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Erzählungen eines Skandalautors
Von blutgierigem Liebestaumel

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms erzielte der passionierte Bürgerschreck Hanns Heinz Ewers Riesenauflagen, das Bürgertum schockierte er mit Texten, die um sexuelle Entgrenzungen kreisten. Eine in der "Anderen Bibliothek" erschienene Auswahl seiner Erzählungen zeigt jetzt eine echte Wiederentdeckung.

Von Oliver Pfohlmann |
    Eine Frau mit einem teilweise transparenten Rock steht mit High-Heels an einer rot beleuchteten Bar und unterhält sich mit einem Mann.
    Das Fantasma von der Femme fatale, der dämonischen Verführerin: auch ein Motiv in den Erzählungen von Hanns Heinz Ewers. (picture-alliance / dpa / Jens Kalaene)
    "Die Tomatensauce": Schockierender könnte eine Hanns-Heinz-Ewers-Auswahl wohl kaum beginnen als mit dieser Erzählung aus dem Jahr 1905. Denn so harmlos der Titel klingt, so drastisch-explizit ist der Inhalt: ein menschlicher Hahnenkampf im andalusischen Hinterland, ausgetragen mit rostigen Klingen vor einer Hetzmeute geifernder Zuschauer. Kein Wunder, dass dieser Text bei Lesungen des Autors unter den noch zarter besaiteten wilhelminischen Zuhörern für Ohnmachtsanfälle sorgte.
    Heute bekommt man natürlich längst in jedem zweiten Hollywoodstreifen spritzendes Blut und hervorquellendes Gedärm serviert, "Splatter und Gore", wie Kenner sagen. Trotzdem ist man auch heute noch nach der Lektüre von Ewers' Erzählung wie betäubt: So raffiniert zieht der Autor seinen Ich-Erzähler – und mit ihm den Leser – ins Geschehen, lässt ihn vom neugierig-fassungslosen Beobachter zum Mit-Voyeur des Gemetzels werden. Dass dem Protagonisten ausgerechnet ein Priester Zugang zu der verbotenen Veranstaltung verschafft, zeugt von Ewers' feiner Ironie. Wie sich herausstellt, ist es der Anblick von Blut, der "schönen roten Tomatensauce", die den Priester in eine Art sexuelle Ekstase versetzt.
    "Sagen Sie mal, Reverend", rief ich, "weshalb wetten Sie denn nicht?"
    Er hielt meinen Blick ruhig aus und antwortete nachlässig:
    "Ich? – Ich wette niemals: Das Wetten beeinträchtigt die reine Freude am Schauen." (S. 16)
    Moral, schrieb Ewers andernorts süffisant, sei nur „eine Angelegenheit der Geographie." Vielleicht war dieser große Amoralist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg deshalb so oft auf Reisen. Vor allem durch Süd- und Mittelamerika, auf Kosten einer Schifffahrtslinie, für die er im Gegenzug in seinen Reiseberichten schamlos Schleichwerbung machte. Man könnte sagen: Was die anbrechende Moderne für Künstler und Intellektuelle an Sensationen zu bieten hatte, das hatte der 1871 in Düsseldorf geborene Autor und Kabarettist in Windeseile ausgeschöpft und literarisch verwertet.
    Sexuelle Entgrenzungen
    Schon als Jura-Student erkundete Ewers, wenn er nicht gerade blutige Mensuren focht, das Berliner Nachtleben. Er besuchte spiritistische Sitzungen, erforschte im Umkreis des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld die menschliche Bisexualität und, natürlich, auch das kreative Potenzial von Drogen. Von psychedelischen Experimenten, verbunden mit sexuellen Entgrenzungen, erzählen auch viele seiner Texte, die dazu noch oft an exotischen Orten spielen – wie "Die Mamaloi", in der sich der Ich-Erzähler – als pädophiler Betrüger ein echter Widerling – auf Haiti mit Voodoopriestern einlässt.
    "Auch ich trank, einen Schluck erst, dann mehr und mehr. Ich fühlte eine seltene Trunkenheit in mir aufsteigen, eine wilde, gierige Trunkenheit, wie ich sie nie gekannt hatte. Ich verlor ganz das Bewusstsein meiner Rolle als unbefangener Zuschauer, ich wuchs immer mehr wie ein Zugehöriger in diese wilde Umgebung hinein. Eine wahnsinnige Lust jauchzt durch den Saal, ein blutgieriger Liebestaumel, der über alles Irdische hinauswächst. Ich sehe Männer und Weiber sich ineinander beißen, in allen Stellungen und Lagen nehmen sie sich. Ihre rasende Wollust kennt keine Geschlechter mehr, unterscheidet nicht einmal mehr lebende Wesen und tote Gegenstände.
    Haitianische Voodoozeremonie
    Angeblich wurde Ewers selbst einmal Zeuge, wie auf einer haitianischen Voodoozeremonie ein Kind geopfert wurde – so ganz sicher ist sich die Ewers-Forschung da aber nicht. Derartige Spekulationen beförderten jedoch das Image dieses zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Skandalautors. Zu Lebzeiten war Ewers ebenso berühmt wie berüchtigt: Als "deutscher Edgar Allan Poe" erzielte er mit seinen Schauergeschichten und -Romanen Riesenauflagen; 1913 schrieb er das Drehbuch für den ersten Kunstfilm der Kinogeschichte, „Der Student von Prag".
    17 seiner bedeutendsten Erzählungen haben nun die Literaturwissenschaftler Sven Brömsel und Marcus Andreas Born in einem Band für die Andere Bibliothek versammelt. Die Skandalthemen der Zeit, von Nekrophilie über Fetischismus bis zur gespaltenen Persönlichkeit, sie sind hier alle zu finden. Darunter nicht zuletzt das Fantasma von der Femme fatale, der dämonischen Verführerin: Ein Motiv, das nicht zufällig gerade in Zeiten der beginnenden Frauenemanzipation in Mode kam, so sehr verunsicherten die ersten selbstbewussten Frauen nach 1900 die Männerwelt.
    "Als ich zwanzig Jahre alt war, wusste ich bestimmt: mir kann keine Frau etwas vormachen. Als ich dreißig Jahre alt war, war ich dessen nicht mehr ganz so sicher. Heute weiß ich: Man lernt nie aus bei den Frauen. Immer neue Kunststücke hecken sie aus, um die männliche Tugend zu Fall zu bringen."
    In "Die Typhusmarie"sitzt gleich eine ganze Gruppe von Männern zu Gericht über eine weltberühmte, geheimnisvolle Künstlerin. Unzählige soll diese Marie Stuyvesant mit ihren Schriften, etwa über Narkotika, ins Verderben gestürzt haben – wenn auch ohne Absicht, wie man ihr zugesteht. Denn was für sie immer nur ästhetisches Spiel und Experiment war, wurde für die, die mit ihr in Berührung kamen, zum fatalen Vorbild. Jetzt soll sich die Angeklagte selbst das Leben nehmen, aus Einsicht und zum Wohle der Menschheit – ein Ansinnen, auf das Marie Stuyvesant nur mit Hohn und Spott reagiert: Wer nicht schon selbst den Willen zur Unmoral in sich trage, so verteidigt sie sich, könne durch sie auch nicht in Gefahr geraten.
    Man darf vermuten, dass Hanns Heinz Ewers mit diesem Kabinettstück auf den Vorwurf reagierte, seine "unzüchtigen" Schriften beförderten den Sittenverfall jugendlicher Leser. Noch ein anderer Vorwurf wird von seinen Erzählungen ausgeräumt: den der Trivialität. Dazu betreibt Ewers einfach ein zu raffiniertes Spiel mit seinen Lesern.
    Die Leute sind so töricht, sie fragen einen immer: ist denn das eine wahre Geschichte? Sagt man: ja – dann sind sie unzufrieden, weil es doch gar keine Kunst sei, irgendwas zu erzählen, was wirklich geschah. Und sagt man: nein – passt es ihn erst recht nicht. (...) Sie fühlen sich betrogen – so oder so! Die Leute sind so töricht; sie sollten doch wissen: es gibt gar keine wahre Geschichte. Eine Geschichte muss erzählt sein (...). Dann aber: es gibt auch keine gute Geschichte, die nicht wahr wäre. Wenn sie nie passierte – sie hätte doch einmal passieren können – oder sie wird passieren – morgen oder übermorgen. Darum, für die törichten Leute: nie schrieb ich eine wahre Geschichte. Und ganz sicher nie eine, die nicht wahr war."
    Hanns Heinz Ewers: "Lustmord einer Schildkröte und weitere Erzählungen."
    Zusammengestellt und mit einem Kommentar versehen von Marcus Andreas Born und Sven Brömsel.
    Berlin: Die Andere Bibliothek, 2014, 431 Seiten, 38,00 Euro.