Was heißt schon Demokratie in der Kunst? Erwin Wurms "One-Minute-Sculptures" zeigen es anschaulich. Ihr Prinzip ist denkbar einfach, aber sehr wirkungsvoll: Jeder blamiert sich, so gut er kann. Einige Alltagsgegenstände werden in der Ausstellungshalle verteilt, es gibt ein kleines, handgezeichnetes Bild als Bedienungsanleitung, fertig. Ein einfacher Stuhl steht da. Der Betrachter ist aufgefordert, mit einem Bein durch die Lücke zwischen Rückenlehne und Sitzfläche zu steigen und exakte eine Minute so mit angehaltener Luft zu verharren und sich vorzustellen, er sei ein Philosoph. Wer es anspruchsvoller mag, kann sich nebenan auf einige Tennisbälle legen, so dass kein Körperteil den Boden berührt. Zwei Minuten liegen bleiben und an nichts denken. Gar nicht so einfach, wie sich herausstellt.
Man kann sich aber auch eine Reisetasche über den Kopf stülpen, zu Zweit von links und rechts den Kopf in eine Art Hundehütte stecken oder von der Seite in einen Kühlschrank, um, wie der Künstler vorgibt, kühlen Kopf zu bewahren. Vom Angebot der partizipativen Selbstverwirklichung wird an diesem Eröffnungsabend jedenfalls reichlich Gebrauch gemacht, auch wenn sich die Besucher der gewissen Verfänglichkeit ihrer Posen natürlich bewusst sind. Die meisten sind so schlau und bringen ihre Kinder mit, die sich bereitwillig vorschicken lassen. Nach und nach trauen sich dann die Erwachsenen, und es wird viel mit Smartphones geknipst. Ja, so ungefähr muss gelebte Demokratie in der Kunst aussehen, jeder kann, frei nach Andy Warhol, ein paar Minuten im Mittelpunkt stehen, jeder, frei nach Joseph Beuys, wenn nicht schon ein Künstler, so wenigstens ein Kunstwerk sein.
Beuys scheint indirekt auch in Wurms neueren Werken wiederzukehren. Wurm reproduziert dabei Möbel und andere Alltagsgegenstände aus Polyester und deformiert sie durch Druck- oder Schleifspuren, so dass sie wie teigige Objekte wirken. Insbesondere der Kühlschrank, der wie ein großer Butterblock aussieht, erinnert schon fatal an eine direkte Persiflage auf Beuys' Fettskulpturen.
Die Ideen zu Wurms One-Minute-Sculptures entstanden freilich bereits seit Mitte der 90er-Jahre, als der Wind of Change noch halbwegs vernehmlich durch das alte Europa wehte und die Menschen sich als Teil weltgeschichtlicher Umwälzungen fühlen durften. Selbsthistorisierung war damals ganz schwer in Mode: Der große Wenderoman wurde gefordert und geschrieben, neue Historienmalerei, und die Städte wollten wieder so aussehen wie vor dem Zweiten Weltkrieg. So mancher Künstler, wie eben der 1954 geborene Erwin Wurm, der altersmäßig nicht mehr ganz in die aufrührerische Kunst der 60er- und 70er-Jahre passte, wählte den Weg in die Ironie, um den ästhetischen Zeitgeist zu entlarven.
Vordergründig sind seine One-Minute-Sculptures natürlich ein Heidenspaß für das Publikum. Doch sie operieren eigentlich auf derselben entblößenden Ebene wie das "Narrow House", ein detailgetreuer, begehbarer Nachbau von Wurms österreichischem Elternhaus in Oberschöckl bei Graz, das hier skulptural auf eine Breite von 1,10 Metern zusammengestaucht und von Kurator Thomas Köhler eindrucksvoll in der Eingangshalle der Berlinischen Galerie platziert wurde. Die Besucher, die sich nun durch die im Stil der bürgerlichen Wohnkultur der 70er-Jahre ausgestattete Enge schieben, komplettieren in ihren klaustrophoben Zuständen die Skulptur, ebenso wie bei den One-Minute-Sculptures in der angrenzenden Halle, die man sich ohne weiteres als Zeitvertreib in exakt einer solchen Wohnumgebung vorstellen kann.
Demokratisierung der Kunst wäre demnach vor allem ihre Verengung – oder auch ihre Aufblähung, wie Wurm mit dem Projekt "Konfektionsgröße 50 zu 54" demonstriert. Es besteht eigentlich nur aus einer Handlungsanweisung, wie der Besucher mittels eines Speiseplans innerhalb von acht Tagen Masse, Volumen und Form seines eigenen Körpers gezielt skulptural vergrößern kann – eine Variante von Wurms "Fat"-Skulpturen, die Statussymbole wie Autos oder Einfamilienhäuser in einer aufgeblähten Version zeigen.