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Erster Weltkrieg
"Die letzten Tage der Menschheit" als Graphic Novel

Karl Kraus zeichnet in "Die letzten Tage der Menschheit" (1922) ein episches Bild von der Geistesverfassung Österreichs im Ersten Weltkrieg. Reinhard Pietsch und David Boller übertragen das Lesedrama, das sich auf der Bühne so schwer tut, in das Medium Graphic Novel - was überraschend gut funktioniert.

Von Manfred Schneider |
    Bisweilen sollten Historiker außer Akten und Archivalien auch Literatur lesen. So hat der Historiker Christopher Clark, Autor des viel beachteten Werks über den Ersten Weltkrieg "Die Schlafwandler" behauptet, dass das Attentat in Sarajewo "ein traumatisches Ereignis für die damalige österreichische Staatsführung" gewesen sei.
    Doch Karl Kraus' gewaltiges Dokumentardrama zum Ersten Weltkrieg, "Die letzten Tage der Menschheit", zeigt etwas anderes. Den historischen Tatsachen entsprechend, tritt in diesem Stück der Obersthofmeister Montenuovo auf und sorgt dafür, dass die Leichen des ermordeten Erzherzogs und seiner Gemahlin in der kleinen Kapelle der Hofburgpfarrkirche nur kurz aufgebahrt und ganz ohne militärisches Geleit zur Beisetzung abtransportiert wurden. Der damalige Kaiser Franz-Joseph nahm nicht an der Trauerfeier teil. Die Zeitung "Wiener Reichspost" beklagte daher den "pietätlosen Bürokratismus" der Leichenfeier. Alle gekrönten Häupter Europas sagten ihre Teilnahme ab, der deutsche Kaiser entschuldigte sich wegen eines "Hexenschusses". Der große Krieg entsprang in Wien keinem politischen Trauma, sondern kühler Berechnung.
    Wer sich heute ein Bild von der Geistesverfassung Österreichs zu Beginn und während des Ersten Weltkrieges machen möchte, muss nicht mehr unbedingt alle 800 Seiten dieses Dramas von Karl Kraus lesen. Er hat jetzt Gelegenheit, ein anderes Medium zu befragen. Den Schauder über die ungeheuerlichen Ereignisse, die "Die letzten Tage der Menschheit" in epischer Breite vorführen, kann man sich jetzt auch aus einer Graphic Novel holen. Der Bearbeiter Reinhard Pietsch und der Zeichner David Boller haben dafür Großartiges geleistet. Das 1922 veröffentlichte 800-Seiten-Drama haben sie auf ein Viertel gekürzt, dafür aber lassen sie die Figuren durch mehrere Hundert hervorragend gezeichnete Panels laufen. Zwar ersetzt die Graphic Novel nicht die Lektüre des Werkes, aber sie ergänzt die Operette der Gedankenlosigkeit, die Worttragödie von Karl Kraus, durch einen Bilderbogen, der die "unwahrscheinlichsten Taten", wie es der Dichter selbst ausdrückte, vor die Leseraugen bringt.
    Wie aber vermittelt ausgerechnet eine Graphic Novel dieses Geschichtsdrama des Geschwätzes und der leeren Worte? So versucht der Zeichner nicht, die Sprachsatire durch eine Entstellung der sprechenden Figuren im Comic-Stil zu überbieten. Prominente Akteure wie Kaiser Franz-Josef oder Kaiser Wilhelm II. werden keineswegs karikiert, sondern in gemäßigter Ähnlichkeit dargestellt. Es wetteifern also keine bizarren Bilder mit den literarischen Sprachgrimassen, sondern die Allerweltsgesichter der Akteure verstärken durch ihr normales Äußeres die Effekte der Sprachsatire. Damit zeigt sich die grafische Übersetzung in gewisser Hinsicht dem Theater überlegen, weil der Schauspieler auf der Bühne dazu neigt, das seelenlose und falsche Sprechen auch mimisch darzustellen.
    Das falsche Sprechen von Politikern und Journalisten
    Karl Kraus bringt das Entsetzliche der Kriegstragödie als komisches Scheitern des Sprechens, als groteske Fehlleistung der Worte zu Gehör. Allen voran trifft dabei die Presseleute die Kritik des Autors. Ihnen hält er in einer fundamentalen Medienkritik vor, dass sie durch die Literarisierung der Wirklichkeit die Vorstellungskraft der Leser ausgehöhlt hätten. Daher schrieb Kraus seinen Figuren diese zeitgenössischen Feuilletontexte in die Rolle. Die vielen Stilblüten und Sprachschnitzer, die ihnen über die Lippen gehen, entspringen also nicht der satirischen Erfindung des Dichters, sondern kommen aus Zeitungen und anderen Verlautbarungen der Zeit. Der Erste Weltkrieg war für Karl Kraus eine Katastrophe, die durch das falsche Sprechen von Politikern und Journalisten ausgelöst wurde. So legte Kraus zwei Passanten anlässlich des Kriegsausbruchs folgende Leitartikelworte in den Mund:
    "Kriege sind Prozesse der Läuterung und Reinigung, sind Saatfelder der Tugend und Erwecker der Helden. [...] Kriege sind ein Segen nicht nur um der Ideale willen, die sie verfechten, sondern auch um der Läuterung willen, die sie dem Volke bringen, das sie im Namen der höchsten Güter führt. Friedenszeiten sind gefährliche Zeiten. Sie bringen allzuleicht Erschlaffung und Veräußerlichung."
    Das war wortgetreu aus der "Wiener Reichspost" zitiert und ist nur ein Beispiel von vielen Hundert leeren Redensarten, die gegenüber dem Grauen des Krieges einen lächerlichen Kontrast bilden.
    "Die letzten Tage der Menschheit" sind also eine auf Bühnenfiguren verteilte Montage von Zitaten. Mehrere Hundert Gestalten treten auf, einige kehren wie im Reigen immer wieder zurück, und kommentieren das Kriegsgeschehen, das weitgehend im Hintergrund bleibt. Offiziere, Bürger, Prostituierte, Kaffeehausbesucher, Studenten, Schieber, Kriegsversehrte, Bettler, alle liefern in Wort und Tat aus Zeitungen angeführte Beiträge zum fernen Grauen des Krieges.
    Die Schauspieler Peter Matic, Alexandra Henkel und Elisabeth Orth bei Proben zu Georg Schmiedleitners Salzburger Inszenierung von "Die letzten Tage der Menschheit".
    Die Schauspieler Peter Matic, Alexandra Henkel und Elisabeth Orth bei Proben zu Georg Schmiedleitners Salzburger Inszenierung von "Die letzten Tage der Menschheit". (picture alliance / dpa / Barbara Gindl)
    Nicht für die Bühne gemacht?
    Aus diesem Grunde scheitert das Theater daran, dieses Musical seelenloser Stimmen aufzuführen. Kaum eine der Inszenierungen auf der Bühne in der Vergangenheit konnte dem Stück genügen, das Karl Kraus einem "Marstheater" zugedacht hatte. Vor wenigen Wochen erst erhielt eine erneute Aufführung bei den Salzburger Festspielen vernichtende Kritiken. Allenfalls werden die auf Tonträgern festgehaltenen szenischen Lesungen von Karl Kraus selbst oder von Helmut Qualtinger dem Stück gerecht. Ganz offensichtlich ist Kraus' Montage aus Zeitungssätzen ein Lesedrama. Wie aber vermag eine Comicversion dieser Form gerecht zu werden?
    Zu den Figuren, die im Reigen der Gestalten immer wiederkehren, zählen der Optimist und der Nörgler. Während der Optimist im Tenor der Presse den Krieg stets im rosigen Licht sieht, spricht der Nörgler als alter Ego des Autors Klartexte:
    "DER OPTIMIST: Sie können nicht leugnen, dass der Krieg einen seelischen Aufschwung mit sich gebracht hat.
    DER NÖRGLER: Er nimmt den Guten den Glauben, wenn er ihnen nicht das Leben nimmt, und er macht die Schlechten schlechter.
    DER OPTIMIST: Sie unterschätzen die sittlichen Kräfte, die der Krieg in Bewegung setzt.
    DER NÖRGLER: Das sei fern von mir. Viele, die jetzt sterben müssen, dürfen zwar auch morden, sind aber jedenfalls der Möglichkeit zu wuchern enthoben.
    DER OPTIMIST: Aber die Idee, für die gekämpft wird, bedeutet doch eben dadurch, [...] dass man wieder für sie sterben kann, die Möglichkeit einer Gesundung.
    DER NÖRGLER: Man kann sogar für die Idee sterben und wird trotzdem nicht gesund."
    Tatsächlich scheint ein solcher aus Gemeinplätzen und pointierten Antworten gebauter Dialog die Formansprüche einer Graphic Novel zu verfehlen, die unbedingt Bewegung und dramatische Akzente benötigt. Aber verteilt über eine Serie von Panels treten die Figuren dann doch aus dem rein Literarischen heraus. Ihre Worte, Gesichter und Gesten entwickeln durch den ständigen Wechsel der Einstellung, der Perspektive und Konfiguration in den Zeichnungen eine lebhafte Spannung. Allerdings bleibt auch nach dieser geglückten Einbettung in Bilder Karl Kraus' Worttragödie des Ersten Weltkriegs ein Lesedrama.
    Wenn der historisch Interessierte doch nicht nach dieser eindrucksvollen dokumentarischen Graphic Novel der "Letzten Tage der Menschheit" greifen will, so sei sie unbedingt den alten und neuen Liebhabern des großen Dichters Karl Kraus empfohlen.
    Reinhard Pietsch und David Boller: "Die letzten Tage der Menschheit"
    Herbert Utz Verlag, 200 Seiten, 20 Euro