Es war der Tag vor Heiligabend. An der Stadtmauer der Jerusalemer Altstadt stechen zwei 21-jährige Palästinenser mit Messern wahllos auf Passanten ein – immer wieder und mit voller Wucht, das zeigt ein Video vom Tatort. Dann schießen israelische Grenzpolizistinnen auf sie – bis ihre Magazine leer sind, wie später berichtet wird. Die Terroristen brechen zusammen. Dann treffen die Sanitäter ein. Unter ihnen Chaim Foxman. Kurze schwarze Haare, schwarze Kippa. Wir treffen ihn am Ort des Anschlags.
"Ich bin hergerannt, es war genau hier, wo wir jetzt stehen. Es war Chaos hier, viel Blut auf dem Boden. Ich habe zwei Menschen gesehen, die schwer verletzt waren. Einer hatte Stichwunden im Hals und im Rücken. Der andere auch."
Chaim Foxman beginnt Erste Hilfe zu leisten. Er ist Freiwilliger bei Zaka, einer israelischen Organisation, die Körperteile und Körperflüssigkeiten von Verstorbenen einsammelt, um die Menschen möglichst vollständig bestatten zu können – so wie es die Halacha vorschreibt, das jüdische Gesetz. Gerade bei Terroranschlägen müssen sie ihre Arbeit tun. Chaim Foxman hilft seit 20 Jahren bei Zaka. Er schätzt, er war bereits bei 60 bis 70 Terroranschlägen.
Er hat Erfahrung. Bevor die Zaka-Freiwilligen mit speziellen Tüchern das Blut aufsaugen, leisten sie Erste Hilfe. Und auch diesmal, hier am Jaffa-Tor befand Foxman sich in dem klassischen Dilemma nach einem Terroranschlag mit zahlreichen Verletzten. Unter den vier lebensbedrohlich Verletzten waren, wie so oft, auch die Terroristen selbst. Die Rettungskräfte müssen sich entscheiden, wem sie zuerst helfen.
Er begann mit den jüdischen Opfern. Einer der beiden Terroristen war bereits tot.
Der andere hatte schwerste Verletzungen erlitten.
"Obwohl ich sah, dass der Terrorist verletzt war, half ich ihm nicht."
Es war ein tödlicher Anschlag: Zwei Israelis starben. Und auch die beiden jungen Attentäter überlebten nicht. Solange die Opfer des Anschlags nicht medizinisch versorgt waren, konnte und wollte Foxman den Terroristen nicht helfen. Er kann sich nicht vorstellen, Hinterbliebenen von Opfern sagen zu müssen, dass er einem Opfer nicht habe helfen können, weil er sich zunächst um den Terroristen kümmern musste. Foxman ist gläubiger Jude, er zitiert den Talmud, die antike jüdische Schriftensammlung zur Auslegung der Thora.
"Wenn jemand kommt um Dich töten, dann töte ihn zuerst."
Als Israeli fühlt er sich auch persönlich angegriffen von den palästinensischen Terroristen. Es hätte ja auch ihn treffen können. Die Situation erinnere ihn an Krieg. Er tue, was er tun muss, sagt er.
Und das obwohl die israelische Ärztevereinigung am 1. Dezember 2015 einen neuen Ethik-Code herausgegeben hat. Die neuen Richtlinien schreiben vor, dass derjenige, der am schlimmsten verletzt ist, zuerst behandelt werden muss. Wer Opfer und wer Täter ist, soll für die Retter irrelevant sein. Ziemlich wirklichkeitsfremd, findet Foxman.
"So I don't see any reason to help a terrorist."
Aber Foxman weiß, dass das Thema hoch umstritten ist. Der bekannteste Unterstützer des neuen Verhaltenskodex ist der Vorsitzende des Roten Davidsterns in Israel, Eli Bin heißt er.
"Im Radio sagte er, wenn er zu einem Terroranschlag käme, und seine Tochter bluten sehe, und einen Terroristen, der schwerer verletzt ist, er würde dem Terroristen helfen. Das nehme ich ihm nicht ab. Niemals. Er muss das vielleicht sagen, wegen seines Jobs."
Wir fragen nach, bei Eli Bin.
"Wissen Sie, ich habe gründlich darüber nachgedacht, seit ich damals spontan so geantwortet habe. Und ich glaube, ich habe die richtige Antwort gegeben. Ich habe keinen Zweifel: In dieser Situation würde ich so handeln."
Eli Bin war auch persönlich bei Terroranschlägen als Sanitäter im Einsatz. Er erinnert sich an einen verheerenden Anschlag in Afula, vor mehr als 20 Jahren: Ein Attentäter zündete eine Bombe, acht Israelis starben, 55 wurden verletzt. Eli Bin ging zunächst zum Attentäter, sagt er.
"Wir konnten ihn nicht liegen lassen, als er nach Hilfe schrie. Wir konnten ihn nicht verbluten lassen – und das obwohl er nur wenige Sekunden davor das Leben anderer Menschen genommen hatte."
Bin sagt, er verachtete zwar den Attentäter, für das, was dieser getan hatte – aber trotzdem, er musste ihm helfen.
"Jede Person, die eine andere Person verletzt, muss dafür verurteilt werden, von Juristen, und nicht von den Leuten des Roten Davidsterns, deren Job es ist Leben zu retten. Das sind meine Werte. Du musst einen Menschen retten, weil er ein Mensch ist. Die Regeln sollten sehr klar sein: Diejenigen, deren Job es ist Leben zu retten, sollten das Leben als das höchste Gut ansehen."
Doch klar waren die Regeln früher nicht. Bis Dezember 2015 stand in den Richtlinien der israelischen Ärztevereinigung zu diesem ethischen Dilemma nur ein einziger Satz. Er regelte, wie der Angreifer bei einem feindlichen Angriff mit mehreren Verletzten zu behandeln sei: "Helfe zuerst den armen Menschen deiner Stadt". Das ist ein Satz aus dem Talmud: Ursprünglich beantwortet er die Frage, wem man Geld leihen soll – zuerst also den eigenen Leuten. Ein Satz, der nicht leicht auszulegen ist. Sollen Juden also generell vor Arabern behandelt werden? Nein, sagt Professor Pinchas Halpern, der Leiter der Notaufnahme am Tel Aviv Medical Center. Jedoch seien Opfer dem Täter vorzuziehen. Er argumentiert, dass jedes Opfer von Terror eben zu den eigenen Leuten zählt – egal ob Jude oder Araber.
Im vergangenen Jahr forderten mehrere Notfallmediziner eine Klarstellung, was dieser Satz bedeute. Die israelische Vereinigung "Ärzte für Menschenrechte" forderte in einem offenen Brief, den Satz ersatzlos zu streichen und ausschließlich nach der Schwere der Verletzung zu unterscheiden.
"Das Aushöhlen dieser medizinischen Prinzipien und dass wir sie politischen Meinungen und der öffentlichen Stimmung beugen, ist der Anfang des Endes der Medizin, so wie wir sie gerne sehen möchten. Es ist nicht Aufgabe der medizinischen Teams, auch Ermittler, Richter und Vollstrecker zu sein."
Am 1. Dezember entschied die Ethikkommission der Ärztevereinigung tatsächlich den umstrittenen Satz zu streichen. Jetzt gilt: Helfer sollen zuerst den am schwersten Verletzten behandeln, egal ob Opfer oder Täter.