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Ertrunkene Flüchtlinge
Italien gibt den Opfern ein Gesicht

Bis zu 800 Flüchtlinge starben am 18. April 2015, als ihr marodes Boot auf dem Mittelmeer unterging. Die italienische Regierung beschloss, das Boot zu bergen und die Toten nach Möglichkeit zu identifizieren. Rechtsmediziner sammelten also Informationen, die nun mit Daten aus den Herkunftsländern der Opfer abgeglichen werden.

Von Jan-Christoph Kitzler |
    Eine kaputte Schwimmweste ist an einen Strand in Libyen angespült worden.
    Mehr als 3.600 Flüchtlinge ertranken allein in diesem Jahr im Mittelmeer – weit über die Hälfte von ihnen stirbt ohne Namen. (dpa-Bildfunk / EPA / Ben Khalifa)
    550 Leichensäcke haben sie an der Ostküste von Sizilien, bei Augusta, bereitgehalten – ganz gereicht haben sie nicht. 750 – 800 Menschen sind wohl an jenem 18. April 2015 ertrunken, als ihr marodes Flüchtlingsboot auf dem Mittelmeer unterging. Schon gleich nach dieser Katastrophe hatte Italiens Regierung beschlossen, das Boot aus 370 Meter Tiefe zu bergen – und den Toten ein Gesicht zu geben.
    Vittorio Piscitelli ist als Präfekt zuständig für vermisste Personen. Seit 2007 gibt es dieses Amt – und schon längst kümmert er sich vor allem um die Toten auf dem Mittelmeer. Über 3.600 allein in diesem Jahr – weit über die Hälfte von ihnen stirbt ohne Namen. Beim Unglück vom 18. April 2015, dem bis jetzt wohl schlimmsten, soll das anders sein, sagt Piscitelli:
    "Wenn wir einem Körper einen Namen zuordnen, dann heißt das, seine Würde wiederherzustellen, seine Geschichte, sein Wesen zu rekonstruieren. Das ist uns wichtig. Die Aufnahme von Migranten und auch ein würdiges Begräbnis sind für uns Werte, hinter die wir nicht zurückkönnen. Das ist für alle, auch für uns schwierig, wir bringen dafür große Opfer – aber wir machen das gern."
    Einige Tote hatten Fotos, Telefonnummern oder Ausweise dabei
    Wochenlang haben die 20, 25 Rechtsmediziner, mit Feuerwehrleuten, Soldaten und weiteren Helfern hunderte Tote aus dem geborgenen Wrack geholt. Und in einem ersten Schritt Daten der Toten gesammelt:
    "Das Neue ist: Wir gehen über die DNA-Analyse hinaus, die wir bei den Toten des Unglücks von Lampedusa angewandt haben und die nicht viel gebracht hat. Deshalb nutzen wir weitere Methoden, die von der Rechtsmedizin anerkannt sind. Wir versuchen, die Daten von vor dem Tod mit denen nach dem Tod abzugleichen."
    Christina Cattaneo leitet die schwierige Identifizierung. Sie sind erst am Anfang, sagt die junge Medizinprofessorin. In dieser Woche noch wird die Datensammlung bei den Toten abgeschlossen. Das alles ist ihr manchmal näher gekommen, als ihr lieb war: Manche der Toten hatten Fotos dabei, Telefonnummern, Ausweise, die Bibel oder den Koran.
    Identifizierung ist auch aus bürokratischen Gründen wichtig
    65 Prozent der Toten waren junge Männer zwischen 20 und 30, 35 Prozent Jugendliche zwischen 12 und 17. Ein Kind an Bord war erst sieben. Jetzt brauchen die Experten die Vergleichsdaten aus den Herkunftsländern, aus dem Sudan, aus Somalia, aus Mali oder Gambia. Warum? Christina Cattaneo hat keine Zweifel:
    "Es gibt auch bürokratische Gründe, wenn es zum Beispiel für Waisen keine Zusammenführung mit den Angehörigen gibt, ohne den Totenschein. Auch Witwen kommen in der Bürokratie ohne nicht weiter. Denken wir nur mal dran, was los ist, wenn einer unserer Verwandten stirbt, was für Bescheinigungen wir dann brauchen. Und das gilt natürlich auch für sie. Diese Menschen sind da nicht anders, auch wenn sie in viel ärmeren Ländern leben. Es gelten mehr oder weniger dieselben Regeln, schon aus humanitären Gründen."
    Ein Drittel der Toten ist bereits in Sizilien bestattet
    Es ist noch ein langer Weg, bis zu den ersten gesicherten Namen. Die italienischen Botschaften im Ausland sollen helfen, am besten auch Behörden in ganz Europa, damit die bei den Toten erhobenen Daten abgeglichen werden können.
    "Das ist aus tausend Gründen wichtig. Aus humanitären Gründen ist es wichtig, den Toten einen Namen zu geben. Auch für die Hinterbliebenen, die vielleicht gar nicht wissen, ob sie trauern müssen. Das sind Menschen, die vielleicht Jahre brauchen, um Afrika zu durchqueren. Und für die Verwandten könnte es normal sein, dass man von ihnen nichts hört."
    Etwa ein Drittel der Toten ist schon auf Friedhöfen in Sizilien bestattet, hunderte haben ihr Grab im Meer gefunden. Und weil seit dem Unglück vom 18. April 2015 Tausende weitere gestorben sind, ist dieses Projekt nur ein kleiner Beitrag zu mehr Menschlichkeit. Aber vielleicht einer, der Europa endlich aufrüttelt.