Mario Dobovisek: Keine zwei Monate ist die Sozialistische Partei Bulgariens an der Macht, doch die Regierung von Premier Plamen Orescharski steht bereits massiv unter Druck. Mit wütenden Protesten fordern viele Bulgaren den Rücktritt der Regierung, Änderungen im Wahlgesetz und schnellstmöglich Neuwahlen. Zum zweiten Mal in diesem Jahr könnte damit eine bulgarische Regierung unter dem Druck der Straße zusammenbrechen. Anfang des Jahres löste die Empörung über hohe Stromrechnungen eine landesweite Protestwelle aus, die den rechtspopulistischen Premier Borissov aus dem Amt jagte. Doch was steckt heute dahinter? Darüber reden wollen wir mit Marco Arndt, er leitet das Büro der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia. Guten Morgen, Herr Arndt!
Marco Arndt: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Vorgestern Abend saßen Minister, Abgeordnete und Journalisten stundenlang im Parlamentsgebäude fest, weil Demonstranten es blockierten. Warum kommt Bulgarien nicht zur Ruhe?
Arndt: Sie haben ja vorhin schon gesagt, dass es im Februar Proteste gegeben hat. Das waren Sozialproteste, die sich an der Erhöhung der Strompreise entzündet hatten. Die Proteste jetzt sind komplett anders und es sind auch komplett andere Menschen auf der Straße. Diese Menschen demonstrieren nicht aus wirtschaftlichen Gründen oder aus einer sozialen Notlage heraus, sondern diesen Menschen geht es darum, dass die Regierung sich an europäische Wertestandards hält. Es sind also Werteproteste, die jetzt dort gefordert werden oder die jetzt auf der Straße sind.
Dobovisek: Wogegen konkret protestieren die Menschen?
Arndt: Entzündet hat sich die Protestwelle vor 40 Tagen, also Ende Juno, an der Ernennung eines Medienoligarchen, der eigentlich im Bereich der Printmedien eine Monopolstellung hat, und die Regierung hat versucht, diesen Medienoligarchen zum Chef des Inlandsgeheimdienstes zu machen, wobei vorher der Inlandsgeheimdienst noch verstärkt wurde in seinen Kompetenzen durch die Auslagerung der Abteilung, die gegen organisierte Kriminalität vorgehen soll, vom Innenministerium in diesen Inlandsgeheimdienst hinein. Und dieses Gesetz wurde extra noch mal geändert, damit es auf die Person dieses Medienoligarchen passt, weil er eigentlich nicht die Voraussetzungen hatte, die persönlichen, um Inlandsgeheimdienstchef zu werden. Daran hat sich dann die Protestwelle entzündet, weil man hier den Bock zum Gärtner machen wollte, und die Menschen waren sofort auf der Straße, zwei, drei Stunden, nachdem das bekannt war, und seitdem sind die Proteste auch nicht mehr abgeebbt, weil man befürchtete, dass diese Ernennung eigentlich nur der Beginn einer ganzen Reihe von Personaländerungen ist, die ähnlich verlaufen würden in Spitzenpositionen.
Dobovisek: Es sind andere Menschen, sagen Sie, als noch im Februar, als noch im Frühjahr, die auf die Straße gehen. Wer geht da gerade auf die Straße? Ist das ein Spiegel der Gesellschaft, oder nur einzelne Gruppen?
Arndt: Das ist das, was man in Europa eigentlich gerne als Zivilgesellschaft bezeichnet. Es sind sehr junge Menschen, es sind gut ausgebildete Menschen, es ist die Mittelschicht, die sagen, wir sind diejenigen, die Steuern zahlen, also gerade nicht das, was im Februar gesehen wurde, dass es arme Menschen sind, sondern das sind diejenigen, die eigentlich die Leistungsträger sind, die die Leistungseliten sind, die sich aber wie gesagt jetzt diese Regierungspolitik nicht mehr gefallen lassen wollen.
Dobovisek: Was bedeutet das für die Demokratie in Bulgarien, wenn Sie sagen Zivilgesellschaft? Ist das gut, ist das schlecht?
Arndt: Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich habe gar nicht gewusst, dass es diese Klientel mittlerweile gibt, und ich glaube, die Regierung hat das auch nicht gewusst, dass es diese Menschen gibt. Sonst hätte sie nicht so dreist versucht, ihre Personalpolitik, die ich vorhin geschildert habe, durchzusetzen. Das hat alle sehr gewundert, dass Menschen nicht für ihre eigenen Interessen auf die Straße gehen, sondern für den Staat, für eine gute politische Entwicklung, für "good governance", wie man das ja so bezeichnet. Das hat alle überrascht und ich freue mich, dass diese Zivilgesellschaft sich entwickelt hat, wenn auch noch erst mit kleinen Wurzeln, ein zartes Pflänzchen. Aber das macht Hoffnung für Europa und ich glaube, dass diese Entwicklung auch dadurch gekommen ist, dass Bulgarien vor fünf Jahren Mitglied der Europäischen Union geworden ist.
Dobovisek: Ist das ein nachhaltiger politischer Prozess, den wir dort beobachten, oder könnte der auch genauso in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen wieder abebben?
Arndt: Die Entwicklung hin zu einer Zivilgesellschaft, zu mehr Wertebewusstsein, zu europäischen Standards ist, glaube ich, unumkehrbar. Das liegt auch daran, dass viele Bulgaren im Ausland gearbeitet haben, viele gehen nach Deutschland, sie erleben eine andere Politik vor Ort, eine gute Politik in Westeuropa und kommen zurück und wollen natürlich diese Standards dann in Bulgarien auch umgesetzt sehen. Deshalb denke ich, dass dieser Prozess sich eher verstärken wird in den nächsten Jahren, und das ist natürlich für die Entwicklung des Landes von großer Bedeutung.
Dobovisek: Sie haben gerade erwähnt, dass der EU-Beitritt dabei auch eine große Rolle gespielt hat und eine große Rolle spielt. Es gibt aber auch Kritiker, die sagen, Bulgarien sei zu früh der Europäischen Union beigetreten. Was ist da richtig?
Arndt: Wenn Sie die formalen Kriterien zugrunde legen, dann ist es sicherlich richtig, dass Bulgarien und auch Rumänien diese Kriterien nicht in Gänze erfüllt hat, dass es von der Europäischen Union eine politische Entscheidung war, beide Staaten aufzunehmen. Wenn Sie allerdings schauen, was das bewirkt hat im Land, dann, sage ich, war es richtig. Ich habe gerade schon gesagt, es entwickelt sich eine Zivilgesellschaft. Bulgarien liegt an den Grenzen Europas. Wenn ich an den russischen Einfluss denke - der wäre wesentlich stärker im Land, als er ohnehin schon ist, wenn Bulgarien nicht in der EU wäre, ich sage nur mal Stichwort Energiepolitik. Und auch die ganze demokratische Entwicklung des Landes wäre nicht so weit, weil ja Europa und die Europäische Kommission immer noch einen Überwachungs- und Verifikationsmechanismus ausübt über Bulgarien und Rumänien, der das Land zu Reformen drängt. Ich halte den Beitritt für sehr, sehr wichtig und sehr, sehr richtig.
Dobovisek: Welche Verantwortung muss die Europäische Union jetzt in dieser Situation übernehmen?
Arndt: Viel machen kann sie nicht. Bulgarien ist ein souveräner Staat wie die übrigen 26 Staaten der Europäischen Union auch. Man kann also nur auf "sanftem Wege" Druck ausüben. Man muss mit den verantwortlichen Politikern sprechen. Frau Reding war vor zwei Tagen in Sofia, hat klare Worte gefunden, der deutsche Botschafter und sein französischer Amtskollege in Sofia haben sehr deutliche Worte gefunden, was die momentane Regierungspolitik angeht, die Bundesregierung hat sehr deutliche Worte gefunden und Europa müsste auf diesem Weg fortschreiten, den jetzigen Regierenden ins Gewissen zu reden, dass es so, wie es jetzt läuft, nicht weitergehen kann.
Dobovisek: Wird es Neuwahlen geben?
Arndt: Ich denke, auf Dauer schon. Jetzt sind auch im Regierungslager bereits die ersten bereit, darüber nachzudenken, im kommenden Mai, wenn sowieso Europawahlen anstehen, auch gleich noch mal Parlamentswahlen anzusetzen. Das würde aber bedeuten, dass man jetzt den Spätsommer und Herbst und auch das Frühjahr mit einigermaßen vernünftiger Regierungspolitik über die Runden bringen soll, und da hätte ich die Idee, dass sich die beiden größten Parteien, also die Sozialisten und die Bürgerlichen, zusammensetzen mit dem Staatspräsidenten und vielleicht so eine Art Caretaker-Parlament, also ein Expertenparlament berufen, welches überparteilich den Prozess bis Mai dann begleitet. Das hatten wir ja schon mal zwischen dem Rücktritt der alten Regierung im Februar und den Neuwahlen im Mai. Da gab es ja mal ein unabhängiges Expertenkabinett, getragen vom Staatspräsidenten, und das wäre eine Idee, wie man die Lage auch beruhigen könnte und im Mai dann noch mal einen Neustart wagt.
Dobovisek: Marco Arndt, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia, über die Protestwelle in Bulgarien. Ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen.
Arndt: Danke auch – auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Marco Arndt: Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Vorgestern Abend saßen Minister, Abgeordnete und Journalisten stundenlang im Parlamentsgebäude fest, weil Demonstranten es blockierten. Warum kommt Bulgarien nicht zur Ruhe?
Arndt: Sie haben ja vorhin schon gesagt, dass es im Februar Proteste gegeben hat. Das waren Sozialproteste, die sich an der Erhöhung der Strompreise entzündet hatten. Die Proteste jetzt sind komplett anders und es sind auch komplett andere Menschen auf der Straße. Diese Menschen demonstrieren nicht aus wirtschaftlichen Gründen oder aus einer sozialen Notlage heraus, sondern diesen Menschen geht es darum, dass die Regierung sich an europäische Wertestandards hält. Es sind also Werteproteste, die jetzt dort gefordert werden oder die jetzt auf der Straße sind.
Dobovisek: Wogegen konkret protestieren die Menschen?
Arndt: Entzündet hat sich die Protestwelle vor 40 Tagen, also Ende Juno, an der Ernennung eines Medienoligarchen, der eigentlich im Bereich der Printmedien eine Monopolstellung hat, und die Regierung hat versucht, diesen Medienoligarchen zum Chef des Inlandsgeheimdienstes zu machen, wobei vorher der Inlandsgeheimdienst noch verstärkt wurde in seinen Kompetenzen durch die Auslagerung der Abteilung, die gegen organisierte Kriminalität vorgehen soll, vom Innenministerium in diesen Inlandsgeheimdienst hinein. Und dieses Gesetz wurde extra noch mal geändert, damit es auf die Person dieses Medienoligarchen passt, weil er eigentlich nicht die Voraussetzungen hatte, die persönlichen, um Inlandsgeheimdienstchef zu werden. Daran hat sich dann die Protestwelle entzündet, weil man hier den Bock zum Gärtner machen wollte, und die Menschen waren sofort auf der Straße, zwei, drei Stunden, nachdem das bekannt war, und seitdem sind die Proteste auch nicht mehr abgeebbt, weil man befürchtete, dass diese Ernennung eigentlich nur der Beginn einer ganzen Reihe von Personaländerungen ist, die ähnlich verlaufen würden in Spitzenpositionen.
Dobovisek: Es sind andere Menschen, sagen Sie, als noch im Februar, als noch im Frühjahr, die auf die Straße gehen. Wer geht da gerade auf die Straße? Ist das ein Spiegel der Gesellschaft, oder nur einzelne Gruppen?
Arndt: Das ist das, was man in Europa eigentlich gerne als Zivilgesellschaft bezeichnet. Es sind sehr junge Menschen, es sind gut ausgebildete Menschen, es ist die Mittelschicht, die sagen, wir sind diejenigen, die Steuern zahlen, also gerade nicht das, was im Februar gesehen wurde, dass es arme Menschen sind, sondern das sind diejenigen, die eigentlich die Leistungsträger sind, die die Leistungseliten sind, die sich aber wie gesagt jetzt diese Regierungspolitik nicht mehr gefallen lassen wollen.
Dobovisek: Was bedeutet das für die Demokratie in Bulgarien, wenn Sie sagen Zivilgesellschaft? Ist das gut, ist das schlecht?
Arndt: Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich habe gar nicht gewusst, dass es diese Klientel mittlerweile gibt, und ich glaube, die Regierung hat das auch nicht gewusst, dass es diese Menschen gibt. Sonst hätte sie nicht so dreist versucht, ihre Personalpolitik, die ich vorhin geschildert habe, durchzusetzen. Das hat alle sehr gewundert, dass Menschen nicht für ihre eigenen Interessen auf die Straße gehen, sondern für den Staat, für eine gute politische Entwicklung, für "good governance", wie man das ja so bezeichnet. Das hat alle überrascht und ich freue mich, dass diese Zivilgesellschaft sich entwickelt hat, wenn auch noch erst mit kleinen Wurzeln, ein zartes Pflänzchen. Aber das macht Hoffnung für Europa und ich glaube, dass diese Entwicklung auch dadurch gekommen ist, dass Bulgarien vor fünf Jahren Mitglied der Europäischen Union geworden ist.
Dobovisek: Ist das ein nachhaltiger politischer Prozess, den wir dort beobachten, oder könnte der auch genauso in den nächsten Tagen, in den nächsten Wochen wieder abebben?
Arndt: Die Entwicklung hin zu einer Zivilgesellschaft, zu mehr Wertebewusstsein, zu europäischen Standards ist, glaube ich, unumkehrbar. Das liegt auch daran, dass viele Bulgaren im Ausland gearbeitet haben, viele gehen nach Deutschland, sie erleben eine andere Politik vor Ort, eine gute Politik in Westeuropa und kommen zurück und wollen natürlich diese Standards dann in Bulgarien auch umgesetzt sehen. Deshalb denke ich, dass dieser Prozess sich eher verstärken wird in den nächsten Jahren, und das ist natürlich für die Entwicklung des Landes von großer Bedeutung.
Dobovisek: Sie haben gerade erwähnt, dass der EU-Beitritt dabei auch eine große Rolle gespielt hat und eine große Rolle spielt. Es gibt aber auch Kritiker, die sagen, Bulgarien sei zu früh der Europäischen Union beigetreten. Was ist da richtig?
Arndt: Wenn Sie die formalen Kriterien zugrunde legen, dann ist es sicherlich richtig, dass Bulgarien und auch Rumänien diese Kriterien nicht in Gänze erfüllt hat, dass es von der Europäischen Union eine politische Entscheidung war, beide Staaten aufzunehmen. Wenn Sie allerdings schauen, was das bewirkt hat im Land, dann, sage ich, war es richtig. Ich habe gerade schon gesagt, es entwickelt sich eine Zivilgesellschaft. Bulgarien liegt an den Grenzen Europas. Wenn ich an den russischen Einfluss denke - der wäre wesentlich stärker im Land, als er ohnehin schon ist, wenn Bulgarien nicht in der EU wäre, ich sage nur mal Stichwort Energiepolitik. Und auch die ganze demokratische Entwicklung des Landes wäre nicht so weit, weil ja Europa und die Europäische Kommission immer noch einen Überwachungs- und Verifikationsmechanismus ausübt über Bulgarien und Rumänien, der das Land zu Reformen drängt. Ich halte den Beitritt für sehr, sehr wichtig und sehr, sehr richtig.
Dobovisek: Welche Verantwortung muss die Europäische Union jetzt in dieser Situation übernehmen?
Arndt: Viel machen kann sie nicht. Bulgarien ist ein souveräner Staat wie die übrigen 26 Staaten der Europäischen Union auch. Man kann also nur auf "sanftem Wege" Druck ausüben. Man muss mit den verantwortlichen Politikern sprechen. Frau Reding war vor zwei Tagen in Sofia, hat klare Worte gefunden, der deutsche Botschafter und sein französischer Amtskollege in Sofia haben sehr deutliche Worte gefunden, was die momentane Regierungspolitik angeht, die Bundesregierung hat sehr deutliche Worte gefunden und Europa müsste auf diesem Weg fortschreiten, den jetzigen Regierenden ins Gewissen zu reden, dass es so, wie es jetzt läuft, nicht weitergehen kann.
Dobovisek: Wird es Neuwahlen geben?
Arndt: Ich denke, auf Dauer schon. Jetzt sind auch im Regierungslager bereits die ersten bereit, darüber nachzudenken, im kommenden Mai, wenn sowieso Europawahlen anstehen, auch gleich noch mal Parlamentswahlen anzusetzen. Das würde aber bedeuten, dass man jetzt den Spätsommer und Herbst und auch das Frühjahr mit einigermaßen vernünftiger Regierungspolitik über die Runden bringen soll, und da hätte ich die Idee, dass sich die beiden größten Parteien, also die Sozialisten und die Bürgerlichen, zusammensetzen mit dem Staatspräsidenten und vielleicht so eine Art Caretaker-Parlament, also ein Expertenparlament berufen, welches überparteilich den Prozess bis Mai dann begleitet. Das hatten wir ja schon mal zwischen dem Rücktritt der alten Regierung im Februar und den Neuwahlen im Mai. Da gab es ja mal ein unabhängiges Expertenkabinett, getragen vom Staatspräsidenten, und das wäre eine Idee, wie man die Lage auch beruhigen könnte und im Mai dann noch mal einen Neustart wagt.
Dobovisek: Marco Arndt, Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Sofia, über die Protestwelle in Bulgarien. Ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen.
Arndt: Danke auch – auf Wiederhören.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.