Premiere der `Sechs Personen` 1921 in Rom schmiß das entrüstete Publikum allerlei Grünzeugs auf die Bühne. Die Zuschauer waren empört über dieses Stück, dessen Höhepunkt das Scheitern der Aufführung war. Wurde Pirandello von seinen Landsmännern dafür ausgebuht und von der Kritik niedergeschrieben, brach im Ausland aber eine regelrechte Pirandello- Mania aus: In New York, London, Paris und auch Berlin waren die sechs Personen ein voller Erfolg. Später schaffte Pirandello auch im Heimatland den Durchbruch und bekam sogar vom Duce persönlich Unterstützung zugesagt. Trotzdem ging sein Traum vom Aufbau eines Nationaltheaters nie in Erfüllung. Nach einigen Gehversuchen in der Welt des Kinos widmet sich der desillusionierte Pirandello wieder dem Novellenschreiben und bekommt 1936 kurz vor seinem Tod den Literaturnobelpreis überreicht. Als er am 10. Dezember stirbt, hinterläßt er den unvollendeten Dreiakter `Die Riesen vom Berge` und zwei verschiedene Romanentwürfe. Sein- wie er selbst sagte-`unfreiwilliger Aufenthalt auf Erden` hinterläßt ein großes Vermächtnis.
In den Novellen, Romanen und Theaterstücken entdeckt man Pirandellos praktische Philosophie: Seine Figuren durchleben nachvollziehbar die Abgründe und Wirrungen des Lebens und müssen feststellen, daß miteinander reden nicht gleich verstehen heißt. Jeder trägt in sich seine eigene Wirklichkeit.
Pirandellos Sicht auf die menschliche Existenz inspirierte Existentialisten wie Camus und ist heute noch aktuell.
Die Gesamtausgabe von Propyläen stellt eine einmalige Gelegenheit dar, sich Band für Band mit der Welt Pirandellos vertraut zu machen. Beginnen sollte man mit Michael Rössners Portrait, das einem auch den Menschen Luigi Pirandello nahe bringt.
Den ersten Schritt in Richtung Freiheit macht Pirandello 1887, als er zum Studium nach Rom geht. So kann er sich den existentiellen Nöten des elterlichen Schwefelabbau-Betriebs entziehen und sich in der Metropole mit den verschiedensten aktuellen Literaturströmungen vertraut machen: wie dem Naturalismus oder dem Ästhetizismus eines Gabriele D´Annunzio. In diesen Jahren entsteht auch sein erster Gedichtband `Mal Giocondo`. Nach einem zweijährigen Studienaufenthalt in Bonn kehrt Pirandello 1891 wieder nach Rom zurück. Dort findet er allmählich Kontakt zu den römischen Intellektuellenkreisen und lernt den wichtigsten Theoretiker des Verismus, Luigi Capuana, kennen. Capuana brachte seinen Zögling Pirandello schließlich dazu, sich von Gedichten abzuwenden und Prosa zu schreiben. Von da an arbeitet Pirandello wie ein Besessener an zahlreichen Novellen und veröffentlicht 1901 seinen ersten Roman `L´esclusa`- die Ausgestoßene`.
Doch dieses freie, spannende Leben als Literat wird 1894 durch eine unfreiwillige Heirat gestört: Luigis Vater ist fast bankrott und nur die Eheschließung mit der Unternehmertochter Antonietta kann den Betrieb retten. Pirandello opfert sich pflichtbewußt und lebt von dort an ein Doppelleben: als guter Ehemann und Diener der Kunst. Pirandello bemüht sich um einen Spagat. In einem Brief an seine Frau Antonietta schreibt er:
"Diese persönliche Erfahrung, nicht nur eine Identität zu haben, zieht sich wie ein roter Faden durch Pirandellos Werk." Dazu Rössner:
"Einer der Mythen, die er stürzt ist die des Mythos des einheitlichen Ichs. Und bei Piradello ist es auch eine wichtige Erfahrung der Menschen, daß sie spüren, nicht immer die- oder derselbe zu sein. Daß in ihnen mehrere potentielle Subjekte koexistieren, die unter bestimmten Umständen die Oberhand gewinnen und etwas tun. Damit kann man sich selbst dann nicht mehr identifizieren."
In dem 1904 veröffentlichten Roman `Il fu Mattia Pascal` versucht die Hauptfigur Mattia, sich durch zwei fingierte Selbstmorde ihrer alten Identität zu entledigen. Was sich als Trugschluß herausstellt, denn Mattia wird von seinem anderen Ich auf Schritt und Tritt verfolgt.
Dieses Thema der multiplen Persönlichkeit wird in Pirandellos letztem großen Roman `Uno, nessuno centomila`-Einer, keiner 100.000- auf die Spitze getrieben. Selbst bei intensivster Betrachtung seiner schiefen Nase im Spiegel stellt Vitangelo Moscarda fest, daß er sich selbst nie so sehen wird, wie es andere tun:
"...Ich wollte mich bei meinen natürlichen Handlungen ertappen, die plötzlichen Veränderungen meiner Gesichtszüge bei jeder Seelenregung erhaschen...Die Vorstellung, daß die anderen in mir einen Menschen sahen, der ich nicht war, daß die anderen also ein Leben sahen, das für sie zwar das meine war, in das ich aber nicht eindringen konnte, diese Vorstellung ließ mir keine Ruhe mehr. Wie sollte ich diesen Fremden in mir ertragen ? Diesen Fremden, der ich selber war?"
Irgendwann entdeckt Moscarda, daß er nicht nur eine Identität hat, sondern unendlich viele, je nachdem welche Rolle er gerade spielen muß, und sei es die des braven Ehemannes. Sein Leben entpuppt sich als Rollenspiel.
"Natürlich steht man an der Schwelle zum Wahnsinn, wenn man sich nicht mehr auf eine fixe Rolle festlegen läßt. Es ist zugleich aber auch ungeheuer spannend. Es ist dann eine Möglichkeit, das leben dann als Spiel zu betrachten. Da vielleicht hat Pirandello etwas Postmodernes Und er geht zugleich über die Postmoderne hinaus, denn es ist ein Spiel, das man nicht ohne Einsatz spielen kann. Sondern es ist ein Spiel, bei dem immer das Leben auf dem Spiel steht."
Als Ausweg bleibt am Ende der totale Rückzug, der Tod. Genauso wie die beiden Fin-de-siècle-Autoren Miguel de Unamuno und Italo Svevo, überläßt Pirandello seine Figuren ihrem Schicksal und zieht sich als Autor zurück. Was Pirandello mit seinen Theater- oder Romanfiguren verbindet, ist Mitleid. Dieses Gefühl findet seinen Ursprung in Pirandellos Definition des Humors. In dem Essay `L´umorismo` aus dem Jahre 1908 beschreibt er, was einen Humoristen wie ihn ausmacht:
"Ich sehe eine alte Dame mit gefärbtem Haar, das auch noch vollständig mit einer schrecklichen Pomade eingefettet ist; sie hat ihr ganzes Gesicht lächerlich zurechtgeschminkt. Ich fange an zu lachen. Denn ich stelle fest, daß diese alte Dame das Gegenteil ist von dem, was eine alte, ehrwürdige Dame sein sollte. So kann ich fürs erste und bei oberflächlicher Betrachtung bei diesem komischen Eindruck stehenbleiben. Das Komische liegt eben gerade in diesem Beobachten des Gegenteils. Aber wenn nun die Reflexionsarbeit in mir einsetzt und mir die Überlegung eingibt, daß diese alte Dame vielleicht überhaupt kein Vergnügen daran findet, sich wie ein Papagei herzurichten...und das nur tut, weil sie dem frommen Betrug erliegt,...die Liebe ihres sehr viel jüngeren Ehemannes bewahren [zu können], dann kann ich nicht mehr so darüber lachen wie zuvor, weil nämlich meine Reflexionsarbeit mich über jene erste Feststellung hat hinausgehen...lassen. Sie hat mich von jenem anfänglichen Beobachten des Gegenteils zu einem gegenteiligen Gefühl, zur Empfindung des Gegenteils gelangen lassen. Das ist der ganze Unterschied zwischen dem Komischen und dem Humoristischen."
Der Humorist Pirandello geht analytisch vor; er versucht, sich in sein Gegenüber hineinzuversetzen, umeinen ersten, spontan-komischen Eindruck zu überwinden. ´La risa`- das Lachen- ist dann nur eine Etappe auf dem Weg zu seinem Gegenteil. Was ist tragisch oder komisch? Irgendwann erkennt auch der Humorist keinen Unterschied mehr. Hier schließt sich der Kreis des pirandellianischen Weltbildes wieder: Es gibt keine einzige Wahrheit und auch keine einzige Wirklichkeit.
Der Humorist Pirandello holt die Menschen von ihrem hohen Roß herunter, denn die Welt, auf der sie sich bewegen, ist nicht weiter als ein Sandkorn:
"Der Humorist erkennt keine Helden an ...der Humorist vergnügt sich damit, sie zu zerlegen, und man kann nicht einmal sagen, daß das ein wirkliches Vergnügen wäre...Er sieht die Welt, wenn auch nicht eigentlich nackt, so doch sozusagen im Hemd."
Die völlige Entblößung, das war auch das, was Pirandello mit dem damals gängigen naturalistischen Theater vorhatte. Mit seinen ab 1910 entstandenen Bühnenstücken wollte er das Theater in seiner dramatischen Form revoluzionieren, indem er die Logik der Handlung bis zum Äußersten zuspitzte.
"Das interessante zunächst einmal in seiner Zeit ist, daß er anders als die anderen Avantgardisten den weg der frontalen Konfrontation gewählt hat. Er hat versucht, das Theater von Innen heraus zu sprengen. Etwas funktioniert nicht mehr, weil die Logik, ach der das ganze geht, so scharf bis zum Ende gedacht wird, daß sie sich irgendwann mal in ihrem eigenen Netz verfängt. Die Leute finden sich nicht mehr zurecht und bemerken plötzlich etwas, das eine der Grundideen Pirandellos ist, daß sie nicht mehr miteinander kommunizieren können. Da es keine zwei Menschen auf der Welt gibt, die die gleiche Wirklichkeit erleben."
Kürzlich, bei der Wiener Premiere von `stasera si recita a soggetto`-heute abend wird aus dem Stegreif gespielt` wurde sogar das Foyer miteinbezogen: Rössner:
"In der Pause habe ich zwei Leute am Büffet stehen gesehen. Und der eine hat den anderen gefragt: Spielen wir eigentlich jetzt mit, oder sind wir Zuschauer. Und da hat der andere gesagt: Hast du deinen Sekt bezahlt ? Ja! Dann bist du Zuschauer. Was Pirandello macht, ist daß er das Theater insofern ändern möchte, daß er den Zuschauer nicht mehr ungeschoren davonkommen läßt."
Auch in Pirandellos wohl berühmtestem Theaterstück `Sei personaggi in cerca d`autore`- 'Sechs Personen suchen einen Autor' haben die Zuschauer keine Gelegenheit, sich in ihre Sessel zurückfallen zu lassen. Ständig müssen sie sich fragen, wer spielt hier eigentlich: Die Schauspielertruppe und ein dazugehöriger Regisseur, oder die sechsköpfige Familie am Bühnenrand, die den Regisseur bitten, ihre Familientragödie aufzuführen:
Bei der Premiere der `Sechs Personen` 1921 in Rom schmiß das entrüstete Publikum allerlei Grünzeugs auf die Bühne. Die Zuschauer waren empört über dieses Stück, dessen Höhepunkt das Scheitern der Aufführung war. Wurde Pirandello von seinen Landsmännern dafür ausgebuht und von der Kritik niedergeschrieben, brach im Ausland aber eine regelrechte Pirandello- Mania aus: In New York, London, Paris und auch Berlin waren die sechs Personen ein voller Erfolg. Später schaffte Pirandello auch im Heimatland den Durchbruch und bekam sogar vom Duce persönlich Unterstützung zugesagt. Trotzdem ging sein Traum vom Aufbau eines Nationaltheaters nie in Erfüllung. Nach einigen Gehversuchen in der Welt des Kinos widmet sich der desillusionierte Pirandello wieder dem Novellenschreiben und bekommt 1936 kurz vor seinem Tod den Literaturnobelpreis überreicht. Als er am 10. Dezember stirbt, hinterläßt er den unvollendeten Dreiakter `Die Riesen vom Berge` und zwei verschiedene Romanentwürfe. Sein- wie er selbst sagte-`unfreiwilliger Aufenthalt auf Erden` hinterläßt ein großes Vermächtnis.
In den Novellen, Romanen und Theaterstücken entdeckt man Pirandellos praktische Philosophie: Seine Figuren durchleben nachvollziehbar die Abgründe und Wirrungen des Lebens und müssen feststellen, daß miteinander reden nicht gleich verstehen heißt. Jeder trägt in sich seine eigene Wirklichkeit.
Pirandellos Sicht auf die menschliche Existenz inspirierte Existentialisten wie Camus und ist heute noch aktuell.
Die Gesamtausgabe von Propyläen stellt eine einmalige Gelegenheit dar, sich Band für Band mit der Welt Pirandellos vertraut zu machen. Beginnen sollte man mit Michael Rössners Portrait, das einem auch den Menschen Luigi Pirandello nahe bringt.