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Erstes Amtsjahr von Jean-Claude Juncker
Kein Brüsseler Bürokrat

Die EU-Kommission wurde von ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker komplett umstrukturiert, die Zusammenarbeit mit dem EU-Parlament intensiviert. Und Juncker hat sich auch viel stärker politisch eingemischt, etwa bei der Griechenlandkrise und der aktuellen Flüchtlingsfrage - allerdings fällt hier die Bilanz nach dem ersten Amtsjahr gemischter aus.

Von Annette Riedel und Jörg Münchenberg |
    EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker steigt vor einem Gipfel in Brüssel mit dem Handy telefonierend aus dem Auto aus.
    Ein Präsident mit eigener politischer Agenda: Jean-Claude Junckers Bilanz nach einem Jahr EU-Kommissionspräsidentschaft kann sich durchaus sehen lassen. (picture alliance / dpa / Julien Warnand)
    Die Nacht nach den Europawahlen vor eineinhalb Jahren. Schon am Wahlabend zeichnet sich ab, dass Jean-Claude Juncker, Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, der Nachfolger des scheidenden EU-Kommissionspräsidenten Jose Manuel Barosso wird, geht doch die EVP als stärkste Fraktion im EU-Parlament aus den Wahlen hervor.
    Als Jean-Claude Juncker dann vor einem Jahr seine Arbeit als EU-Kommissionspräsident offiziell aufnimmt, spricht er von einer EU-Kommission "der letzten Chance". Der letzten Chance, die Entfremdung vieler Bürger von diesem krisengebeutelten Europa zu stoppen. Junckers Anspruch dabei: Eine EU-Kommission anzuführen, die erstens effektiver und konzentrierter arbeitet. Zweitens das Soziale wieder stärker in den Blick nimmt. Und, ein dritter Vorsatz: Juncker will kein Brüsseler Bürokrat sein:
    "Ich habe von Anfang an deutlich gemacht, dass die Kommission, der ich die Ehre habe, vorzusitzen, eine politischere Kommission sein wird. Und, ergo, der Präsident dieser Europäischen Kommission auch ein politischer Präsident sein wird."
    Ein Präsident mit eigener politischer Agenda. Eine Kommission, die sich weder vom Parlament noch von den EU-Ländern ihr Handeln diktieren lassen will.
    "Wir sind nicht die Ableger und die Befehlsempfänger nationaler Regierungen. Ich werde sehr aufmerksam und sehr wachsam in dieser Beziehung sein."
    "Er hat sicherlich die Ambition, einige Themen auch tatsächlich selbst zu bestimmen, mit seiner Art Richtlinienkompetenz", sagt der deutsche EU-Kommissar Günter Oettinger - einer der Wenigen, die schon Teil der Barroso-Kommission waren und jetzt der Juncker-Kommission angehören.
    Juncker will politischer sein
    Der Anspruch, eine EU-Kommission zu führen, die politischer und zudem effektiver arbeitet, spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie Juncker die Kommission und deren Aufgaben strukturiert hat. So hat Juncker fünf Vizepräsidenten – allesamt Kommissare -, die die Arbeit ihrer 22 Kommissars-Kollegen themenbezogen in Teams und nicht einzelressortbezogen organisieren. Erster und wichtigster Vize-Präsident – Junckers rechte Hand, wie der Präsident selbst sagt - ist der Niederländer Frans Timmermans.
    Mit seinem Sprachtalent ist Timmermans nicht zuletzt auch ein wichtiger Kommunikator für Juncker.
    "Wenn man es mit Berlin vergleichen würde, ist er vielleicht eine Art Kanzleramtsminister. Insofern ist er so ein bisschen der Filter für das, was wir im nächsten Jahr machen."
    So beschreibt Oettinger die Rolle Timmermans. Jan Techau, Analyst der Brüsseler Denkfabrik Carnegie Europe, bewertet die veränderte Kommissionsstruktur positiv:
    "Insgesamt muss man sagen, dass das Management der Kommission viel, viel straffer geworden ist. Ich habe den Eindruck, dass diese Vize-Präsidenten-Konstruktion vor allem dazu geführt hat, dass der regulative Überschwang der Kommission sich deutlich gemindert hat."
    Wunsch nach kollegialen Entscheidungen in der Kommission
    Dass sich etwas verändert hat, bestätigt auch Mina Andreeva, eine der wenigen Sprecherinnen der EU-Kommission, die diese Funktion auch schon unter Barroso innehatte. Zum Beispiel das allwöchentliche Treffen des Kollegs, also der 28er-Runde der EU-Kommissare mit dem Präsidenten. Das ist Juncker so wichtig, dass er schon mal einen Brief an alle schickt, um mit Nachdruck deren Anwesenheit einzufordern.
    "Dem Präsidenten ist es sehr wichtig, dass Entscheidungen kollegial getroffen werden. Und dafür muss man eben sicherstellen, dass alle Kommissare da sind. Jetzt wird wirklich nur das Thema groß diskutiert, was auch politisch wichtig ist. Es ist wirklich das erste Mal, dass die Kommission nur 23 neue Initiativen vorgeschlagen hat im Arbeitsprogramm 2015, wo es die Jahre vorher oft über 100 waren. Weil wir gesagt haben, wir wollen weniger machen, aber es dann richtig machen."
    Das Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel.
    Das Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel. (picture alliance/dpa/Matthias Balk)
    Dass weniger Gesetzes-Vorschläge von der EU-Kommission kommen, nehmen auch die EU-Parlamentarier sehr wohl wahr. Sie sehen das mit gemischten Gefühlen. Der Vorsitzende der eher europakritischen EKR-Fraktion, also der Europäischen Konservativen und Reformer, Syed Kamall:
    "Ich begrüße es, dass wir tatsächlich weniger Gesetzesvorschläge von der Kommission bekommen. Die Kommission ist fokussierter, hat Prioritäten gesetzt, denkt in Ergebnissen."
    Kritischer hingegen fällt das Urteil des grünen Europaparlamentariers Sven Giegold aus:
    "Die neue Juncker-Kommission macht tatsächlich weniger Gesetze. Sie versteht das aber so, dass sie das weglässt an Europa, was Europa liebenswert macht. Mir fehlt das, warum Menschen sich in die Europäische Idee verlieben können. Das sind die zentralen europäischen Ideen von sozialem Zusammenhalt, Ökologie, Demokratie und Bürgerrechten. Und da, muss ich sagen, habe ich von Herrn Junckers Vorschlägen bisher nicht viel gesehen."
    Mit der neuen Kommission hat sich auch das Verhältnis zum EU-Parlament insgesamt grundlegend gewandelt. Denn erstmals waren die Parteienfamilien bei der Europawahl 2014 mit Spitzenkandidaten angetreten. Mit dem erklärten Ziel, dass der Sieger der Wahl auch der Chef der neuen EU-Kommission wird.
    Politische Kampfansage an den Europäischen Rat
    Eine politische Kampfansage an den Europäischen Rat. Denn nach den EU-Verträgen entscheiden letztlich die Staats- und Regierungschefs über den Posten des Kommissionspräsidenten, auch wenn sie den Wahlausgang berücksichtigen müssen. Fast verzweifelt versuchte deshalb noch Ende Mai, kurz nach den Europawahlen, Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Machtanspruch des Siegers zurückzuweisen:
    "Mein Ziel ist es, dass wir vor der Sommerpause Klarheit haben über die Europäischen Personalien. Für mich geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es geht hier um die Arbeitsfähigkeit von Rat, Parlament und Kommission in den nächsten fünf Jahren."
    Doch auch Angela Merkel konnte die politische Dynamik nicht mehr aufhalten. Schon kurze Zeit später gab sie ihren Widerstand gegen Jean Claude Juncker als Kommissionschef auf. Der pflegt seither das Verhältnis zum Parlament sowie dessen Präsidenten und unterlegenen Spitzenkandidaten der SPD, Martin Schulz, besonders intensiv.
    Auch an der Rue Wirtz, dem Amtssitz des Europäischen Parlaments in Brüssel, sind viele über den neuen Ton aufseiten der Kommission begeistert, verspricht er doch zugleich eine gegenseitige Aufwertung und damit auch einen Bedeutungszuwachs für das Parlament, auch wenn das Parlamentspräsident Martin Schulz natürlich diplomatischer formuliert:
    "Wenn die beiden Gemeinschaftsorgane – Kommission und Parlament – eng zusammenarbeiten, wenn ein Kommissionspräsident in der Lage ist zu sagen: Ich ergreife eine Initiative und, lieber Rat, ihr müsst wissen, ich habe in der ersten und zweiten Lesung eine qualifizierte Mehrheit im Parlament. Dann ist er auf der gleichen Augenhöhe wie die andere Seite. Das ist der Terraingewinn, den wir brauchen, um die Gemeinschaftsmethode wieder zum Regelfall in der Arbeitsweise der EU zu machen. Und das, so glaube ich, ist uns gut gelungen."
    Was nicht bedeutet, dass das Parlament alle Vorhaben der Kommission einfach abnickt. Die anhaltende Kontroverse über das geplante Freihandelsabkommen mit den USA steht beispielhaft dafür.
    Seit Europawahlen informelle große Koalition
    Und dennoch gibt es seit den Europawahlen im letzten Jahr eine informelle große Koalition, gebildet von Christdemokraten, Sozialdemokraten sowie den Liberalen, auf die sich Juncker im Bedarfsfall stützen kann. Nicht immer unbedingt zum Vorteil des EU-Parlaments, schränkt allerdings Christdemokrat Markus Ferber ein:
    "Das Parlament hatte ja eine Vielzahl von positiven Signalen ausgesandt. Das jüngste Beispiel war, dass wir innerhalb von einer Woche die Kommissionsvorschläge für die Verteilung von Flüchtlingen in der Europäischen Union gebilligt haben. Aber der Dank hat sich dann nicht eingestellt. Es ist nicht so, dass das Parlament verstärkt in die Arbeiten einbezogen wurde. Ich habe schon das Gefühl, dass Herr Juncker das Parlament so sieht wie das in den nationalen Ebenen der Fall ist. Nämlich als permanente Mehrheit, die ihm zur Verfügung steht. Das ist aber institutionell nicht richtig. Und da wird er auch noch Probleme bekommen."
    Jean Claude Juncker hält eine Rede im EU-Parlament
    Jean Claude Juncker im EU-Parlament: Die Zusammenarbeit läuft besser. (picture alliance / dpa / Patrick Seeger)
    Doch bislang trägt die neue Achse EU-Parlament-Kommission, die Jean Claude Juncker das politische Geschäft derzeit erheblich erleichtert.
    Dabei war der neuen EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker der Arbeitsauftakt gründlich verhagelt worden. Stichwort: Lux Leaks. Durch die Enthüllungen eines journalistischen Recherchenetzwerks sah sich Juncker wenige Wochen nach Amtsantritt mit unangenehmen Vorwürfen konfrontiert: So soll es während seiner fast 20-jährigen Regierungszeit in Luxemburg im großen Stil geheime Steuerabsprachen mit multinationalen Konzernen gegeben haben. Die hätten so Steuerzahlungen in Milliardenhöhe vermieden.
    Im Zusammenhang mit den Vorwürfen musste Juncker - keine vier Wochen EU-Kommissionspräsident - ein Misstrauensvotum im Europäischen Parlament aushalten. Einem parlamentarischen Sonderausschuss hatte er Rede und Antwort zu stehen. Kein guter Start, bestätigt der liberale Europaparlamentarier Guy Verhofstadt:
    "Andererseits hat es vielleicht auch etwas Positives. Vielleicht hat es dazu geführt, dass diese EU-Kommission weitergehende Gesetzesinitiativen gegen Steuervermeidung auf den Tisch gelegt hat, als jede vor ihr."
    Wenngleich die Untersuchungen noch laufen, ist bereits jetzt klar, dass es tatsächlich Steuerabsprachen gegeben hat, in Luxemburg und in anderen EU-Ländern. Sie erfüllen teilweise den Tatbestand unerlaubter staatlicher Beihilfe. Es hat also de facto Beihilfe zu - oder Duldung von - Steuerdumping gegeben.
    Mehrere Gesetzesinitiativen für mehr Steuergerechtigkeit
    Kriminell war das allerdings, nach jetzigem Stand der Dinge, anscheinend nicht. Nur unfair, unlauter gegenüber anderen EU-Ländern, denen so Steuermilliarden entgangen sein dürften. Und tatsächlich hat diese EU-Kommission mehrere Gesetzesinitiativen für mehr Gerechtigkeit bei der Unternehmensbesteuerung angeschoben. So scheint es Juncker gelungen zu sein, seine Glaubwürdigkeit als Kommissionspräsident nicht schon auf den ersten Metern zu verlieren, meint jedenfalls der politische Beobachter Jan Techau:
    "Die ganze Lux-Leaks-Affäre hat eigentlich hier in Brüssel sehr viel weniger Wellen geschlagen, als man anfangs gedacht hat. Er hat es sehr, sehr gut gehandelt, ist damit recht souverän umgegangen. Vor allem ist es in der Substanz dann aber doch nicht wirklich richtig ein Skandal. Er ist aus meiner Sicht auch als Kommissionspräsident dadurch nicht beschädigt worden."
    In seiner Handlungsfähigkeit gefordert war Juncker von Beginn seiner Amtszeit an. An welchen Stellen liegt auf der Hand: Neben der Griechenlandkrise hat kein anderes Thema dieses erste Jahr der Juncker-Kommission so geprägt wie die Flüchtlingskrise.
    Im Mai hat die EU-Kommission ein Paket von Vorschlägen vorgelegt, wie aus ihrer Sicht kurz-, mittel- und langfristig, innen- und außenpolitisch auf die gegenwärtige Flüchtlingskrise zu reagieren ist. Dabei geht es auch um den Ansatz einer Quote, nach der Flüchtlinge auf alle EU-Länder verteilt werden sollen. Mutig finden die einen diese Vorschläge. Unnötig polarisierend finden sie andere. Sowohl als auch, sagt Jan Techau:
    "In der Flüchtlingsfrage - aus meiner Sicht ein sehr mutiges Voranschreiten, mit einer klaren Quoten-Regelung. Das war gut. Aber auf eine Art und Weise lanciert und gespielt und auch gedrückt und gepresst, die sehr viel böses Blut in Europa erzeugt hat. Und – wie manche hier in Brüssel sagen – möglicherweise einige Länder sogar dauerhaft von der Kommission entfremdet haben."
    So ist Juncker bei dem Thema mit mancher nationalen Regierung aneinandergeraten. Genau wie auch im Fall Griechenland: Der politische Linksruck und die anschließende Hängepartie um den Abschluss des zweiten Rettungspakets für das Land waren in der ersten Jahreshälfte 2015 noch vor der Flüchtlingsfrage die erste große Bewährungsprobe für Juncker, galt es doch den eigenen Anspruch als Gestalter und Motor innerhalb der Union auch umzusetzen.
    Juncker griff in schwierige Griechenlandverhandlungen ein
    Von Beginn an legte sich der Kommissionspräsident fest und griff aktiv in die schwierigen Verhandlungen mit dem neuen griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras ein. Noch im Sommer dieses Jahres wies er jegliche Kritik an seiner Vorgehensweise im Europäischen Parlament zurück:
    "Man hat die Rolle der Kommission heftigst kritisiert. In Sachen Griechenland in einigen Mitgliedsstaaten. Vornehmlich in denen, die dieselbe Sprache reden, die ich gerade benutze. Entweder möchte das Parlament eine politische Kommission haben und dann muss die sich auch in Politik äußern dürfen. Oder das Parlament und andere möchten eine Kommission haben, die sich aus hohen Beamten zusammensetzt. Ich bin kein Beamter, ich bin ein politischer Verantwortungsträger."
    Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras (l.) mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker
    Griechenlands Regierungschef Alexis Tsipras (l.) mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (dpa / picture-alliance / Julien Warnand)
    Rückblende. Die Gespräche zwischen der neuen griechischen Linksregierung und den Euro-Finanzministern treten im Frühjahr auf der Stelle. Vor allem der charismatische, aber wenig diplomatische Finanzminister Yannis Varoufakis stößt seine europäischen Amtskollegen immer wieder vor den Kopf. Die aber halten an der bisherigen Linie fest: Hilfen gibt es nur gegen Auflagen und Reformen. Juncker will vermitteln, gerade auf höchster politischer Ebene – und lädt Regierungschef Tsipras nach Brüssel ein. Der bedankt sich artig:
    "Ich bin sehr glücklich, hier zu sein. Und ich bin optimistisch, weil wir das mit guten Freunden von Griechenland und Pro-Europäern diskutieren. Ich bin zuversichtlich, dass wir den politischen Willen haben, dass wir bald Lösungen für unsere gemeinsamen Probleme finden.
    Juncker stilisiert sich in der Folgezeit zum Griechenland-Versteher, zum Brückenbauer:
    "Eine Kommission, die die Hüterin der Verträge sein sollte, also dafür sorgen sollte, dass die Spielregeln eingehalten werden, und so einseitig Partei ergreift, wird natürlich ihrer Aufgabe nicht gerecht. Und gerade das hat bei uns in Deutschland und bei uns deutschen EU-Abgeordneten für sehr viel Ärger gesorgt. Weil hier die Kommission ihrer Verantwortung nicht mehr gerecht geworden ist."
    Bilanziert Christdemokrat Ferber. Erschwerend aber kommt hinzu: Am Ende sind es doch wieder die Staats- und Regierungschefs der Eurozone, die Mitte Juli mit der Einigung auf ein drittes Hilfspaket für Griechenland das monatelange Hickhack beenden.
    Bewährungsprobe fiel ernüchternd aus
    So fällt die erste große Bewährungsprobe für den politischen Kommissionspräsidenten ernüchternd aus. Juncker spielt zwar bei dem monatelangen Gezerre zwischen Athen und den anderen europäischen Hauptstädten eine wichtige Rolle – zumal im direkten Vergleich zu seinem Amtsvorgänger Manuel Barroso. Zeitweise gelingt es dem neuen Kommissionspräsidenten sogar, den Verhandlungstakt vorzugeben. Doch mit der Ankündigung von Tsipras, eine Volksbefragung über das Reformprogramm durchzuführen – verbunden mit der Empfehlung, dieses abzulehnen – steht am Ende auch Juncker vor einem Scherbenhaufen.
    Deutlich mehr Zustimmung bekommt der Kommissionspräsident dagegen bei einem anderen zentralen Projekt: einem riesigen Investitionspaket, über das mittels Absicherung durch öffentliche Gelder rund 315 Milliarden Euro mobilisiert werden sollen. Auch hier zeigt sich der Anspruch des Kommissionspräsidenten, einen anderen, einen neuen Europakurs vorzugeben. Die EU soll nicht nur für harte Reformmaßnahmen und Haushaltssanierung stehen, sondern auch für Wachstum, Investitionen und neue Arbeitsplätze. Denn der Graben zwischen den Mitgliedsländern ist in den letzten Jahren tiefer geworden. Für den Chef der selbst ernannten "Kommission der letzten Chance" ein unhaltbarer Zustand:
    "Es entsteht zurzeit innerhalb der Grenzen der Europäischen Union ein 29. Staat. Ein Staat, in dem jugendliche Arbeitslose wohnen. Ein Staat, in dem Ausgestoßene, Zurückgeworfene, am Wege Stehengebliebene leben. Ich hätte gerne, dass dieser 29. Mitgliedstaat wieder ein normaler Mitgliedsstaat wird. Deshalb schlage ich ein anspruchsvolles Investitionsprogramm vor."
    Dessen notwendige Finanzierung wird dann auch tatsächlich innerhalb kürzester Zeit auf die Beine gestellt. Bislang wurden zwar erst wenige Projekte bewilligt. Doch Juncker habe mit seinem Vorstoß ein wichtiges Zeichen gesetzt, lobt der Vorsitzende der Liberalen im Europäischen Parlament, Guy Verhofstadt:
    "Zum Beispiel fangen wir jetzt mit den Investitionen bei über 300 Milliarden Euro an. Die vorhergehende Kommission hatte 200 Millionen veranschlagt. Das war nicht sehr realistisch – jetzt ist man viel anspruchsvoller."
    Deutliche Akzente gesetzt
    Am Ende kann sich also die Bilanz nach einem Jahr Juncker durchaus sehen lassen. Der neue Kommissionspräsident hat deutliche Akzente gesetzt und die Brüsseler Behörde neu ausgerichtet. Auf zentralen Politikfeldern spielt die Kommission wieder eine maßgebliche Rolle – das gilt vor allem für die Flüchtlingspolitik. Gleichzeitig stößt aber auch dieser ehrgeizige wie politisch beschlagene Kommissionspräsident immer wieder an institutionelle Grenzen:
    "Die Europäische Union ist so stark wie die Mitgliedsstaaten sie machen. Das muss man immer wieder betonen. Die Union ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenverbund. Und die Spielräume, die die Gemeinschaftsorgane haben, insbesondere die Kommission, sind am Ende so groß, wie die Mitgliedsstaaten wollen, dass sie groß sind."
    Juncker wird dennoch nicht locker lassen. Und für eine Union, die wohl auch in den kommenden Jahren im Krisenmodus bleiben wird, ist dies sicherlich nicht die schlechteste Option.