"Hier, über diesen Ort haben wir viele, viele Berichte. Wir sind hier in Santive und da hinten in dem kleinen Wäldchen Plugstead, aber die englischen Soldaten nannten es Plugstreet. Die Britischen Soldaten nennen die ganze Gegend Plugstreet."
Erklärt mir Francious Makelberg. Wir sind an der belgisch-französischen Grenze auf belgischer Seite. Hier in den Wäldern verlief im ersten Weltkrieg eine andere, eine mörderische Grenze. Noch heute ist die Gegend übersäht von kleinen und größeren Friedhöfen. Im Dezember 1914, da war der Krieg erst ein paar Monate alt, lagen hier in den Schützengräben auf deutscher Seite Einheiten aus Sachsen. Ihnen gegenüber Engländer des Royal Warwickshire Regiments, erzählt Francious Makelberg.
"Es gibt eine Geschichte wie ein Deutscher good old Warwick rief. Der Deutsche wusste welches englische Regiment an vorderster Front war und auf Englisch rief er, good old Warwick."
"Ein Deutscher sang die englische Nationalhymne"
In den ersten Kriegsmonaten hatten die deutschen Einheiten schnell vorrücken können. Dann aber ging es nicht weiter. Nicht vor oder zurück. Hier an dieser Stelle lag die vorderste Front zwischen deutschen und Engländern nur etwa 100 Meter auseinander. So nah, dass man die anderen hören konnte. Auch am Heiligen Abend. Was dann passierte, so oder so ähnlich, erzählt Francious Makelberg, der hier lebt und sich intensiv mit den Ereignissen von damals beschäftigt hat.
"Ein Deutscher Soldat fing an zu rufen, Kameraden, Kameraden nicht schießen, nicht schießen, und die Deutschen sangen "Stille Nacht" oder "O Tannenbaum" und die Engländer antworteten, indem sie ihre Nationalhymne sangen. Und ein Deutscher sang dann auch die englische Nationalhymne. Das war genau hier."
Zehntausende Mini-Weihnachtsbäume an die Front
Jeder Britische Soldat hatte ein Päckchen mit Schokolade und Gebäck bekommen. Die Deutsche Heeresleitung hatte zehntausende Mini Weihnachtsbäume an die Front schicken lassen. Diese Bäumchen, am Heiligabend aufgestellt am Rand der Schützengräben, lösten, so liest man in den Geschichten von Soldaten, weihnachtliche Gefühle auf beiden Seiten aus. An vielen Stellen der Front, nicht nur hier, geschah das Weihnachtswunder, wie es später genannt wurde. Soldaten wagten sich von beiden Seiten aus ihren Schützengräben. Soldaten, die eben noch aufeinander geschossen hatten, tauschten kleine Geschenke, manche tauschten ihre Adressen und verabredeten sich für die Zeit nach dem Krieg. An manchen Stellen spielte man gegeneinander Fußball, erzählt Francious Makelberg.
"Es gab ein Match etwa einen Kilometer von hier, ein Fußballmatch mit zwei Offizieren. Semisch auf Deutscher und Bairnsfather, Bruce Bairnsfather auf englischer Seite. Man berichtete, dass ein englischer Soldat mit einem guten Fußball aus den Schützengraben gekommen sei. Sicher ein Weihnachtsgeschenk der Familie. Damit kam er aus dem Schützengraben und das Spiel begann."
Denkmal mitten auf dem Feld
Bruce Bairnsfather, der englische Offizier, der hier im Niemandsland mit den deutschen Fußball gespielt hatte, wurde später in England ein bekannter Karikaturist. Immer wieder erzählte er auch noch nach Jahrzehnten über den Weihnachtsfrieden, den er hier erlebt hatte. Heute erinnert ein kleines Denkmal mit etlichen kleinen und größeren Bällen, mitten auf dem Feld an dieses denkwürdige Fußballspiel. In Deutschland und England berichteten schon damals auch die Zeitungen über die Verbrüderung an der Front. In Frankreich aber blieben diese Ereignisse über viele Jahrzehnte ein streng gehütetes Tabu, erzählt mir Christian Carion.
"In England wurden Bilder veröffentlich, die von Soldaten gemacht worden waren. In Deutschland genauso. In Frankreich gab es darüber nichts, keine einzige Zeile."
Christian Carion ist Filmemacher. Er ist selber hier in der Gegend mit all den Friedhöfen und Kriegerdenkmälern aufgewachsen. Von der Verbrüderung in den Weihnachtstagen 1914 aber, hörte er als Franzose erstmals vor etwa zwanzig Jahren.
"Ich hab immer Bücher über den Ersten Weltkrieg gelesen und Anfang der 90er-Jahre entdeckte ich diese Verbrüderung. Es war nur ein kurzer Absatz in einem Buch, was mich total stutzig machte. Ich hatte niemals auch nur irgendwas darüber gehört. Ich rief den Autor, einen Historiker an und wollte, dass er mir Beweise dafür zeigt. Ich fuhr nach London zum British War Museum und las viele Augenzeugenberichte von Soldaten, die es erlebt hatten. Da wusste ich, das ist eine große Sache."
Nach jahrelangen Recherchen kam 2005 sein deutsch-französischer Spielfilm "Merry Christmas" mit Schauspielern wie Benno Führmann, Diane Kruger und Daniel Brühl über die Ereignisse an den Schützengräben in den Weihnachtstagen in die Kinos. In Frankreich wurde der Film zum Kassenschlager und das Tabu war jetzt auch hier gebrochen, freut sich Christian Carion.
"Man kann heute nicht mehr behaupten, es wäre nicht passiert. Die Emotionen des Films haben uns sehr geholfen. Daher glaube ich an die Kraft des Kinos."
Landschaft übersäht von Soldatenfriedhöfen
Um mehr über den ersten Weltkrieg zu erfahren, der hier in Frankreich "Grande Guerre"der große Krieg genannt wird, fahre ich nach Arras, die Stadt, die wie keine andere in Frankreich damals von den Kämpfen gezeichnet wurde. Vorbei geht es über Landstraßen durch kleine Dörfer. Eine Landschaft noch heute übersäht von Soldatenfriedhöfen. Dann stehe ich vor einem alten Haus in der Innenstadt von Arras. Nur ein kleines rundes Schild deuten an, dass man hier übernachten kann.
"Hallo Dieter, welcome to the La Corne d´Or nice to see you, bon jour Dieter. So here you are and we show you the rest of the house if you like."
Philippe Payet und Rodney Muir, die beiden Besitzer des Bed and Breakfast "La Corne d´Or" begrüßen mich gleich an der Tür. Der Australier Rodney Muir war schon seit seiner Jugend fasziniert von Frankreich, erzählt er mir schmunzelnd.
"Ich war schon immer fasziniert von Frankreich. Für mich schien es immer wie der Inbegriff von Kultur, Schönheit und Eleganz."
Australiens Blutzoll
Vor über dreißig Jahren kam er aus Australien nach Frankreich, lebte viele Jahre in Paris. Als die australische Botschaft jemanden suchte, der sich um die Vorbereitungen rund um den hundertsten Jahrestag des ersten Weltkrieges kümmert, meldete er sich, bekam die Stelle und kam daher immer wieder hier in die Gegend nach Nordfrankreich. Australien habe, was meistens vergessen werde, meint Rodney Muir, als Land mit damals mal gerade viereinhalb Millionen Einwohnern 330.000 Soldaten in den Krieg geschickt. Kein Land, weder Deutschland, noch Frankreich zahlte proportional zu seiner Bevölkerung einen so hohen Blutzoll, wie Australien.
"Von den 330.000 wurden mindestens 60.000 getötet und viele mehr verwundet. Jede Familie war betroffen durch den Verlust oder dadurch, dass Angehörige schwer verletzt zurückkehrten. Mein Großvater zum Beispiel kämpfte an der Somme und wurde mehrfach durch Gasangriffe verletzt, nach England in Hospitäler gebracht, um dann wieder hier auf die Schlachtfelder zu kommen. Bald, nachdem er nach Australien zurückkam, starb er, weil seine Lunge durch die Gasangriffe so geschädigt war."
Glasfenster aus dem 18. Jahrhundert
Irgendwie ist der Krieg also auch hier präsent. Dabei kam Rodney - wir sind schon nach ein paar Minuten beim Du - ja nicht wegen des Krieges, sondern wegen der Schönheit und der Kultur nach Frankreich. Und das merkt man hier im Haus an jeder Stelle, als er mich durchs Haus führt.
"Wenn wir jetzt hier die Treppe heraufkommen sieht man die alten Glasfenster. Die sind noch aus dem 18. Jahrhundert. Die meisten sind noch Originale. Das ist es, was dieses Haus so besonders macht, Dieter. Fast alles hier sind Originale. Bevor ich Dir Dein Zimmer zeige, gehen wir mal hier in ein anderes Zimmer. Ist noch nicht fertig. Edit unsere "femme de menage" kommt gleich. Aber man sieht da hat sich nicht viel geändert seit dem 18. Jahrhundert. Das Holz, der Boden, die Wandverkleidung, alles aus dem 18. Jahrhundert."
Auch der Name des Hauses geht zurück zu dieser Zeit, als es von einem Händler erbaut wurde, der sein Geschäft nur ein paar Schritte weiter am Grande Place hatte. "Er baute das Haus hier, weil er abseits vom Geschäft sein wollte, aber gab ihm den gleichen Namen "La Corne d´Or", also das goldene Korn, denn er war Getreidehändler. Später wurde es an einen Grafen verkauft. Er war Berater von Louis dem sechzehnten vor der französischen Revolution. Er nutze das Haus für Entertainment, aber auch als Büro."
Der Krieg hat die meisten Gebäude zerstört
Genaueres über die Nutzung des Hauses weiß man heute nicht mehr. Mit dem im Krieg zerstörten Stadtarchiv, sind solche Erinnerungen für immer verloren. Aber zumindest steht hier das Haus noch und kann mit den Zimmern und seinen Möbeln noch Geschichten erzählen. Es ist eines der ganz ganz wenigen Häuser der Innenstadt, das damals nicht zerstört wurde.
Nur ein paar hundert Meter weiter treffe ich Pascal Losfeld vom Tourismusbüro Arras am Grande Place, dem großen Marktplatz. Über einen Seiteneingang geht es in das spätgotische, im 13. Jahrhundert gebaute Rathaus mit seinem beeindruckenden Glockenturm. Während man die Glocken im Hintergrund hören kann, erklärt Pascal die Geschichte der eigentlich so ehrwürdig alt aussehenden Bauwerke.
"Dieser Turm wurde im großen Krieg schon ganz früh 1914 zerstört. Weil es natürlich ein Aussichtsturm war. Nach dem Krieg wurden all diese historischen Bauwerke wieder völlig identisch aufgebaut, der Turm, das Rathaus, alles."
"Alles hat mit dem Krieg zu tun"
Wir kommen ins Rathaus. Die riesige Eingangshalle mit beeindruckenden Kreuzgewölben vermittelt eher das Gefühl einer gotischen Kathedrale. "Jetzt nehmen wir den Fahrstuhl, der uns ganz nach oben auf den Turm bringt. Er ist fast 75 Meter hoch."
Während wir noch unten am Lift stehen, beginnen oben die Glocken zu schlagen. Dass wir hier in diesem Gebäude, das Jahrhunderte alt scheint, einen Fahrstuhl finden, hat natürlich wie alles hier mit dem Krieg zu tun, erklärt Pascal.
"Von außen hat man den Eindruck eines ganz alten Hauses aus Kalkstein, aber hier drinnen sieht man die neuen Materialien, Hier im inneren hat man beim Wiederaufbau überall Beton genutzt und natürlich einen Fahrstuhl eingebaut. Für uns ganz praktisch."
Dann bringt uns der Aufzug innerhalb weniger Sekunden bis fast ganz nach oben."Wir sind jetzt hier bei den Glocken, den drei Glocken des Turms angekommen."
Von hier aus geht es über Metalltreppen noch weitere hinauf und dann hinaus ins Freie. Heute ist es diesig und bewölkt. Normalerweise aber, meint Pascal, habe man von hier einen fantastischen Blick weit ins Land: "Von hier aus sieht man Notre Dame de Lorette und hier von dieser Seite auch Vimy Ridge."
Arras glich einem Trümmerfeld
Notre Dame de Lorette ist der größte französische Soldatenfriedhof mit über 40.000 begrabenen Franzosen. Vimy Ridge erinnert an eine andere der vielen Schlachten, die hier rund um Arras geschlagen wurden. Auch heute bei schlechtem Wetter erkennt man zwei schlanke weiße Marmortürme am Horizont, etwa 15 Kilometer von hier. Sie erinnern an die Osteroffensive 1917, als kanadische Truppen die Front hier in wenigen Tagen um über zehn Kilometer zurückdrängen konnten. Über 6.000 Kanadier bezahlten dafür mit ihrem Leben.
Vom Herbst 1914 bis zu dieser Offensive im Frühjahr 1917 lagen die deutschen Schützengräben nur etwa zwei Kilometer außerhalb von Arras. Von drei Seiten aus lag die Stadt in der Reichweite deutscher Artillerie. Die Stadt, gehalten von englischen Truppen, glich am Ende einem totalen Trümmerfeld. Die historische Innenstadt war komplett zerstört. Umso erstaunlicher ist der Blick, den wir jetzt hier von weit oben auf das mittelalterlich anmutende Stadtzentrum gleich unter uns haben.
"Von hier aus sieht man die zwei Marktplätze. Der kleine und ein großer Marktplatz, die schon im zwölften Jahrhundert entstanden. Warum zwei Plätze? Der kleine war für täglichen Bedarf und der große Platz, der wurde im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert von Händlern für Wandteppiche und dann später im 18. und 19. Jahrhundert besonders von Getreidehändlern genutzt."
Das älteste Haus der Stadt stammt von 1467
Jetzt in der Weihnachtszeit lädt auf dem Grande Place, dem größere der beiden Marktplätze ein wunderbarer Weihnachtsmarkt zum Schlendern ein. Seit über zehn Jahren zieht der Markt im Dezember hunderttausende Besucher an. Der Platz, etwa so groß wie ein Fußballfeld ist umrahmt von alten Häusern, alle im gleichen Stil, erklärt mir Pascal, nachdem wir den Turm wieder verlassen haben.
"Es gibt hier ganz viele Hausfassaden, über hundert Hausfassaden alle im gleichen Stil. Sie wurden im, 17. Jahrhundert im sogenannten Flämischen Barock Stil erbaut. Die Eigentümer waren dazu verpflichtet alle im gleichen Stil zu bauen. Es gab ein Modell und danach mussten sich alle richten. Mit einer Ausnahme, dort an der Ecke siehst Du ein Backsteinhaus. Das ist das älteste Haus von Arras."
Dieses, das älteste Haus der Stadt, stammt von 1467 und überstand den Krieg wie durch ein Wunder fast unzerstört. Von all den anderen Gebäude hier im Zentrum aber blieben nur Ruinen.
Glücklicherweise hatte ein Fotograf die Innenstadt in den Jahren vor dem Krieg in allen Details festgehalten. Mit Hilfe dieser Fotos konnte zumindest die Innenstadt wieder rekonstruiert werden. So bilden diese alten flämischen Fassaden heute eine wunderbare anmutige Kulisse für diesen Weihnachtsmarkt.
"Nie ein böses Wort gegen die Deutschen gehört"
Vom Marktplatz ist es nur ein Katzensprung bis zum "La Corne d´Or". Dort treffe ich Marie Genevieve. Sie ist Mitte siebzig und erinnert sich noch genau, wie ihr Vater über den Krieg, den großen Krieg, gesprochen hatte.
"Mein Vater war Soldat in Verdun und er hatte das Glück zu leben. Ich hab nie ein böses Wort gegen die Deutschen gehört, sondern nur, nur gegen den Krieg, weil der Krieg etwas Schreckliches ist für alle Menschen."
Der Grund warum sie mir ihre Geschichte auf Deutsch erzählt ist ganz einfach. Sie war hier am Gymnasium Deutschlehrerin. Ganze Generationen von Schülern lernten von ihr die Sprache der früheren Feinde. Deutschland, die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, das sei doch wunderbar meint sie und strahlt mich an. Und ihre Liebe zu Deutschland auch das hat natürlich, wie so vieles hier mit Weihnachten zu tun.
"Weil ich eine sehr nette Deutschlehrerin hatte, weil sie uns in der Adventszeit Weihnachtsgebäck gebracht hatte und eine Pyramidenkrippe gebracht hatte und sie hatte erzählt, wie die Kinder in Deutschland am Weihnachtsmorgen neben ihrem Bett einen Teller mit Weihnachtsgebäck von der Mutter in der Adventszeit gebacken fanden und das alles hat mich sehr gerührt."
Mit Marie Genevieve gehe ich dann von hier aus noch mal zum Grande Place, wo wir dann unter dem Balkon des Rathauses stehen.
"Am Sankt Nikolaus Tag so gegen 5:00 Uhr wird der St. Nikolaus von dem Balkon hier herunter gelassen und dann wird er den Kindern Bonbons werfen und zuerst wird die Legende von St. Nikolaus erzählt."
Warm ums Herz
Ein altes Kinderkarussell dreht seine Runden mit Weihnachtsklängen. Auf dem kleineren der beiden Marktplätze ist ein Holzhaus aufgebaut. Es ist das Haus des Weihnachtsmanns. Eine Schlange mit kleineren Kindern und ihren Eltern stehen davor und warten bis sie einzeln hinein gelassen werden, um dem Weihnachtsmann ihre Wunschzettel zu übergeben. Auf dem großen Platz gibt es handgemachte Geschenke, weihnachtliches Gebäck und, so findet Marie Genevieve, eine Atmosphäre wie in einem Weihnachtswunderland.
"Es freut mich sehr, dass zum ersten Mal hier auf unserem Weihnachtsmarkt eine riesige Pyramidenkrippe steht und es ist sehr schön gemacht. Die Flügel die bewegen sich mit dem Wind, so kann man die heilige Familie sehen und dann die drei Könige und dann die Schäfer, das ist wirklich sehr sehr schön gemacht. Es gibt eine besondere Weihnachtsatmosphäre zum Weihnachtsmarkt."
Auch mir wird hier ganz warm ums Herz. Auf diesem Platz, der vor hundert Jahren vom Krieg völlig zerstört wurde und wo ganz in der Nähe Soldaten aller Länder am Weihnachtsabend, statt auf ihre Gegner zu schießen sich mit ihnen verbrüderten.