Der schwedische Dramatiker und Romancier August Strindberg schrieb einmal, dass niemand seine eigene Frau kennen würde, "weil er sie nur sieht, wenn er selbst dabei ist". Strindberg war für seine konfliktreiche Beziehung zum anderen Geschlecht bekannt. Dabei sehnte er sich sein Leben lang nach dessen Nähe. Vielleicht glaubte deshalb der große Flaneur Franz Hessel in Strindbergs Sinn die eigene ambivalente Beziehung zu seinem geliebten Berlin charakterisiert.
"Wir eilen zu den uns auferlegten Arbeiten und Vergnügungen, aber in Berlin spazieren gehen, das getrauen wir uns nicht."
Schrieb Hessel in seiner Anleitung zur Flanerie mit dem Titel "Spazieren in Berlin" und verwies damit auf die Achtlosigkeit gerade demjenigen gegenüber, den wir am meisten lieben. Seit es Metropolen gibt, ist von einer Hassliebe zwischen Stadt und Weiblichkeit die Rede.
Der schwedische Autor Richard Swartz hat sich bereits mehrfach dieser reizvollen wie befremdlichen Ambivalenz angenommen. Unter dem Titel "Notlügen" sind nun von ihm Erzählungen erschienen, die in sechs Versionen von den Missverständnissen und Seelenqualen zwischen den Geschlechtern sowie der absurden Sehnsucht nach körperlicher Nähe handeln. Sie spielen in Großstädten, die namentlich genannt werden: Prag, New York, Stockholm, Wien - dann wieder sind es nur architektonische Details, die ahnen lassen, wo sich die Protagonisten befinden.
"Groß ist sie nicht, doch durch ihr Alter unübersichtlich; der Mann hat Schwierigkeiten, sich darin zurechtzufinden. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich in den Gassen verirrt, wo immer er auch gegangen war, nach links oder nach rechts, war er zum selben Platz mit demselben Springbrunnen zurückgekehrt, wo das Wasser aus den Mündern von Amorinen und Delfinen sprudelte."
Im urbanen Labyrinth der Straßen, jenen erbauten Distanzen im öffentlichen Raum, werden Anonymität und Einsamkeit schnell zum existentiellen Problem.
"Ein Mann ist zu einem kurzen Besuch in einer fremden Stadt, für drei oder höchstens vier Tage, und damit er sich dort nicht ganz einsam fühlt, arrangiert eine Freundin für ihn eine Begegnung mit einer anderen Frau."
Da dem Mann Stadt und Frau vollkommen fremd sind, er sich beiden gegenüber ausgesetzt fühlt, greift er nach der ihm anvertrauten Frau, um so dem räumlichen wie emotionalen Niemandsland zu entfliehen. In der Berührung verschmelzen die weiblichen Körperkonturen mit der Silhouette der Stadt.
"Auf der Brücke über den Fluss gehen sie nebeneinander, und in deren Mitte, es ist eine der ältesten in Europa, legt der Mann der Frau den Arm um die Taille (…) und so hat der Mann in gemächlichem Tempo und in einer Gesellschaft, die zufälligen Besuchern nur selten vergönnt ist, die Gelegenheit, sich mit dieser Stadt bekannt zu machen."
Swartz beschreibt jenen magischen Augenblick, in dem das Fremdsein kurzzeitig eine Linderung erfährt. Während die Brücke als Teil der Stadt im Vorgang der Personifikation vertrauter erscheint, geht die weibliche Taille in das städtische Weichbild ein. Ein urbanes Gedächtnis wird begründet, das die späteren Erinnerungen steuern wird. Das weibliche Prinzip wird dabei allerdings ausgeblendet.
"Gerade so, wie sie sich an diesem Abend ausnimmt, wird die Stadt ihm im Gedächtnis bleiben, in genau diesem flammenden Abendlicht über Wasser und Hügeln und genau zu dieser Jahreszeit, auch lange, nachdem alles, was er mit der Stadt hätte, verbinden können, jede Bedeutung verloren hat.""
Swartz’ Protagonisten agieren wie Figuren auf einem Schachbrett, das vom Grundriss der jeweiligen Stadt bestimmt wird. Sie sind namenlos und werden "der Mann" und "die Frau" genannt. Lediglich im Abseits der Notlügen, also in der Sprache, verschaffen sie sich eine Bewegung, die ihre verschütteten Ängste, Liebe und Hass, aber auch Scham ahnen lassen. Die Anonymität und Kälte des städtischen Asphalts sind ein unsicherer Boden, der ihre Intrigen und Maskeraden zu provozieren scheint. Wobei der Erzähler den Griff zur Notlüge als moralische wie seelische Notwendigkeit entlarvt.
"der Mann will modern sein(...) Er lügt über das, was er tut und denkt (...)Das ist eine schwere Kunst, die eine ganze Menge Phantasie erfordert (...) Die Notlüge kommt über ihre Lippen, als sie beide nicht weit davon entfernt sind, fast von dem Stuhl zu fallen, auf dem sie schon zusammensitzen, und die Frau ihn ins Bett zieht, das sich nicht weit von dem Tisch entfernt befindet."
Der Erzähler spickt seine vielschichtigen Episoden mit vielen Details, die auf Orte und deren Geschichte verweisen. So wie in Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" die Entlassung seines Protagonisten Franz Biberkopf aus der Haftanstalt Tegel in die Freiheit der Metropole die eigentliche Strafe bedeutet, wird bei Swartz das tägliche Leben in New York zum Gefängnis.
"Der Mann ertappte sich manchmal dabei, dass er in seinen zwei Zimmern auf und ab ging, als wären sie einer jener europäischen Parks mit Rasenflächen, Gipsfontänen und Kieswegen (...) Der amerikanische Traum erniedrigte ihn."
Die Stadt ist keine Kulisse bei Swartz. Sie ist der Akteur - ein Vexierbild in bedrohlicher Veränderung. Als Inbegriff modernen Lebens gefeiert, liegt auf ihr der Fluch, Sündenbabel und Dschungel des Verderbens zu sein. Die Körper seiner Bewohner werden auf dem Markt feilgeboten. Ihre Sprache ist vulgär. Und so gehört das Stereotyp der Femme fatale ebenso zu ihr wie die Hure und der Bettler.
"Ein Bettler zeigte einen verkrüppelten Arm und einen Beinstumpf und zog den Mann mit dem nicht verstümmelten Glied am Ärmel, um sofort einen Obolus zu bekommen."
Doch nicht nur animalischer Trieb und Konkurrenz beherrschen die düstere Erzählweise. Im Museum und in der Oper, in Restaurants und Cafés wird der ewige Geschlechterkampf emotionslos als zeitloses Rollenspiel inszeniert.
"Sie lehnte im Foyer an der Wand, in einem kurzen, schwarzen Kleid, in derselben Farbe wie die Fahnen, die über die Balustrade der Wiener Oper gehängt werden, wenn ein Tenor seinem lange verstummten Gesang ins Grab gefolgt ist. In der Hand hatte die Frau eine Zigarette wie ein Metronom hin und her bewegt, während sie sich im Zuschauerraum umsah, ob sie dort jemanden finden könnte, der ihr Feuer gab."
Richard Swartz’ parabelhafte Erzählungen von Triebhaftigkeit, Lügen und Verrat provozieren aufgrund ihrer kalten Rhetorik. Doch sollte man sich von dieser äußeren Fassade nicht täuschen lassen. Dahinter verbirgt sich ein narrativer Grundriss, der die Spielregeln großstädtischer Zivilisation schonungslos entlarvt und auch die angewandte männliche Erzählperspektive grundsätzlich infrage stellt.
Richard Swartz: "Notlügen"
aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Carl Hanser Verlag, München 2012
Die schwedische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel "Vita lögner" bei Norstedts in Stockholm.
"Wir eilen zu den uns auferlegten Arbeiten und Vergnügungen, aber in Berlin spazieren gehen, das getrauen wir uns nicht."
Schrieb Hessel in seiner Anleitung zur Flanerie mit dem Titel "Spazieren in Berlin" und verwies damit auf die Achtlosigkeit gerade demjenigen gegenüber, den wir am meisten lieben. Seit es Metropolen gibt, ist von einer Hassliebe zwischen Stadt und Weiblichkeit die Rede.
Der schwedische Autor Richard Swartz hat sich bereits mehrfach dieser reizvollen wie befremdlichen Ambivalenz angenommen. Unter dem Titel "Notlügen" sind nun von ihm Erzählungen erschienen, die in sechs Versionen von den Missverständnissen und Seelenqualen zwischen den Geschlechtern sowie der absurden Sehnsucht nach körperlicher Nähe handeln. Sie spielen in Großstädten, die namentlich genannt werden: Prag, New York, Stockholm, Wien - dann wieder sind es nur architektonische Details, die ahnen lassen, wo sich die Protagonisten befinden.
"Groß ist sie nicht, doch durch ihr Alter unübersichtlich; der Mann hat Schwierigkeiten, sich darin zurechtzufinden. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich in den Gassen verirrt, wo immer er auch gegangen war, nach links oder nach rechts, war er zum selben Platz mit demselben Springbrunnen zurückgekehrt, wo das Wasser aus den Mündern von Amorinen und Delfinen sprudelte."
Im urbanen Labyrinth der Straßen, jenen erbauten Distanzen im öffentlichen Raum, werden Anonymität und Einsamkeit schnell zum existentiellen Problem.
"Ein Mann ist zu einem kurzen Besuch in einer fremden Stadt, für drei oder höchstens vier Tage, und damit er sich dort nicht ganz einsam fühlt, arrangiert eine Freundin für ihn eine Begegnung mit einer anderen Frau."
Da dem Mann Stadt und Frau vollkommen fremd sind, er sich beiden gegenüber ausgesetzt fühlt, greift er nach der ihm anvertrauten Frau, um so dem räumlichen wie emotionalen Niemandsland zu entfliehen. In der Berührung verschmelzen die weiblichen Körperkonturen mit der Silhouette der Stadt.
"Auf der Brücke über den Fluss gehen sie nebeneinander, und in deren Mitte, es ist eine der ältesten in Europa, legt der Mann der Frau den Arm um die Taille (…) und so hat der Mann in gemächlichem Tempo und in einer Gesellschaft, die zufälligen Besuchern nur selten vergönnt ist, die Gelegenheit, sich mit dieser Stadt bekannt zu machen."
Swartz beschreibt jenen magischen Augenblick, in dem das Fremdsein kurzzeitig eine Linderung erfährt. Während die Brücke als Teil der Stadt im Vorgang der Personifikation vertrauter erscheint, geht die weibliche Taille in das städtische Weichbild ein. Ein urbanes Gedächtnis wird begründet, das die späteren Erinnerungen steuern wird. Das weibliche Prinzip wird dabei allerdings ausgeblendet.
"Gerade so, wie sie sich an diesem Abend ausnimmt, wird die Stadt ihm im Gedächtnis bleiben, in genau diesem flammenden Abendlicht über Wasser und Hügeln und genau zu dieser Jahreszeit, auch lange, nachdem alles, was er mit der Stadt hätte, verbinden können, jede Bedeutung verloren hat.""
Swartz’ Protagonisten agieren wie Figuren auf einem Schachbrett, das vom Grundriss der jeweiligen Stadt bestimmt wird. Sie sind namenlos und werden "der Mann" und "die Frau" genannt. Lediglich im Abseits der Notlügen, also in der Sprache, verschaffen sie sich eine Bewegung, die ihre verschütteten Ängste, Liebe und Hass, aber auch Scham ahnen lassen. Die Anonymität und Kälte des städtischen Asphalts sind ein unsicherer Boden, der ihre Intrigen und Maskeraden zu provozieren scheint. Wobei der Erzähler den Griff zur Notlüge als moralische wie seelische Notwendigkeit entlarvt.
"der Mann will modern sein(...) Er lügt über das, was er tut und denkt (...)Das ist eine schwere Kunst, die eine ganze Menge Phantasie erfordert (...) Die Notlüge kommt über ihre Lippen, als sie beide nicht weit davon entfernt sind, fast von dem Stuhl zu fallen, auf dem sie schon zusammensitzen, und die Frau ihn ins Bett zieht, das sich nicht weit von dem Tisch entfernt befindet."
Der Erzähler spickt seine vielschichtigen Episoden mit vielen Details, die auf Orte und deren Geschichte verweisen. So wie in Alfred Döblins Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz" die Entlassung seines Protagonisten Franz Biberkopf aus der Haftanstalt Tegel in die Freiheit der Metropole die eigentliche Strafe bedeutet, wird bei Swartz das tägliche Leben in New York zum Gefängnis.
"Der Mann ertappte sich manchmal dabei, dass er in seinen zwei Zimmern auf und ab ging, als wären sie einer jener europäischen Parks mit Rasenflächen, Gipsfontänen und Kieswegen (...) Der amerikanische Traum erniedrigte ihn."
Die Stadt ist keine Kulisse bei Swartz. Sie ist der Akteur - ein Vexierbild in bedrohlicher Veränderung. Als Inbegriff modernen Lebens gefeiert, liegt auf ihr der Fluch, Sündenbabel und Dschungel des Verderbens zu sein. Die Körper seiner Bewohner werden auf dem Markt feilgeboten. Ihre Sprache ist vulgär. Und so gehört das Stereotyp der Femme fatale ebenso zu ihr wie die Hure und der Bettler.
"Ein Bettler zeigte einen verkrüppelten Arm und einen Beinstumpf und zog den Mann mit dem nicht verstümmelten Glied am Ärmel, um sofort einen Obolus zu bekommen."
Doch nicht nur animalischer Trieb und Konkurrenz beherrschen die düstere Erzählweise. Im Museum und in der Oper, in Restaurants und Cafés wird der ewige Geschlechterkampf emotionslos als zeitloses Rollenspiel inszeniert.
"Sie lehnte im Foyer an der Wand, in einem kurzen, schwarzen Kleid, in derselben Farbe wie die Fahnen, die über die Balustrade der Wiener Oper gehängt werden, wenn ein Tenor seinem lange verstummten Gesang ins Grab gefolgt ist. In der Hand hatte die Frau eine Zigarette wie ein Metronom hin und her bewegt, während sie sich im Zuschauerraum umsah, ob sie dort jemanden finden könnte, der ihr Feuer gab."
Richard Swartz’ parabelhafte Erzählungen von Triebhaftigkeit, Lügen und Verrat provozieren aufgrund ihrer kalten Rhetorik. Doch sollte man sich von dieser äußeren Fassade nicht täuschen lassen. Dahinter verbirgt sich ein narrativer Grundriss, der die Spielregeln großstädtischer Zivilisation schonungslos entlarvt und auch die angewandte männliche Erzählperspektive grundsätzlich infrage stellt.
Richard Swartz: "Notlügen"
aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Carl Hanser Verlag, München 2012
Die schwedische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel "Vita lögner" bei Norstedts in Stockholm.