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Erster Weltkrieg
Gegen gängige Klischees in Österreich und Italien

Von Gerwald Herter |
    100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs ist der Büchermarkt mit wissenschaftlichen und auch mit populären Abhandlungen, Erzählungen und Bildbänden geflutet worden. Klischees, überholte Auffassungen erweisen sich jedoch in Italien und Österreich, gerade im Zusammenhang mit dem Gebirgskrieg, als besonders stabil: Vom "italienischen Verrat" bis zum "Kampf Mann gegen Mann" in den eisigen Höhen an der Gebirgsfront.
    Es ist das erklärte Ziel des Südtiroler Historikers Oswald Überegger, dem mit seiner wissenschaftlichen Arbeit entgegenzuwirken. Zusammen mit seinem Innsbrucker Kollegen Hermann Kuprian hat er schon im vergangenen Jahr den Band "Katastrophenjahre" herausgegeben, eine zweite Auflage wird gerade vorbereitet. Hier finden sich eher knappe Angaben zur politischen Geschichte, dafür ganze Kapitel über Kinder und Jugendliche, Medizin und Gesundheit, Kirche, Propaganda oder auch Erlebnisse von Soldaten auf beiden Seiten der Front. Nur auf den ersten Blick ist das Tiroler Regionalgeschichte, tatsächlich ist es mehr.
    "Es ist eine Art Leistungsbilanz einer modernen universitären Weltkriegsgeschichtsschreibung, die in Österreich relativ jungen Datums ist."
    Diese österreichische "Verspätung" führt Oswald Überegger auf eine Arbeitsweise zurück, die er als "Offiziersgeschichtsschreibung" bezeichnet. Bis weit über 1945 hinaus sei ihre Vorherrschaft nicht gebrochen worden, so sein Urteil. Es genügt ein Blick in Publikationsreihen und Fachzeitschriften, um zu erfahren, dass Militär-Geschichtsschreibung in ihrer klassischen Form bis heute in Österreich gepflegt wird.
    Da geht es um Uniformknöpfe und Kragenspiegel, um "Mannstärken", Offensiven und Geländegewinne - wobei die im Hochgebirge eine Ausnahme blieben. Auch dort war der Erste Weltkrieg im Wesentlichen ein Stellungskrieg. Was wichtiger ist: Grundlegende Forschungen sind, so Überegger, wegen der unzureichenden Methodik lange tabu geblieben, so fehlen umfassende österreichische Untersuchungen zum Schicksal der Kriegsgefangenen.
    Der junge Innsbrucker Historiker Matthias Egger hält in seinem Beitrag für die "Katastrophenjahre" zwar fest, dass während des Ersten Weltkriegs bis zu 2,8 Millionen Soldaten und Offiziere der Habsburger-Monarchie in Gefangenschaft gerieten. Dass bislang unbekannt ist, wie viele davon aus Tirol stammten, ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Hinweis auf erstaunliche Forschungsdefizite.
    Tiroler Soldaten kämpften schon 1914 im Osten und Südosten gegen Russen und Serben. Und im Gegenzug trafen in Tirol schon bald serbische, vor allem aber russische Kriegsgefangene ein - einige zehntausend. Sie wurden beim Bau von Eisenbahnlinien, in Rüstungsfabriken, aber auch in der Landwirtschaft eingesetzt. Die Obrigkeit wollte persönliche Kontakte zwischen Einheimischen und Fremden verhindern. Tatsächlich weist schon die Vielzahl der Dekrete darauf hin, wie eng die Beziehungen zu Tiroler Familien und vor allem Tirolerinnen waren - gerade auf den Höfen. In Zeitungsartikeln wurden intime Beziehungen angeprangert, die Frauen dabei häufig bloßgestellt.
    Entgegen der Haager Landkriegsordnung wurden russische Kriegsgefangene auch unmittelbar an der Gebirgsfront eingesetzt. Sie schafften Waffen, Munition, Ausrüstung und Lebensmittel bis in Höhen von weit über 3.000 Metern. Egger schreibt, dass Russen Nachschub selbst bis zum Vorgipfel des Ortler, also auf 3.862 Meter, hinauf transportierten:
    "So gelangte das in der Literatur viel zitierte 'höchstgelegene Geschütz im Weltkrieg' mit Hilfe russischer Kriegsgefangener auf den Ortler. Weiter östlich, an der Dolomitenfront, waren russische und serbische Kriegsgefangene ebenfalls zur unmittelbaren Unterstützung der Kriegsanstrengungen eingesetzt (...). Ihnen machten dabei nicht nur das (...) alpine Terrain und Klima, sondern auch die harten Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen."
    An allen größeren Frontabschnitten der Alpen, so Herausgeber Überegger, kam modernste Rüstungstechnik zum Einsatz - wie Maschinengewehre und Artillerie. Flugzeuge wurden meist zu Aufklärungszwecken eingesetzt. Dass ganze Gebirgsmassive ausgehöhlt, andere gesprengt wurden, trifft zu, andere Überlieferungen halten der historischen Überprüfung aber nicht stand:
    "Man hat diesen Gebirgskrieg immer gedeutet als einen Krieg heldenhafter Kämpfer, indem ein Kriegsbild überwiegt, das es im Ersten Weltkrieg eigentlich schon gar nicht mehr gab, weil natürlich auch dieser Gebirgskrieg kein Krieg Mann gegen Mann war, kein Heldenkrieg, sondern in erster Linie ein in die Höhe transferiertes industrielles Gemetzel."
    Oswald Überegger ist Tiroler mit italienischem Pass. Seit einigen Jahren ist er Direktor des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen. Überegger hat in Innsbruck studiert und später in Hildesheim seine Habilitation verfasst. Die Kapitel des Sammelbands über die Katastrophenjahre Tirols stammen von Autorinnen und Autoren aus Österreich, aber auch aus Italien.
    Im Band "Krieg in den Alpen" geht Überegger zusammen mit dem italienischen Herausgeber Nicola Labanca noch einen Schritt weiter: unter Überschriften wie "Regierung und Politik"; "Militärische Kriegführung", oder "Erinnerung und Geschichtsschreibung" kommen jeweils österreichische und italienische Wissenschaftler zu Wort. Was etwa im Falle deutscher und französischer Historiker alltäglich wirken könnte, ist es zwischen österreichischen und italienischen Kollegen noch längst nicht. Denn nicht nur Deutschland und Frankreich, auch Österreich-Ungarn und Italien galten lange als "Erbfeinde". Und so ist es wenig verwunderlich, wenn Überegger schon in seiner Einleitung feststellt:
    "Deshalb sind in der Öffentlichkeit mitunter noch immer die nach 1918 zahlreich entstandenen Stereotypen und Legenden präsent: die eindimensionale Interpretation des italienischen Kriegseintritts als 'Verrat'; die Deutung der Verteidigungsleistung an der Südwestfront als militärisches 'Heldentum', die Zurückweisung eines militärischen Sieges Italiens in Kontinuität der zu Kriegsende entstandenen Legende von 'im Felde unbesiegt' und 'der Dolchstoßlegende'."
    Trotz der "bilateralen Methode" der beiden Herausgeber bleiben Kontroversen. Zum Beispiel die Frage, welche Nachwirkungen die italienische Niederlage von Caporetto 1917 hatte, ob sie die italienischen Soldaten patriotischer machte. Außerdem weist Überegger selbst darauf hin, dass das Konzept dieses Bandes über "Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg" nicht voll aufgeht: die Autorenpaare haben sich nicht immer eng abgestimmt, wegen der langen Bearbeitungs- und Übersetzungszeit konnten neueste Forschungsergebnisse nicht mehr berücksichtigt werden. Trotzdem stehen beide Bücher für einen bemerkenswerten Fortschritt in der Geschichtswissenschaft beider Länder.
    Nicola Labanca, Oswald Überegger (Hg): Krieg in den Alpen. Österreich-Ungarn und Italien im Ersten Weltkrieg (1914-1918), Böhlau, 346 Seiten, 35 Euro ISBN: 978-3-205-79472-1
    Hermann J.W. Kuprian, Oswald Überegger (Hg): Katastrophenjahre: Der Erste Weltkrieg und Tirol, Universitätsverlag Wagner, 592 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-7030-0824-5