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Erzählungen von Reinhard Kaiser-Mühlecker
Lebensbeichten aus der alpenländischen Provinz

Der österreichische Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker ist ein Phänomen. Gerade mal 33 Jahre alt, versteht er es mit Virtuosität und sprachlich feinsten Nuancierungen, seine tiefgründigen Roman-Tableaus aus der alpenländischen Provinz zu entwerfen.

Von Lerke von Saalfeld |
    Nun hat er drei Erzählungen vorgelegt. Jede dieser Geschichten umfasst rund 100 Seiten, alle spielen rund um das schon aus den Romanen "Roter" und "Schwarzer Flieder" bekannte Dorf Rosental. Das bäuerliche und kleinstädtische Milieu ist die Grundierung seines Erzählens, aber nicht etwa als Idylle, sondern als Ort der Unbehaustheit, der Kälte und auch der abgefeimten Intrigen. Alle drei Erzählungen sind aus der männlichen Ich-Perspektive geschrieben; alle drei Protagonisten sind Einzelgänger, Außenseiter – Männer, die schicksalhaft an eine Herkunft gebunden sind, unter der sie leiden, aus der sie sich befreien wollen und in die sie dennoch verstrickt bleiben.
    Erzählungen wie Puzzle-Steine
    Mal erzählt Kaiser-Mühlecker ruhig und poetisch dahinfließend, mal knallt es heftig an unerhörten Begebenheiten. Die erste Erzählung, überschrieben "Spuren", berichtet von einem jungen Mann, der auf dem Land als Finanzberater scheitert, der von seiner Frau verlassen wird und sich vollständig aus der Gesellschaft zurückzieht. Ihm bleibt nur die Natur, ein See und ein gegenüberliegendes Haus am See. Dort sitzt ein Mann in einem Liegestuhl auf der Terrasse, scheinbar reglos, ausgeliefert der heimlichen Beobachtung durch die Ich-Figur, die mit Hilfe eines Fernglas dem Fremden zu Leibe rückt – warum, das bleibt offen:
    "Ich war von den Bäumen und von einem hohen Beifußstrauch geschützt und konnte den leichten Wind nicht spüren, der aufgekommen war, wie ich an der Wasseroberfläche sah, die von Südwesten nach Nordosten getrieben wurde. Die Wellen schlugen gegen das Ufer, einmal rhythmisch, dann wieder unrhythmisch, und es klang, als spielt jemand auf einem Xylophon aus Wasser. Ich warf ein paar Steine, schwer plumpsten sie in den See. Am Ufer bildete das Wasser einen schmalen, bräunlichen Saum, ein wenig weiter draußen bekam es einen gelblichen Ton, noch weiter draußen wurde es tiefgrün, bevor es sich schließlich ins Tiefblau bis ans andere Ufer erstreckte."
    Das klingt beschaulich, aber nur vorübergehend. Von einem Wirt erfährt der Ich-Erzähler, der Vater des beobachteten Mannes wurde von den Einheimischen per Lynchmord mit Heu- und Mistgabeln zu Tode gebracht, weil er nicht in den Ort passte. Und warum beobachtet die Ich-Figur den Mann auf der Terrasse, darauf gibt Kaiser-Mühlecker eine für ihn typische lakonische Pseudo-Erklärung am Ende der Geschichte:
    "Hatte ich, fragte ich mich manchmal, es denn nicht schon von Anfang an instinktiv gewusst, zumindest geahnt, dass er mein Halbbruder, der dritte und jüngste Sohn meiner Mutter war? Hatte ich nicht deshalb seine Nähe gesucht und ihn mit dem in der Sonne blinkenden Fernglas beobachtet? Es musste so gewesen sein."
    Dem Leser obliegt es, die Puzzle-Steine zusammenzutragen, sich an kleine, scheinbar nebensächliche Bemerkungen zu erinnern, um das überraschende Ende der Erzählung zu verstehen.
    Der Erzählung "Male" fehlt die Form
    Verstörend ist die zweite Erzählung mit dem Titel "Male". Ein alter Bauer liegt sterbend im Bett, der Ich-Erzähler, der den Alten als Kind gefürchtet und gehasst hat, soll sich seine Geschichte und Lebensbeichte anhören - nolens, volens. Alle sind irgendwie verflucht, böse, hinterhältig; die Alten sind wie die Jungen eine verlorene Generation. Eine Reihe von Indizien: Namen, Orte, Begebenheiten, lassen den Verdacht aufkommen, diese Erzählung ist ein Abfall-Produkt der Flieder-Romane, fand keinen Eingang mehr, weil gekürzt werden musste. Nun liegt so ein Brocken da, der Autor will nicht darauf verzichten, aber eine stimmige Erzählung wird daraus nicht. Zu viele Fäden hängen in der Luft, bedeutungsschwangere Anspielungen häufen sich und bleiben nebulös. Es fehlt die Form, die Kaiser-Mühlecker sonst so meisterlich zu beherrschen weiß.
    "Zeichnungen" liest sich wie ein packender Krimi
    In der letzten Erzählung "Zeichnungen" wird der Leser wieder mit dem Autor versöhnt. Auch diese Geschichte ist eine Lebensbeichte, in einem Brief an einen Fremden mitgeteilt. Die Ich-Figur erfährt als Jugendlicher durch den Dorfklatsch, dass sein Vater gar nicht sein wirklicher Vater sei. Der Junge befragt seinen Vater, der schweigt, also stimmt das Gerücht, und der Jugendliche verlässt am nächsten Tag den großen Hof, den er eigentlich erben sollte. Er wollte kein Leben in Schande. Da er aus begütertem Hause stammt, hat der junge Mann für ein Jahr genug Geld zum Existieren. Der Begriff "Zeichnung" meint so etwas wie einen Lebensplan. Die alte Zeichnung als Erbe des Hofes ist für den jungen Steinau, so sein Name, hinfällig geworden. Das Geld zerrinnt ihm schneller zwischen den Händen als vorgesehen, nach einem halben Jahr ist er bankrott:
    "Ich sah keine Zeichnung mehr und doch war ich der festen Überzeugung gewesen, es müsse eine geben. Aber woher diese Überzeugung? Einfach daher, weil es immer eine Zeichnung gegeben hatte; es war eine Überzeugung, die aus Gewohnheit kam und durch Gewohnheit in mir verankert war. Von klein auf hatte ich in dem Bewusstsein gelebt, dass mir alles zustehe. Alles würde einmal mir gehören. Das war meine Zeichnung. Obwohl nichts mehr mir gehörte, weil ich mit meinem Weggehen auf alles verzichtet hatte, lebte ich immer noch in diesem Bewusstsein – oder: lebte dieses Bewusstsein noch in mir. Plötzlich bemerkte ich, wie es zerbröckelte. Nichts mehr stand mir zu. Es gab keine weitere solche Zeichnung. Diese Erkenntnis erschreckte mich, und ich fühlte mich, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen."
    Steinau muss einen neuen Plan entwerfen, muss sein Leben neu gestalten und Arbeit finden. Auf Umwegen gerät er an den allseits geachteten Unternehmer M., wird schließlich seine rechte Hand, heiratet die verschmähte Tochter des Unternehmers, bootet seinen Rivalen in der Firma aus, wird selbst der Nachfolger des alten Firmenchefs. Alles scheint stimmig zu sein, Steinau ist ein Erfolgsmensch geworden – so wie ihm früher alles zuzustehen schien, so hat er sich nun Ansehen und Karriere erobert.
    Aber nichts stimmt in diesem Leben. So wie Steinau die Menschen rücksichtslos zu seinem Vorteil benutzt, so wird auch er zum Handlanger dunkler Geschäfte degradiert; der alte M. hat ihn durchschaut, seine Frau hat ihn durchschaut, er lädt einen Mord auf sich, um seine skrupellosen Pläne zu verwirklichen. Diese Geschichte erzählt Kaiser-Mühlecker mit höchster Intensität wie einen packenden Krimi. Dabei geht es weniger um den Mord, sondern um die Frage, gibt es ein aufrichtiges Leben, wie lassen sich die Schatten der Vergangenheit auflösen und berechtigt das Dasein zu Hoffnungen oder ist alles vergebens. Man liest diese Geschichte mit atemloser Spannung, ist fasziniert von der sprachlichen Gewandtheit des Autors. Aber dann folgt leider eine Auflösung, die verstimmt: Der alte Unternehmer M. ist der unbekannte Samenspender für die Geburt Steinaus. In seiner wilden Jugend hat der Alte die Mutter von Steinau verführt. Steinau und seine Frau sind also Halbgeschwister – eine Auflösung wie auch in der ersten Erzählung. Diese Wendung ist für Kaiser-Mühlecker zwar typisch, aber irgendwie auch plump, eleganter wäre die Lebensbeichte gewesen ohne diese makabre Zutat.
    Reinhard Kaiser-Mühlecker: "Zeichnungen" – drei Erzählungen
    S.Fischer Verlag, 301 S., 19,99 Euro