"Als ich das erste Mal, in den Neunzigern, durch den kleinen Ort Sourbrodt am Rande des Hohen Venns fuhr, passierte ich den Bahnübergang in der Mitte des Dorfes und sah einen großen Verschiebebahnhof in der Einöde des Venns. Der gehörte zur Vennbahn sagte man mir und ich fuhr weiter, und als ich das erste Mal an Hallschlag im oberen Tal der Kyll vorbeikam, sah ich auf einmal den hohen Bahndamm einer zweigleisigen Eisenbahnstrecke, die das kleine Eifeldorf in einem großen Bogen umfasste. Bei Ahrweiler entdeckte ich dann die Pfeiler einer unvollendeten Eisenbahnbrücke. Als man mir sagte, dass ich von Weilerswist aus über eine ehemalige strategische Bahnstrecke gefahren sei, die heute noch unter der A 61 liege, beschloss ich, der Sache nachzugehen."
Was wie verlassene industrielle Artefakte einer längst vergangenen Zeit aussah, ließ Achim Konejung, Autor des Buches "Das Rheinland und der Erste Weltkrieg", keine Ruhe. Auffallend war die Dichte ihrer Verteilung auf einem Gebiet, das sie gar nicht benötigte. Konejung besorgte sich alte topografische Karten und folgte den schwarz-weiß gestrichelten Linien, die für die Eisenbahnlinien standen, mit dem Finger.
"Und immer, solange ich ihnen folgte, führten sie nach Westen, zur Grenze. Und immer führten sie durch das Nichts der Eifel, in der es keine Industrie oder größere Stadt gab. Und immer waren sie stillgelegt und machten scheinbar keinen Sinn. Wenn sie keine Industrie bedient hatten, wozu die aufwändigen Streckenführungen? Ich sah Tunnels, Überführungen, Brücken und weite Bögen, die nicht wirkten, als habe man sie gebaut, um drei Milchkannen und ein paar Bauern zum nächsten Markt zu bringen. Das hier, das waren Militäreisenbahnen. Für den massenhaften Transport von Menschen und Material, für Munitionstransporte und schwere Geschütze."
Archäologischer Wissensdrang
Bei seinen Recherchen findet Konejung im Internet einen Ende 1914 erschienenen Band der "New York Times" mit dem Titel "The Current History – The European War", ein Debattenband mit Stellungnahmen von George Bernard Shaw, H. G. Wells, Rudyard Kipling, Gerhart Hauptmann und Arthur Conan Doyle sowie einem Beitrag des Journalisten Walter Littlefield mit dem Titel "Germany's Strategic Railways". Sein Artikel erinnert an den wenige Wochen zuvor erfolgten deutschen Einmarsch in das neutrale Belgien und beschreibt minutiös den Bau der strategischen Eisenbahnen in der Eifel, mit allen dem Autor so geläufigen, Ortsangaben.
"Littlefield beschrieb jede einzelne Bahnüberführung, jede neu gebaute Strecke und präsentierte eine Karte und er hielt auch nicht damit hinter dem Berg, woher er die Informationen zu seinem Artikel hatte, nämlich vom britischen Geheimdienst. Englische Agenten waren, als Touristen getarnt, während der Bauarbeiten durch die Eifel gewandert und hatten alles dokumentiert."
Sein archäologischer Wissensdrang führt Konejung an die Stätten des Geschehens. Er geht die Strecken ab, findet die Reste von Ausladebahnhöfen, Rampen oder ganze Bahnhöfe im Nichts, oft versteckt im dichten Wald der Eifel wie beim Losheimer Graben. Er prüft die Steigungen, die Belastbarkeit der Strecken und findet heraus, dass hier größte Militärtransporte in kurzer Zeit aus der Mitte des Reiches an die Westgrenze geführt werden konnten. Und er fotografiert.
Die Fotografien der industriellen Relikte des Krieges wechseln sich im Buch ab mit den historischen Schwarz-Weiß-Fotografien, die der Autor über Jahre mit der gleichen Passion gesammelt hat, wie er jetzt die Bahnstrecken des Krieges abgeht.
Den Bildkommentaren ist zu entnehmen, dass die Arbeitskräfte vor Ort nicht ausreichten um den gigantischen Ausbau zu betreiben, dass man seit 1909 ca. 200 000 Wanderarbeiter aus Italien und Kroatien beschäftigte, um die militärstrategische Basis, die Eisenbahn, für den "Aufmarschplan West", wie es seit 1905 im berüchtigten Schlieffen-Plan hieß, zu schaffen. Und nicht nur die Eifel, das Armenhaus des Westens, wird aufgerüstet.
Modernisierungsschübe als Nebenprodukt der Kriegstechnik
Der Band zeigt, dass überall im Rheinland von Koblenz über Bonn und Köln bis Wesel neue Kasernen, Truppenübungsplätze oder neue Rheinbrücken entstehen, um am Tag M, der Mobilmachung, bereit zu sein und den erwarteten Zweifrontenkrieg erfolgreich zu führen. Der Schlieffenplan ging von einem Zweifronten gegen Russland und Frankreich aus. Dabei sollte zunächst Frankreich besiegt und anschließend die Truppen möglichst rasch von der Westfront an die Ostfront verlegt werden. Schlieffens Nachfolger Helmuth von Moltke änderte den Plan ab, weil er die Neutralität der Niederlande unverletzt lassen wollte. Allein ein schmaler Korridor durch Belgien sollte dazu dienen, die französische Armee von Norden her in die Zange zu nehmen und damit den raschen sogenannten "Siegfrieden" über Frankreich zu sichern.
"Ab 1909 begann dann eine beispiellose Bautätigkeit in der Eifel. Das größte Bauvorhaben war die Vennquerbahn: Ab Stadtkyll war sie im Schnitt alle drei Kilometer mit mindestens viergleisigen Bahnhöfen in Kriegslänge ausgerüstet. Im Übrigen wurden alle Bahnhöfe im westlichen Rheinland auf Kriegslänge, das heißt 680 Meter ausgebaut, mit Ausladerampen und weiteren Bahnsteigen und besserer Verkehrswegeanbindung. Und bis zur Grenze wurden unter großer Geheimhaltung Blindgleise gelegt, um dort im Angriffsfall in kürzester Zeit an das belgische Netz anschließen zu können. Fünf Jahre später, 1913, kurz vor Kriegsbeginn war alles fertiggestellt."
Die Fotografien des Bandes belegen überdeutlich, was der französische Theoretiker Paul Virilio einst betonte: Modernisierungsschübe als Nebenprodukt der Kriegstechnik: Der massenhafte Ausbau der Bahntrassen, der Einsatz von Automobilen, die zum ersten Mal in einem Krieg relevant werden, die Verwendung der Telegrafie oder der habituelle Gebrauch der Kamera, der wir die zahlreichen privaten Fotos in diesem Band verdanken, verweisen auf den technologischen Fortschritt, den der Krieg forcierte.
Dieses Faktum kann jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die militärische Gigantomanie ein zutiefst fehlgeleiteter Umgang mit menschlichen und materiellen Ressourcen einleitete: die erste monströse Zerstörung von Menschen, Landschaften und Städten im 20. Jahrhundert.
Auch hatten die Militärs nicht damit gerechnet, dass es durch den Kriegseintritt Englands, das die belgische Neutralität verletzt sah, zu jahrelangen zermürbenden Stellungskriegen kommen würde. Spätestens die verlorene Schlacht an der Marne machte klar, dass es an wichtigen Vorkehrungen mangelte: An der sogenannten Heimatfront gab es nicht genug Lazarette. Das Buch zeigt Lazarette in Schulen und Behörden des Rheinlandes sowie Lazarettzüge, die von reichen Bürgern für die Söhne ihrer Stadt privat finanziert wurden. Der Staat hatte auch keine Vorräte angelegt, was sich drastisch im Hungerwinter 1915/16 zeigte.
Bilder von Schlachtfeldenr oder aus den Gräben zeigt der Band kaum, dafür aber Dutzende von arrangierten Gruppenfotos junger Soldaten, die versuchen, etwas Normalität in den Ausnahmezustand hinüber zu retten, mit munteren Losungen, Alkohol und Tabak. Frauen kommen als Krankenschwestern, Arbeiterinnen in den Munitionsfabriken, Ehrendamen oder Trauernde vor. Besonders berührend ist das Foto dreier Schwestern, die sich mit dem Porträt des gefallenen Bruders ablichten lassen.
Verflechtung eines einzelnen Landstrichs mit der Weltgeschichte
Über den vielen jungen Gesichtern der Soldaten schwebt für den nachgeborenen Betrachter der drohende Tod, denn für Frontsoldaten lagen die Überlebenschancen höchstens bei zwei Wochen. Und wenn sie überlebten, waren die meisten lebenslänglich körperlich und seelisch versehrt. Die Folgen bekamen dann die Generationen der Söhne und Enkel noch zu spüren.
So nennt auch Achim Konejung als Motiv für seine akribische Recherchearbeit den Wunsch, mehr über die historischen Zusammenhänge zu erfahren, die seinen Großvater zum Ordensträger und Kriegsversehrten machten.
"Karl Konejung, mein Großvater, stammte aus Krefeld und wurde im Ersten Weltkreig bei der 12. Isonzoschlacht schwer verwundet. Er verlor sein rechtes Auge und sein rechtes Gehör und litt zeitlebens unter dem Trauma seiner Verwundung. Er trug seitdem rechts ein Glasauge. Dieses Glasauge war mir als kleiner Junge unheimlich. Man speiste mich immer mit der Auskunft ab, das käme vom Krieg. Und ich wollte immer wissen, was da passiert war."
So persönlich die Arbeit daran motiviert war, so gelungen ist gleichzeitig das über einzelne Schicksale Hinausweisende dieses Bildbandes. Achim Konejungs Buch liefert ein Stück Heimatgeschichte, das die Verflechtung eines einzelnen Landstrichs mit der Weltgeschichte exemplarisch bezeugt und die Erinnerung als Mahnung wachhält.
Achim Konejung: Das Rheinland und der Erste Weltkrieg. Aufmarschgebiet - Heimatfront - Besatzungszone
Regionalia Verlag Rheinbach, 19, 95 Euro
ISBN 978-3-939722-90-8
Regionalia Verlag Rheinbach, 19, 95 Euro
ISBN 978-3-939722-90-8