Wer den Frieden sucht, der sollte der Demokratie den Weg bahnen. Denn demokratische Staaten zetteln nicht mutwillig Kriege an. Das mochten viele Beobachter aus den Ereignissen des späten 20. Jahrhunderts schließen. Verstörend erscheint vor diesem Hintergrund eine Erkenntnis aus dem Versailler Vertrag von 1919: Der Historiker Peter März nämlich vergleicht die Friedensverhandlungen von Versailles mit den Gesprächen beim Wiener Kongress 1815 - in denen Europa gleichfalls nach langen Kriegen neugeordnet wurde.
"Das Erstaunliche, um es etwas polemisch zu sagen, ist, dass die eigentlich vordemokratischen, vielleicht auch undemokratischen Staatsmänner in Wien weiser handelten, weiser handeln konnten als die demokratischen Staatsmänner, als Clemenceau, Lloyd George, Wilson 1919 in Versailles."
Denn die Diplomatenrunde um Fürst Metternich initiierte 1815 ein europäisches Konzert der Mächte. Mit einem System von Konferenzen, das künftige Konflikte schon im Keim ersticken sollte.
"Das, finde ich, war ein sehr moderner Ansatz, und insofern war Wien auf einen möglichst dauerhaften Friedenszustand angelegt. Und grosso modo hat das ja fast ein Jahrhundert gehalten. Versailles ist insofern anders - trotz der Etablierung des Völkerbundes - , als Versailles ein Frieden ist, der eigentlich nicht darauf angelegt ist, den Kriegszustand nun wirklich definitiv auf lange Zeit zu beenden, sondern möglichst Konditionen herzustellen, um relativ kurzfristig für neue Konfrontationen gerüstet zu sein."
Irrationales, von Misstrauen geprägtes Klima
Über die tieferen Gründe spekuliert März nicht weiter. Er begnügt sich damit, auf die Tatsachen hinzuweisen. "Nach der Urkatastrophe" - das ist in seinen Akzenten und Themen auch ein subjektiv gehaltenes Buch. Es wendet sich an Leser, die die historischen Ereignisse kennen und die in groben Zügen Bescheid wissen über das irrationale, von Misstrauen geprägte Klima zwischen den Staaten vor 1914. Über die halsbrecherischen Vabanquespiele Österreichs nach dem Attentat von Sarajewo. Und auch über die lange Zeit unberechenbare Politik Deutschlands. Worauf zielten deutsche Hardliner im Krieg mit ihren Ideen einer Vormachtstellung auf dem europäischen Festland? Peter März sieht darin gegenüber den früheren Expansionsträumen durchaus eine Mäßigung. In seinem Buch befindet er:
"(…) die deutschen Mitteleuropa-Vorstellungen enthielten immer auch den Rückzug aus den Weltmachtambitionen. Vor allem aber zeigt sich im Gesamtbild, dass die Planungen der deutschen Gegner mindestens ebenso weit gespannt und mindestens ebenso riskant waren."
Mit ihrer Nahostpolitik etwa, so Peter März, legten Großbritannien und Frankreich den Keim von Konflikten, die bis heute andauern. Das kaiserliche Deutschland möchte März mit Augenmaß beurteilt sehen. Er macht zahlreiche Kontinuitäten aus zwischen dem Wilhelminischen Reich und der Bundesrepublik.
"Wir haben im Kaiserreich ein sehr starkes Parlament, wir haben ziemlich demokratische kommunale Einrichtungen, wir haben einen weit ausgebauten Rechtsstaat, wir haben natürlich auch gegenläufige Entwicklungen - aber ich glaube, das heutige Deutschland tut gut daran, nicht immer nur auf Zäsuren zu blicken und die Frage: Was ist bei Zäsuren versäumt worden, wesentlich 1919 beim Entstehen der Weimarer Republik - sondern auch ein durchaus positives Erbe nicht von vorneherein apodiktisch ablehnend anzunehmen."
Destruktive Grundhaltung aller Beteiligten
Freilich müssen auf nur 280 Seiten einige Details unter den Tisch fallen. Etwa der Umstand, dass schon Bismarck mit seiner paranoid misstrauischen Außenpolitik Deutschland endgültig in die Isolation führte. Dennoch: Die große Initialzündung 1914 ging auf eine destruktive Grundhaltung aller Beteiligten zurück. März schreibt:
"Vermutlich hätte sich der Frieden bewahren beziehungsweise der Krieg lokalisieren lassen - hätte es unter den Akteuren Konzessionsbereitschaft, ja Nachgiebigkeit gegeben. Das aber war in Zeiten, in denen Prestige und Ehre zählten und in denen man ganz überwiegend darwinistisch nur Aufstieg oder Niedergang zu kennen glaubte, wenig, ja gar nicht der Fall."
Allerdings erinnert März auch an die verheerenden Zerstörungen im US-amerikanischen Bürgerkrieg und im Balkankrieg von 1912/13 - hellsichtige Beobachter hätten schon 1914 ahnen müssen, dass sich ein moderner Krieg furchtbar entfalten würde. Aber von Hellsichtigkeit konnte bei den maßgeblichen politischen Akteuren keine Rede sein. Das galt auch in der Frage, wie die Kriegsparteien eigentlich einen großen Waffengang finanzieren wollten. Auf Pump natürlich. Peter März nimmt beispielhaft das deutsche Modell der Kriegsanleihen in den Blick.
"Diese Finanzierung ließ sich ohne Megainflation nur durchhalten, wenn im Ergebnis des Krieges ein eindeutiger deutscher Siegfrieden stand. Mit hohen und durchsetzbaren Reparationsforderungen gegenüber den Verlierern. Und selbst dann musste die finanzielle Lage prekär bleiben. Denn ausgeplünderte Verlierer würden nicht mehr als potente Kunden deutsche Waren nachfragen können. Solche Zusammenhänge nicht frühzeitig gesehen zu haben, markiert einen ganz wesentlichen Vorwurf an die deutsche Politik."
Nach 1919 sollte sich zeigen, wie astronomische Reparationsforderungen an einen schwachen Verlierer das Klima in Europa vergifteten. Peter März blickt auch auf die Epoche um und nach 1945: Er wirft den West-Alliierten vor, über Stalins Verbrechen in Ostmitteleuropa sträflich hinweggesehen zu haben. So endete die kriegerische Phase, die 1914 begann, für März nicht 1945, sondern erst 1989. Das Europa von heute möchte sich der Autor ungern als monolithischen Block vorstellen. März wünscht sich einen vielschichtigen Kontinent, der sich der Globalisierung öffnet:
"Ich habe große Sympathien für das, was der britische Premier Cameron im letzten Jahr im Blick auf eine denkbare Weiterentwicklung der europäischen Integration ausgeführt hat, also: Stärkung regionaler Leuchttürme - Außenorientierung - mehr Subsidiarität - weniger Zentralität - und weniger Furcht, dass, wenn wir solche Wege gehen, dass wir in die Konstellation des Jahres 1913 zurückfallen."
Historisches Urteil schärfen
Über die Zeit seit jenem Jahr 1913 äußert Peter März im Detail viele konstruktiv-irritierende Gedanken. Nicht ersetzen kann sein Buch eine eingehende Sachdarstellung. Zumal Lektorat und Korrektur an einigen Stellen die Sorgfalt vermissen lassen - so kann sich auch mal ein Tippfehler bei einer wichtigen Jahreszahl einschleichen. Informierte Leser aber finden immer wieder Betrachtungen bekannter Detailereignisse aus ungewohnter Perspektive. Wer dann mit Peter März' Wertungen nicht konform geht, der kann an ihnen immer noch sein historisches Urteil schärfen.
Peter März: Nach der Urkatastrophe. Deutschland, Europa und der Erste Weltkrieg, Böhlau Verlag, 285 Seiten, 34,90 Euro.