In keinem Bundesland gibt es so viele junge Menschen, die die Schule ohne Abschluss verlassen, wie in Sachsen-Anhalt. Im letzten statistisch erfassten Schuljahr 2018/19 haben 11,4 Prozent aller Schulabgänger kein Abschlusszeugnis in Empfang nehmen konnten, also jeder Neunte eines Jahrgangs. Das Schulabbrecherniveau in Sachsen-Anhalt ist hoch – und zwar schon seit langem. Raphaela Porsch, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Magdeburg, beginnt nun im Auftrag des Landesbildungsministeriums mit einer neuen Studie. Sie soll ermitteln, was erfolgreiche und weniger erfolgreiche Schulen in Bezug auf Merkmale der Schulen, der Lehrkräfte und des Unterrichts ausmachen.
Thekla Jahn: Welche Gründe sind erkennbar für die seit langem schon so hohen Schulabbrecherzahlen in Sachsen-Anhalt?
Raphaela Porsch: In einem besonders hohen Maße hat sich in den letzten Jahren die Heterogenität an den Schulen erhöht, nicht zuletzt ja durch die Zuwanderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig hat Sachsen-Anhalt wie viele andere Länder auch mit einem Lehrermangel zu kämpfen. Und qualitätsvoller Unterricht und vertrauensvolle Schüler-Lehrer-Beziehungen, die natürlich Schulabschlüsse begünstigen, sind ja nur dann zu gewährleisten, wenn ausreichend Pädagogen an den Schulen arbeiten. Kurz: Das Thema berührt viele weitere Themen, die das Land gerade bearbeitet, und unsere Studie soll dazu einen Beitrag leisten, um belastbare Befunde zu liefern, die dann hoffentlich auch zu Maßnahmen an den Schulen führen.
Corona verstärkt das Problem
Jahn: Jetzt haben Sie schon einige Gründe genannt für die hohe Schulabbrecherzahl in Sachsen-Anhalt, jetzt in diesem Corona-Schuljahr 19/20 hat sich die Situation möglicherweise noch mal verschärft aktuell?
Porsch: Davon würde ich ausgehen. Gleichzeitig hat man, das muss ich dazusagen und das ist mir auch nicht bekannt, keine Langzeitstudie gemacht. Da hätte man sozusagen Leistungen vor dieser Zeit und dann jetzt noch mal erfassen müssen. Aber man wird natürlich zu einem bestimmten Zeitpunkt sehen – sei es im Rahmen der Vergleichsarbeiten oder in internationalen Vergleichsstudien Iglu oder Pisa, wie unser Schulsystem und wie die Schülerinnen aus dieser Situation herausgehen.
Leistungsniveau ist kein Indikator
Jahn: Gibt es den Schulabbrecher, die Schulabbrecherin?
Porsch: Nein, den gibt es nicht. Man kann auf Grundlage verschiedener Studien schon sagen, das ist ganz gut erforscht worden, dass es sehr unterschiedliche Gründe gibt. Ich nenne noch mal ein Beispiel: Der Außenseiter ist eben jemand, der durchaus über hohe Leistungen verfügt, aber sich eben in das System Schule sich nicht integrieren kann. Das ist natürlich ein ganz anderer Grund als der des Schulversagers, also Schülerinnen und Schüler, die über sehr geringe Leistungen verfügen, über wenig Motivation. Das muss man natürlich unterscheiden, und diese individuellen Merkmale, die hat man sehr gut erforscht.
Defizitorientierung von Lehrkräften wirkt sich negativ aus
Jahn: Bisherige Studien haben sich ja zum einen mit der Persönlichkeit eines Schulabbrechers beschäftigt, aber auch mit dem persönlichen und familiären Hintergrund. Aber daraus haben sich offenbar die entscheidenden Handlungsstrategien entwickeln lassen, die notwendig sind. Warum nicht?
Porsch: Die meisten Bundesländer, auch Sachsen-Anhalt, die haben durchaus darauf reagiert, indem man beispielsweise an den Schulen für Lehrkräfte und für Schülerinnen und Schüler Schulsozialarbeiter eingestellt hat. Das ist ja schon eine sinnvolle Maßnahme. Aber man muss auch sagen, dass es natürlich auch andere Gründe gibt. Man weiß aus Forschung zu Schülerinnen und Schülern beziehungsweise Schulen in herausfordernden Lagen, dass es auch andere Merkmale gibt - insbesondere, dass Lehrkräfte eine eher Defizitorientierung haben, und das wirkt sich negativ auf ihr professionelles Handeln aus.
Entsprechend - noch mal zurück zu unserer Studie: Wir wollen ermitteln, was erfolgreiche und weniger erfolgreiche Schulen in Bezug auf Merkmale der Schulen, der Lehrkräfte und des Unterrichts ausmachen. Beispielsweise gibt es an Schulen mit weniger Schulabbrecherinnen und Schulabbrechern mehrheitlich Lehrerinnen, die eben nicht defizitorientiert sind, sondern sich als selbstwirksam und engagiert ansehen. Gibt es klare gemeinsame Vorgaben für den Umgang mit Schulabsentismus? Nach meiner Kenntnis hat man das in der Forschung bislang zu wenig berücksichtigt. Und viel wichtiger: Dieses Wissen ermöglicht eher, dass praktische Maßnahmen in der Folge ergriffen werden können, denn die Zusammensetzung der Schülerschaft, die können wir ja nicht ändern.
Schon bei Schuleschwänzen intervenieren
Jahn: Haben Sie schon Ideen, gibt es in der Bildungsforschung Idee, wie denn Lehrkräfte und Schulleitungen gegensteuern können, damit es nicht zu Schulabbrüchen in der großen Zahl wie in Sachsen-Anhalt kommt?
Porsch: Ein Aspekt ist ein rein praktischer. Was häufig vorausgeht, ist ja Schulabsentismus, also umgangssprachlich schwänzen. Und wir fragen zum Beispiel, inwieweit da Konzepte von Schulen vorliegen, ein Regelwerk, und möchten natürlich oder es ist natürlich günstig, wenn sich alle Lehrkräfte an der Schule auch danach richten und dieses Regelwerk auch verbindlich ist. Das heißt, da wird dann sofort interveniert, da wird beispielsweise mit den Schülerinnen und Schülern gesprochen und so weiter. Und das ist natürlich vielleicht auch eine Maßnahme, die hilft, um schnellstmöglich daraus Schlussfolgerungen zu ziehen und mit natürlich weiteren Akteuren wie Schulsozialarbeiterinnen oder auch den Eltern, den Schülerinnen und Schülern selbst, mit Lehrkräften eine Lösung zu finden.
Schulabschluss an Förderschulen erstrebenswert
Jahn: Gibt es in Sachsen-Anhalt, wo die Schulabbrecherzahl die höchste in Deutschland ist, möglicherweise auch strukturelle Probleme, die als Ursache infrage kommen?
Porsch: Es gibt wie gesagt einen sehr hohen Migrationsanteil beziehungsweise einer, der sehr deutlich gestiegen ist im Vergleich zu, ich sage mal, vor zehn Jahren. Darauf war vielleicht Sachsen-Anhalt noch nicht so gut vorbereitet, andererseits muss ich dazu auch sagen, dass es eben so ist, dass – anders als in anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen – man an Förderschulen leider bislang keinen Hauptschulabschluss erwerben kann, was möglicherweise auch dazu führt, dass diese Zahl etwas höher ist als vielleicht in anderen Bundesländern. Da muss es natürlich noch Diskussionen geben, ob man diese Situation rein rechtlich auch an den Förderschulen verändert und wie man da Schülerinnen und Schüler dazu bringen kann, dass sie entsprechend mit einem anerkannten Schulabschluss auf dem Arbeitsmarkt landen.
Jahn: Also ein Plädoyer dafür, dass Förderschulen in Sachsen-Anhalt einen Hauptschulabschluss ermöglichen?
Porsch: Das wäre gut aus meiner Sicht, ja.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.