Zapfenstreich in der Innenstadt von Sydney. Es ist vier Uhr morgens, noch stockdunkel und bitterkalt. Es nieselt. Trotzdem drängen sich ein paar tausend Menschen am Martin Place um das Denkmal des unbekannten Soldaten. So wie jeden ANZAC-Day. Immer am 25. April wird der Landung australischer Truppen in Gallipoli gedacht, einer zerklüfteten, türkischen Halbinsel, von der fast 9.000 Australier nicht wieder zurückkehren sollten.
In Frankreich, an der Westfront, fielen dreimal so viele australische Soldaten wie in der Türkei - allein bei Fromelles starben 5000 Mann an nur einem einzigen Tag. Es waren die schwärzesten 24 Stunden in der Geschichte Australiens. "Trotzdem ist Fromelles nur ein Ortsname", sagt die Militärhistorikerin Joan Beaumont. Gallipoli aber sei Folklore.
"Wir erinnern uns an Gallipoli, weil es die erste große Militärkampagne im Ersten Weltkrieg war, an der Australien beteiligt war. Nicht als Kolonie, sondern als eigenständiger Staatenbund. Diese erste Schlacht beschäftigt uns bis heute, denn Gallipoli gilt als Australiens Feuertaufe."
Militärisch war Gallipoli ein Desaster. Das britische Oberkommando ließ die Australier am falschen Uferabschnitt landen, die Verluste waren hoch. "Der folgende, erbitterte Grabenkrieg forderte noch mehr Opfer", erklärt Ashley Ekins vom australischen Militärmuseum in Canberra. Trotzdem wurde Gallipoli über die Jahre zu Australiens D-Day.
"Gallipoli steht für Mut, Opferbereitschaft und Durchhalten. Unsere Soldaten sind dort nicht nur im Kugelhagel an einem Strand gelandet - sie kämpften acht lange Monate: Unterernährt, geplagt von Krankheiten und ständig unter Beschuss. Das ist die wahre Geschichte von Gallipoli."
Zäh, stoisch, unbeirrt und couragiert, verschworen, furchtlos und Seite an Seite in horrenden Bedingungen: Der Zusammenhalt der Soldaten in Gallipoli gilt seither als Sinnbild des vermeintlichen, australischen Charakters. Politiker und der Veteranenverband machten aus einer vernichtenden Niederlage Australiens einen moralischen Triumph.
Zum Millionengeschäft geworden
Veteranen-Parade am arbeitsfreien ANZAC-Day: Frühere Soldaten, Kinder und Enkel, die mit Medaillen und Orden an der Brust anstelle ihrer gefallenen Väter und Großväter mitmarschieren: Gallipoli ist längst das Symbol für Australiens militärische Vergangenheit - und ein Millionengeschäft. Ganzjährige Kreuzfahrten in die Türkei, Touren über das Schlachtfeld, Denkmäler, Sport- und Gemeindeveranstaltungen. Gallipoli, kritisiert der australische Afghanistan-Veteran James Brown, sei zu einem militärischen Halloween verkommen.
"Es sagt viel über den Stellenwert der ANZAC-Tradition in Australien, dass wir für Feiern, die an 100 Jahre Erster Weltkrieg erinnern, doppelt so viel Geld ausgeben wie die Briten. Unsere konservative Regierung spart überall, aber um unsere Kriegstoten zu glorifizieren, werden keine Kosten gescheut."
Zum 100. Jahrestag nächstes Jahr hat die australische Regierung eigens einen Gallipoli-Minister berufen, 8.000 Australier werden in die Türkei pilgern. Zu Gedenkfeiern, die James Brown "ein Festival für die Toten" nennt. Die Überlebenden anderer Konflikte aber würden vergessen.
"Die Legende der Gallipoli-Soldaten wird immer wieder neu erzählt, aber Australiens jüngste Militäreinsätze in Ost-Timor, im Irak und in Afghanistan werden ignoriert. Der größte Skandal aber ist, dass wir jährlich dreimal so viel für Gedenkfeiern ausgeben wie für die medizinische Versorgung von Soldaten, die heute unter post-traumatischem Stress leiden."
Mut, Durchhaltevermögen, Opferbereitschaft und Kameradschaft - wenn heute Freiwillige in Australien Buschfeuer bekämpfen oder Flutopfern helfen, dann wird oft vom Geist der ANZACs gesprochen. Selbstlosigkeit aber gab es in Australien auch schon vor Gallipoli. Doch das erste Opfer im Krieg ist immer die Wahrheit.