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Erzählung ohne Ende

Der Klappentext bezeichnet "Ein Sommer, der bleibt" zwar provokant als Roman. Doch eigentlich handelt es sich bei der Produktion - denn auch ein Hörbuch ist sie nicht - um ein literarisches Wunderwerk: Ohne Manuskript, einzig anhand eines vorgeschlagenen Konzepts, bietet Peter Kurzeck auf vier CDs eine Meisterleistung der freien Erzählung. Er nimmt uns mit in "das Dorf seiner Kindheit", in sein Leben als Flüchtlingsjunge in der frühen Bundesrepublik.

Von Daniela Seel | 13.01.2008
    Drei Jahre alt ist der böhmische Flüchtlingsjunge Peter, als er 1946 mit seiner Mutter und Schwester das kleine hessische Dorf Staufenberg bei Gießen erreicht. Sechzig Jahre später ist aus dem Flüchtlingskind der Autor Peter Kurzeck geworden. Auf vier CDs können wir nun etwas davon erfahren, wie das vor sich ging. "Ein Sommer, der bleibt" heißt die Produktion des Berliner Labels supposé, und man möchte sie nicht Hörbuch nennen, so weit ist sie von allem entfernt, was der Begriff Hörbuch gemeinhin meint.

    Auf "Ein Sommer, der bleibt" liest kein Schauspieler von einem fertigen Buch ab und kein Autor aus seinem Manuskript vor. Nein, hier erzählt einer - und schon das allein wäre eine Sensation - in freier Rede, "erzählt", wie es im Untertitel heißt, "das Dorf seiner Kindheit". Vor dem Ohr des Hörers entspinnt sich damit Literatur, die in dem Moment zur Sprache kommt, in dem sie entsteht. 59 Tracks umfasst "Ein Sommer, der bleibt", 59 Geschichten über das Leben im Dorf, das Leben als Flüchtlingskind, das Leben in der frühen Bundesrepublik.

    Das bringt eine ganze Welt hervor, indem es vom Nächsten spricht, und ist anrührend, ohne je sentimental zu sein. Wir hören vom Mohnmühlchen und von den alten Leuten im Dorf, von Flüchtlingsfamiliengemeinschaftswohnungen, von Landwirten, die auch als "Buderus-Knechte" zur Schichtarbeit in die Fabrik gehen müssen, von ersten Einkaufsfahrten und von Peters Hund Rolf, für den er nie die Hundesteuer bezahlen kann. Wir hören vom Gießener Teufelslustgärtchen und von Büchern, die ein Leben lang reichen, und auch von Afrika, ohne das bald zu sehen sich Peter und sein Freund Manfred ihr Leben nicht vorstellen können.

    Die Sätze, die Peter Kurzeck findet, folgen gleichermaßen dem Atemfluss und Rhythmus seiner Stimme wie dem Flackern der Erinnerung. Manche Sätze und Gedanken reißen unwillkürlich ab, andere drängen hervor, wollen gleich gesagt sein. Und doch gelingt es ihm immer wieder auf wunderbare Weise, die Fäden zusammenzuführen, aus einer Beobachtung Funken der Erkenntnis zu schlagen und beim erzählenden Nachdenken Geschichten und Geschichte ineinander zu überführen, sie in gegenseitiger Bedingtheit auseinander hervorgehen zu lassen.

    Im Mikrokosmos des Dorfes Staufenberg werden so biografische, sozialgeschichtliche und auch weltgeschichtliche Verläufe in konkreten Personen und ihren Geschichten lebendig und nachvollziehbar. Die geschilderten Personen aber sind, so wie sie geschildert werden, zu literarischen Figuren geworden, die in dieser Form nur hier, in der Literatur, existieren, auch wenn ihnen tatsächliche Erlebnisse zugrunde liegen.

    Peter Kurzeck selbst hat sein Werk daher mit dem schönen Begriff der "Beschwörung" bezeichnet. Er erzählt dabei mit einer überwältigenden Fülle an Details und aus einer so stupenden Beobachtungsgabe heraus, die ihre Gegenstände auch in Augenblicken der Schwäche nie der Lächerlichkeit preisgibt, dass man immer weiter zuhören möchte, dass man sich das Dorf, die Kindheit, das Leben, die Welt von Peter Kurzeck immer wieder erzählen lassen möchte.

    Vielleicht ist es genau diese Kunst der Erinnerung aus der Not des Flüchtlings und der Verlusterfahrung, die Peter Kurzeck zu dem einzigartigen Chronisten seiner selbst und seiner, unserer Zeit hat werden lassen, als der er sich in "Ein Sommer, der bleibt" einmal mehr zeigt. Das können wir nicht wissen, uns aber doch so erzählen. Oder vielleicht können wir auch Wissen genau in dieser Flüchtigkeit als etwas begreifen, das nicht schon gegeben ist, sondern immer wieder gerade erst hervorgebracht werden muss.

    Denn von Peter Kurzeck erfahren wir eine Kunst, die die großen Fragen nach dem Ursprung von Welt und Ich aus Welterzählung und Icherzählung und nach der unauflöslichen Verstrickung von Erfahrung und Erfindung, Identität und Inszenierung, von Zufall und Setzung, Komposition und Improvisation zugleich stellt und im Konkreten ihrer Poesis, also ihrer Herstellung im Gang des Gemachtwerdens, deren Zeugen wir sind und doch nicht sein können, einfach aufhebt.

    Ein besonders schönes Bild für dieses Verfahren findet sich in den Episoden, die von der Begegnung mit der Musik der amerikanischen Besatzer handeln. Diese Musik, der - meist afroamerikanische - Jazz und Blues der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre, und die, in den Augen vieler Zeitgenossen, häufig zwielichtigen Orte, an denen sie stattfand, die kleinen Army-Clubs mit ihrem schäbigen Mobiliar, schummrigen roten Licht, ihrem Schwarzmarkthandel an Zigaretten, Bluesplatten oder Miederwaren, mit ihren Tanzmädchen und den GIs, die in übergroßen Wagen herumfuhren, als noch kaum ein Deutscher ein Auto besaß, und die Dollars am Zahltag, der ein Festtag war, in dicken, geklammerten Bündeln bei sich trugen, um sie freigiebig gegen ein paar Stunden Lebenslust einzutauschen, öffneten Peter Kurzeck, wie manchem, die Tür zu einer anderen, freieren, aber auch ungesicherteren, zu einer Welt, die weit über ein Dorf hinausreicht.

    Der Jazz mit seinen Improvisationen, die doch ohne gewisse Spielregeln und Patterns nicht möglich wären, entspringt und entfaltet sich aus dem glückenden Moment, aus dem Spannungsverhältnis von Gewohntem und dessen Überschreitung, aus dem heraus erst Neues erwachsen kann - und aus dem Zusammenspiel und der Interaktion mit anderen, den Musikern wie auch dem Publikum.

    Und so stellt "Ein Sommer, der bleibt" - im Klappentext provokant als Roman bezeichnet - auch noch einmal neu die Frage danach, was die Form Roman heute überhaupt sein und ausmachen könnte. Peter Kurzecks Instrument ist die Stimme, seine Beschwörung auch ein magisches Ritual. In seiner Stimme, wenn wir ihm nur zuhören, steht die Welt still, dehnt sich der Moment über sich selbst hinaus. Das Leben wird zu einem einzigen langen Augenblick, in dem alles zueinander rückt, in dem in dem einen jeweils betrachteten Gegenstand schon alles enthalten ist.

    In "Ein Sommer, der bleibt" bindet Peter Kurzeck unseren Schmerz über die Vergänglichkeit durch die Wiedererlangung des Augenblicks, der nie vergeht. Und solange er nicht vergeht, solange er anhält, hält er uns, sind wir sicher, unerreichbar für Feind und Gefahr, verschont. Es ist gerade nicht das faustische "Verweile doch, du bist so schön", das hier angerufen wird und Resonanz im Hörer erfährt, sondern das immer wieder Anlaufnehmen des glücklichen Sisyphos, das immer wieder neu Ansetzen, das Wieder-Holen und damit wieder und neu Erlangen dieses Moments im flüchtigen Auf und Ab der Stimme, des Atems - eine große Feier des Augenblicks und seiner Vergänglichkeit.

    Und so wirft die Flüchtigkeit der mündlichen Form, die einmal seine ursprüngliche war, auch ein neues Licht zurück auf die schriftlichen Formen des Romans. Peter Kurzecks Romane erscheinen im Frankfurter Stroemfeld Verlag, neben den historisch-kritischen Werkausgaben etwa von Hölderlin, Kafka, Gottfried Keller. In diesen Ausgaben wird deutlich, wie sehr auch das Schriftliche bei diesen Dichtern nur vorläufig Gebundes war, das immer wieder überarbeitet werden musste, und dass auch eine Druckfassung letztlich keine endgültige sein, sondern nur ein gewisses Stadium innerhalb eines vielleicht unabschließbaren Prozesses abbilden kann.

    Die Erzählung, die Dichtung, die Wiedererfindung der Welt durch Literatur, wie die Literatur selbst, können kein Ende finden, zu keinem endgültigen Schluss kommen. Und auch Peter Kurzeck hat seinen zuerst 1987 erschienenen und im Herbst 2007 neu aufgelegten Roman "Kein Frühling" für die Wiederauflage umfangreich überarbeitet und um mehrere Kapitel ergänzt. "Ein Sommer, der bleibt" knüpft in seiner Oralität an ursprüngliche literarische Formen an und bindet die aus der Speicherfunktion von Schrift und Druck hervorgegangenen Romanformen über die heute möglichen Audiospeicherverfahren an sie zurück.

    Eine ungeheure Erweiterung des heute Romanmöglichkeiten ist damit angestoßen. Ihre so hinreißend gelungene Verwirklichung in "Ein Sommer, der bleibt" verdankt sich dabei gleichermaßen dem Erzähler Peter Kurzeck, moderner Technologie - angefangen bei der Aufnahmetechnik über umfangreichen Schnitt bis hin zum sorgfältigen Arrangement des so bearbeiteten Materials zum fertigen Produkt - und insbesondere auch der künstlerischen Akribie von supposé-Betreiber Klaus Sander. In seinen Produktionen glückt es ihm nämlich immer wieder auf staunend machende Weise, diesen mitunter immensen Aufwand in eine quasi ideale Suggestion von Authentizität zu überführen.

    Er arbeitet damit an einer prekären medialen Schnittstelle, macht über die Gehalte seiner Produktionen hinaus immer auch Fragen nach den Herstellungsbedingungen und -prozessen dieser Gehalte für den Rezipienten fruchtbar, er setzt gewissermaßen unsere unmittelbare Wahrnehmung der produktiven Reibung an ihrer Gemachtheit und im Vollzug dessen der Lust am Erkenntnisgewinn an ihr aus. Konsequenterweise sieht Klaus Sander sich, nach dem Produktionsverfahren befragt, denn auch näher an der Arbeit eines Dokumentarfilmers und lehnt die Bezeichnung Verleger für sich ab.

    Im Programm von supposé - das von historischen Originalaufnahmen von Einstein bis Schönberg und Hubert Fichte, über Audiophilosophie und erzählte Wissenschaft, grandiose Hörschätze zu bieten hat - finden nicht Autoren zu einem Verlag, sondern Klaus Sander fragt nach umfangreicher Recherche gezielt Menschen an, um sich von ihnen etwas erzählen zu lassen, was nur sie so erzählen können. Und auch wenn er selbst auf den CDs nicht zu hören ist, ist er doch als der Gesprächspartner und Zuhörer bei der Aufnahme, als Initiator, Produzent und Arrangeur im Stillen präsent.

    Schon in früheren supposé-Produktionen, in denen namhafte Wissenschaftler wie der Bienenforscher Jürgen Tautz, der Bioniker Werner Nachtigall, der Riechforscher Hanns Hatt oder die Philosophen Friedrich Kittler und Jean Baudrillard - letzterer wohlgemerkt auf Deutsch - ohne zuvor angefertigtes Manuskript, nur auf der Grundlage eines vorgeschlagenen Konzeptes, frei erzählen, hat Klaus Sander es verstanden, sie zu einer Vermittlungsfähigkeit und Kunstfertigkeit der Rede zu bringen, die sie sich womöglich selbst nicht zugetraut hätten. Auch das ist, es kann nicht anders gesagt werden, eine Kunst. Die Kunst der Erzählung aber ist hier begriffen als die Kunst der Zugänglichmachung von Welt und Welterfahrung überhaupt.

    Erst durch Erzählung wird Welt verstehbar und verständlich. Diese Kunst der Erzählung aus dem glückenden Moment heraus bedarf dabei, um zu sich zu kommen, der achtsamen Aufmerksamkeit ebenso wie der sorgfältigen Vorbereitung und Übung, aufseiten des Produzenten wie aufseiten des Erzählenden. Die Bindung des Vorausgesetzten und seine überschreitende Weitung hinein in das neu und wie nie zuvor sich Ereignende zeichnen diese Kunst aus. Peter Kurzeck hat in ihr eine Meisterschaft erreicht, die in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur ohne Vergleich ist.

    Mit ihm ist supposé in "Ein Sommer, der bleibt" ein weiterer, konsequenter Schritt in der Ausgestaltung einer Ästhetik der freien Erzählung gelungen. Sie beruht auf der Erfahrung von supposé wie auf Werk, Meisterschaft und Erfahrungen Peter Kurzecks. In ihrem Zusammentreffen auf den vier CDs von ein "Ein Sommer, der bleibt" schaffen sie ein literarisches Wunderwerk, an dem wir - staunend und hungrig - teilhaben dürfen. Peter Kurzeck erzählt von der Welt, wie wir es noch nie gehört haben. Ihm zuzuhören, öffnet den Horizont, lässt uns verstehen und macht glücklich.

    Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit, supposé, Berlin 2007,
    4-CD-Box, 34,80 Euro