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Erste kunsthistorische Einordung

Vor einem Jahr ist der US-amerikanische Installations- und Performancekünster Mike Kelly gestorben. Im Stedelijk Museum in Amsterdam findet - in Zusammenarbeit mit dem Nachlass - die erste Retrospektive auf ihn statt. Es wurde versucht, im Werk eine thematische Ordnung zu schaffen.

Von Carsten Probst | 17.12.2012
    Rätsel, Kultfigur, Mythos - schon zu Lebzeiten sprengte Mike Kelleys Werk alle Grenzen, und heute, nicht ganz ein Jahr nach seinem Tod, begibt sich das Amsterdamer Stedelijk Museum auf die Gradwanderung einer ersten kunsthistorischen Einordnung. Die erste Retrospektive ist immer die schwerste: Groß sind die Befürchtungen, einmal mehr könnte das anarchische, schwer zu fassende Ausufern eines herausragenden Lebenswerkes musealisiert und damit gleichsam sterilisiert werden, so wie man es in Fällen wie Beuys oder Andy Warhol mehr als einmal beklagt hat.

    In Amsterdam ist diese Balance aber auf erstaunliche Weise gelungen. In Kooperation mit der Kelley-Foundation, die das Erbe verwaltet, bemüht man sich darum, eine gewisse thematische Ordnung zu schaffen und einen roten Faden durch Kelleys Werk zu ziehen. Dazu wird diese Ausstellung konventionell aufgezogen, weitgehend als Chronologie, angelegt über die beiden riesigen Ausstellungsetagen des soeben fertiggestellten Anbaus des Stedelijk Museums. Und doch sind die einzelnen Säle so glänzend miteinander verbunden, dass die systematisierende Anordnung das Wuchern von Kelleys Ideen aufnimmt. Es bleibt etwas Zufälliges und Überbordendes erhalten, das dem Künstler wichtig war, um Sehgewohnheiten zu sprengen.

    Es beginnt gegen Ende der 70er-Jahre mit kleinen Installationen, in denen des Öfteren Musik, Film und Fotografie eine Rolle spielen. Mike Kelley ist so um die 24, 25 Jahre alt, er hat gerade ein Studium an der Universität von Michigan abgeschlossen und unter anderem mit Iggy Pop in einer Band gespielt und eine andere Band namens Destroy all Monsters gegründet. Es ist vor allem aber die Zeit, in der er am California Institute of Art sein Kunststudium beginnt, bei Lehrern wie John Baldessari, Laurie Anderson oder David Askevold. Mit Letzterem, David Askevold arbeitet er bei einigen frühen Projekten zusammen, etwa bei "The Poltergeist" von 1979, einer Serie von foto- und textbasierten Arbeiten zum Thema Geisterfotografie. In Anlehnung an diese Ende des 19. Jahrhunderts beliebte, spiritistische Fotografie spielt Kelley selbst in Remakes den Kontakt mit Geistern vor, rauchendes Ectoplasma entsteigt seinen Gesichtsöffnungen, und schon damals entwickelt er die Neigung zu extensiven Selbsterklärungen seiner Arbeiten. "Okkultistische Rituale interessieren mich, weil die dem Kunst-Machen ähnlich sind", kommentiert er. "The Poltergeist" nimmt vieles von dem vorweg, was Kelley späteres Werk auch auszeichnet: die Suche nach scheinbar abseitigen, möglichst irrationalen Themen, die er auf seine Praxis des Kunstmachens bezieht und ihnen dadurch eine neue Ebene kreativer Selbstbestimmung unterlegt.

    Immer wirken Kelley Arbeiten in zwei Richtungen: einerseits extrem schräg und skurril, andererseits zugleich intim und schonungslos alles Seelische in der Auseinandersetzung mit Kunst offenbarend: die Ängste, Aggressionen, Verzweiflung, den bösen Humor, die Sehnsucht nach gnadenloser Idylle. In seiner Radikalität und Intensität ist Kelleys Werk nur dem des dreizehn Jahre älteren Bruce Nauman vergleichbar.

    Seine Arbeitsmaterialien wechselt Kelley in der Folge fast beliebig und beherrscht sie alle mit unglaublicher Souveränität. In den frühen 80ern folgen zunächst Schlag auf Schlag bekannte comicartige Serien wie "Monkey Island", wo Menschen und Affen die Rollen tauschen, oder "Plato's Cave", eine zeichnerische Fantasie auf Platons Höhlengleichnis, "Rothko's Chapel" oder "Lincoln's Profile". Szenen mit Spielzeugfiguren, in denen er Kindheitsszenarien nachstellt, oder die Wandinstallation "Pay for your Pleasure" von 1986, ein Korridor des kollektiven Gedächtnisses aus lauter gemalten Gesichtern prominenter Geistesvertreter aller Zeiten, deren Reihe am Ende vom Bildnis eines verurteilten Kriminellen ins groteske Gegenteil verkehrt wird.

    In der oberen Etage folgen all jene aufwändigen, mitunter geradezu feierlichen Inszenierungen Kelleys aus seinen letzten zehn Lebensjahren: Die Erleuchteten Fantasiestadtgebilde der "Kandors", der Heimatstadt Supermans oder das uneingeschränkte multimediale Hauptwerk der Spätzeit, "The Day is Done", 2005 in der New Yorker Gagosian Gallery installiert, eine überbordende Fülle aus Kulissenarchitektur und selbstgedrehten, rhythmisch aufeinander abgestimmten Horrorfilmausschnitten, die dem Betrachter eine ebenso enervierende wie grandiose Psychoszenerie darbieten.

    Angesichts von Kelleys immensem Einfluss auch auf die Kunstszene in Deutschland stellt sich nur die Frage, warum hierzulande keine Institution über ihren Schatten springen und sich für eine Übernahme dieser wichtigen Schau erwärmen konnte, selbst wenn man vielleicht einmal nicht als erster auf die Idee gekommen ist.