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Erwanderte Stadtgeschichte

Eigentlich geht man in den USA selten zu Fuß, in Boston kann sich das aber lohnen. Der Freedom Trail, eine rote Backsteinlinie auf dem Bürgersteig, führt zu 15 Stationen der amerikanischen Gründungszeit. Wer gut zu Fuß ist, kann an einem Nachmittag durch drei Jahrhunderte Stadtgeschichte wandern.

Von Ulrike Gondorf | 01.07.2012
    Wer am Boston Common steht, dem Park im Herzen der Stadt, der sollte nicht nur nach oben schauen. Zu den Hochhäusern, deren Skyline dieses grüne Zentrum einrahmt. Oder hinüber auf das Statehouse, das Parlament des Bundesstaates Massachusetts, zu dem die baumbestandenen Wege sanft ansteigen.

    Nein, im Zentrum von Boston lohnt sich auch ein Blick nach unten: Auf eine rote Linie, die aus Ziegelsteinen in den Gehweg eingelegt ist. An sich keine Sehenswürdigkeit, aber ein zuverlässiger Wegweiser.

    "Das ist eine schlagend einfache Idee, der Freedom Trail, wenn Sie der roten Linie nachgehen, bringt er Sie zu allen interessanten Orten","

    erklärt Sam Jones von der Freedom Trail Foundation, in deren Obhut sich die historischen Bauwerke befinden. Viele bedeutende Schauplätze aus den Gründungsjahren der USA haben sich in Boston erhalten. Aber die kleine Hauptstadt der britischen Kolonie ist im 20. Jahrhundert von der rasch wachsenden Metropole Boston regelrecht verschluckt worden.

    ""Die Touristen sind regelrecht ausgerastet, weil sie nicht finden konnten, was sie suchten. Niemand wusste richtig Bescheid, es war ein Chaos."

    Das brachte William Scofield, den Verleger der Tageszeitung "Boston Herald", 1951 auf die Idee mit der roten Leitlinie im Straßenpflaster.

    "Wir haben Glück, dass man in einem Nachmittag von einem Ende zum anderen laufen kann."

    Naja, ein Nachmittag, da muss man ein sportliches Tempo vorlegen. Knapp fünf Kilometer lang ist der Freedom Trail und passiert 15 Stationen. Wenn man wenigstens die Hauptsehenswürdigkeiten auch von innen besichtigen will, sollte man schon einen Tag einplanen. Also los, Start am prächtigen Massachusetts State House, einige Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit erbaut von Charles Bulfinch, dem ersten bedeutenden amerikanischen Architekten. Der klassische Stil mit Säulehalle, Tempelgiebel und goldener Kuppel gibt dem Selbstbewusstsein der jungen Demokratie Ausdruck. Von hier führt der Freedom aber zunächst einmal ins Zentrum des kolonialen Boston.

    Am alten Friedhof hinter der Park Street Church passiert man lange Reihen von niedrigen, windschiefen Grabsteinen aus Schieferplatten, die aus dem Rasen aufragen. Manche sind mit kleinen Flaggen, auch mit Blumen geschmückt. Denn hier sind einige Hauptfiguren aus dem bewegten Drama der amerikanischen Revolution begraben. Boston lag im Fadenkreuz der Ereignisse, denn die Stadt war ein wichtiger Hafen, Hauptquartier der englischen Armee und Sitz eines Gouverneurs, der die Krone in den Kolonien vertrat.

    Seine Hauskirche war "Kings Chapel". Von außen wirkt der Bau geduckt und ein wenig düster, im Innenraum überrascht eine elegante weiße Säulenhalle. Bunte Glasfenster, Büsten und Monumente, vor allem aber die mit rotem Samt ausgeschlagene Loge des Gouverneurs im seitlichen Kirchenschiff weisen daraufhin, dass King’s Chapel die Kirche der kolonialen Oberschicht war. Hier wurde der Ritus der anglikanischen Staatskirche praktiziert. Darin hat die Musik einen wichtigen Platz und so stand auf der Orgelempore dieser Kirche eines der ersten Instrumente in der neuen Welt.

    Von der King’s Chapel führt der Freedom Trail zum Old State House, das gleichermaßen Symbol der kolonialen Zeit wie der Befreiung ist. Heute liegt das Backsteingebäude aus dem Jahr 1712 mit seinem hohen Glockenturm und den weißen Sprossenfenstern mitten im Bankenviertel Bostons. Es wirkt winzig, fast unwirklich, zwischen den spiegelnden Fassaden der Wolkenkratzer aus Stahl und Glas. Als es noch der Amtssitz des britischen Gouverneurs war, ist es umgekehrt gewesen, erzählt Samantha Nelson, die das Education Programm des Hauses leitet. Das State House nahm sich riesig und repräsentativ aus zwischen den kleinen, meist hölzernen Häusern, die sich von hier aus hinunter zum Hafen zogen. Besondere historische Bedeutung hat der Balkon vor dem Ratssaal im oberen Stockwerk. Hier verlas der Gouverneur die königlichen Dekrete, die in den Kolonien Gesetz waren. Und von eben diesem Balkon wurde einer jubelnden Menge, die sich auf dem Platz unten versammelt hatte, am 18. Juli 1776 die Unabhängigkeitserklärung verkündet. Zwei Wochen hatte das Dokument, das in Philadelphia aufgesetzt worden war, gebraucht, bis es in Boston ankam. Samantha Nelson zitiert am historischen Ort die berühmten Worte.

    "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit."

    Die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung, meint Samantha Nelson sind der Hauptgrund für die große Attraktivität historischer Stätten wie des Freedom Trail, die sich in den USA ständig wachsender Beliebtheit erfreuen. Den Spaziergang durch Boston machen jährlich drei Millionen Besucher. Etwa 100.000 von ihnen kommen auch ins Museum, das heute im Old State House untergebracht ist.

    Dort sieht man Dokumente, aber auch historische Kostüme, persönliche Gegenstände der damals handelnden Personen. Geschichte aus erster Hand, mit multimedialer Vermittlung oder interaktiven Touren, das ist das Programm des Museums und das Augenmerk liegt dabei immer auf der Aktualität der historischen Vorgänge.

    "Die Grundrechte, zum Beispiel die Unverletzlichkeit der Person, das waren wichtige Fragen in der Unabhängigkeitsbewegung und darüber diskutieren wir immer noch, ob es um den "Patriot Act" geht oder um die immer stärkere Überwachung, auch wenn man nur ein Flugzeug nehmen will. Unsere Themen heute, das waren auch die Themen im revolutionären Amerika."

    Der Ort, von dem das Fanal zu dieser Revolution ausging, liegt nur ein paar hundert Meter entfernt vom Old State House – der Freedom Trail zeigt mit seinen roten Pflastersteinen den Weg. Im Old South Meeting House, der größten Kirche der Stadt, fand am 16. Dezember 1773 eine Versammlung statt, in der erregt über neue Zollvorschriften der Engländer diskutiert wurde. Die sorgten in den Kolonien schon seit einiger Zeit für Unruhe. Nun sollte auch auf das tägliche Lebensmittel Tee eine neue Steuer gezahlt werden. Direkt aus dieser Versammlung strömten mehrere hundert Leute zum Hafen und warfen die Ladungen von drei englischen Schiffen ins Meer. 342 Kisten Tee schwammen im Wasser bei der legendären Boston Tea Party.

    Nach dieser Eskalation war es nur eine Frage der Zeit, dass der Konflikt offen ausbrechen würde. Gut zwei Jahre später stand die Entscheidung bevor, beide Seiten rüsteten sich für eine bewaffnete Auseinandersetzung. Wenn man dem Freedom Trail folgt in den Norden der Stadt, kommt man an den Ort, an dem das Signal für den Unabhängigkeitskrieg gegeben wurde – es ist wieder eine Kirche. Im lichtdurchfluteten, elegant in grau-weiß gehaltenen Mittelschiff sitzt der Pfarrer Stephen Ayres und erzählt die Geschichte.

    "Die Old North Church ist so berühmt, weil hier die amerikanische Revolution begonnen hat, symbolisch zumindest, in der Nacht des 18. April 1775. Die Kirche wurde genutzt von einem Netzwerk von Spionen und Boten, die die englischen Truppenbewegungen beobachteten, und in dieser Nacht erfuhren sie, dass die Engländer den Charlesriver überqueren und nach Lexington marschieren würden."

    Da trat ein Mann in Aktion, den in den USA bis heute jedes Schulkind kennt: der Silberschmied und Glockengießer Paul Revere. Auch an seinem Wohnhaus in diesem Viertel, einem schiefergedeckten Holzbau, führt der Freedom Trail vorbei. Revere setzte im hohen schlanken Turm der Old North Church ein Lichtsignal. Ein sehr populäres Gedicht handelt davon:

    "Die berühmte Zeile besagt: eine, wenn sie vom Land kommen, und zwei, wenn sie vom Meer kommen – tatsächlich war es der Charlesriver, aber das hätte sich nicht gereimt."

    Also zündete Paul Revere zwei Laternen an im Turm von Old North Church und ritt dann selbst ins etwa 15 Kilometer entfernte Lexington, um die Miliz und die Anführer der Aufständischen in Alarmbereitschaft zu versetzen. Am Morgen des nächsten Tages fand dort das erste – und für die Rebellen erfolgreiche Gefecht des Unabhängigkeitskriegs statt. Reverend Ayres ist der Stolz über die Rolle "seiner" Kirche in der Weltgeschichte deutlich anzumerken. Und auch er beobachtet ein wachsendes Interesse, steigende Besucherzahlen, worauf Sam Jones von der Freedom Trail Foundation ebenfalls verweist. Er sieht dafür eine wichtige Ursache.

    "Besonders seit dem Attentat vom 11.September 2001 fühlen wir uns in der Krise in diesem Land. Und in solchen Zeiten ist Patriotismus eine Antwort. Im Moment fühlen wir uns politisch immer tiefer gespalten. Ich glaube beide Seiten suchen Orientierung bei den Gründervätern der Nation. Und deshalb wollen die Leute hierher kommen, an die Orte, wo sie gehandelt haben, wo sich die Tea Party ereignet hat – jeder will das."

    Old North Church, ein Backsteinbau mit einem hohen, elegant gestaffelten und von einem weißen Helm bekrönten Turm, liegt an einem kleinen Park. Vom angrenzenden Schulhof weht die Gegenwart lautstark in die Geschichte – auch wer nicht mit patriotischen Gefühlen in die amerikanische Vergangenheit spazieren will, kann vom Freedom Trail profitieren. Er führt zu sehenswerten Bauten und stimmungsvollen Plätzen aus drei Jahrhunderten Stadtgeschichte und bringt einen als Fußgänger mitten hinein in den Alltag Bostons: vom Park bis zur neu und grün gestalteten Waterfront, vom Bankenviertel mit seinen Hochhäusern über den Wochenmarkt bis zu den belebten, von Restaurants und Cafes gesäumten Straßen des alten "Kleine-Leute-Viertels" im Norden, das noch ganz vom 19. Jahrhundert geprägt scheint. Sam Jones hat nicht zu viel versprochen.

    "Die koloniale Stadt Boston hat überlebt und existiert neben dem modernen Boston."