Jasper Barenberg: Rainer Brüderle wird schweigen. Seine anzüglichen Bemerkungen gegenüber einer Reporterin des "Stern" vor einem Jahr, seine Zote über ihre Oberweite – der FDP-Fraktionsvorsitzende, seit ein paar Tagen auch Spitzenmann und Kopf der Liberalen für den Bundestagswahlkampf, er hat beschlossen, den "Vorgang" nicht öffentlich zu kommentieren. Das mag mancher bedauern, für den deshalb die eine oder andere Frage offen bleibt. Auf der anderen Seite greift die Debatte längst über den Herrenwitz von Rainer Brüderle hinaus. Vor allem im Netz explodiert die Diskussion geradezu, insbesondere beim Internet-Nachrichtendienst Twitter.
Zehntausende solcher Nachrichten wurden auf dem Internetdienst Twitter schon abgesetzt, gestern sind ein paar Tausend weitere hinzugekommen. Auch die Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes registriert einen Anstieg gemeldeter Vorfälle. – Die Autorin Barbara Sichtermann hat sich in vielen Büchern und Essays mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern beschäftigt, mit Frauen, mit Männern, mit Kindern, und zwar nicht immer nur zur Freude so mancher Feministin. Geprägt von der Studenten- und Frauenbewegung ist eines ihrer Anliegen einmal so beschrieben worden: "Das Glück der erotischen und sexuellen Anziehung nicht im Kampf mit den Männern um mehr Rechte zu opfern." Ich begrüße sie jetzt im Studio in Berlin. Einen schönen guten Morgen, Barbara Sichtermann.
Barbara Sichtermann: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Reden wir über den Fall Brüderle beziehungsweise reden wir über die Frage, ob es jenseits dieses Einzelfalls eine Debatte gibt, die heute noch geführt werden muss, ob das eine sinnvolle Debatte ist.
Sichtermann: Die Debatte ist schon sehr alt. Vor Jahrzehnten hat man sich schon über diesen alltäglichen Sexismus und sexuelle Belästigung unterhalten. Aber es war noch nicht der Moment dafür gekommen, daraus so etwas wie eine große, republikweite Auseinandersetzung zu machen. Dafür mussten erst mehr Frauen in Positionen gelangen, wo sie dann so interessant waren, dass sie, wie zum Beispiel jetzt diese Journalistin, die sich über Brüderle geärgert hat, dass sie damit an die Öffentlichkeit gehen konnten. Es ist ja so: Ich glaube, in dieser ganzen Debatte wird eines immer übersehen: die symbolische Seite der sexuellen Anmache. Das ist ja eine Dominanzgeste: ein Gast, der die Serviererin in den Po kneift, oder ein Politiker, der Journalistinnen mit Komplimenten, sogenannten Komplimenten über ihre Oberweite begegnet, der weist ihr ihren Platz zu. Der sagt ihr: Ich bin hier der Mann, ich bestimme, und wenn ich will, kann ich dich auch haben. Das ist natürlich eine Interpretation, aber es ist ein ganz wichtiger Subtext. Verstehen Sie? Die Dominanzgeste, die der Frau ihren Platz zuweist.
Barenberg: Das Machtgefälle sozusagen, das in dieser Situation steckt?
Sichtermann: Genau! Das kommt dabei heraus. Die Macht ist heute schon besser verteilt, Frauen haben schon viel mehr Einfluss, und deshalb reagieren sie, glaube ich, instinktiv - das muss gar nicht immer bewusst sein, auch nicht auf Seiten der Männer übrigens – auf die sogenannten Übergriffe, sexuellen Belästigungen, Herrenwitze und so, jetzt doch mal ein bisschen nervös, indem sie sagen, schaut mal her, obwohl so viele Frauen schon mitmischen, wir eine Kanzlerin haben, gibt es immer noch Herrschaftsaspekte zwischen den Geschlechtern.
Barenberg: Ich verstehe Sie also richtig, dass wir es gewissermaßen mit einem kulturellen Lernprozess zu tun haben, der schon eine Weile lang Manifest ist, der aber jetzt quasi ein neues Gewand erhält. Worum genau geht es jetzt in dieser Debatte unter diesen Voraussetzungen?
Sichtermann: Es geht um die schon viel zitierte Augenhöhe. Männer, die zusammen Politik machen oder im Büro sitzen, irgendwie sonst in funktionalen Zusammenhängen aufeinanderstoßen, die heben ja auch nicht aufs Geschlecht ab, sondern die kämpfen miteinander oder arbeiten auch zusammen von Mann zu Mann und es geht für sie nur um die gemeinsam zu vertretenden Inhalte. Wenn da eine Frau reinkommt, dann sind sie erst mal irritiert und denken, die gehört doch hier gar nicht her. Die gehört doch in ihr angestammtes Feld, und das ist die Häuslichkeit und das ist die Erotik. Durch den Herrenwitz und durch die Anmache stupsen sie sie, schubsen sie sie dahin symbolisch zurück. Das ist die Lage, und das wird heute einfach nicht mehr von so vielen beruflich erfolgreichen Frauen akzeptiert.
Barenberg: So mancher hat das offenbar ja noch nicht begriffen. In der Fernsehrunde, die es dazu bei Günther Jauch am Sonntag gab, wurde ja gefragt, wer legt denn hier fest, was ein Kompliment ist und was Anmache – etwa die Frau?
Sichtermann: Ja, ja! Und wenn eine Frau einem Mann mal ein Kompliment macht, dann legt der Mann das fest. – Natürlich ist es derjenige, der, sagen wir mal, zu seinem eigenen Erstaunen in einer Situation, die damit eigentlich gar nichts zu tun hat, plötzlich erotisch konjugiert wird. Muss der entweder reagieren und sagen, okay, wir gehen nachher einen trinken und vielleicht wird mehr daraus, oder er muss sagen, Schluss? Es geht hier um was weiß ich, Wahlen, es geht um eine Reise ins Ausland, was immer Brüderle und die Frau Himmelreich da eigentlich, oder was die Frau Himmelreich mit Herrn Brüderle besprechen wollte. Es geht nicht darum, dass ich in deinen Augen eigentlich hier gar nicht hergehöre, sondern mich gefälligst in die Frauenwelt zu verdrücken habe, die es aber gar nicht mehr gibt. Die gibt es nicht mehr! Wir haben jetzt diese Mischung und Männer müssen lernen, Frauen in funktionalen Zusammenhängen so wahrzunehmen, dass sie, während diese Zusammenhänge dominieren, nicht ans Geschlecht denken. Das können sie hinterher dann machen. Also das ist schon eine schwierige Sache, vor allem, weil man ja Angst hat, man kommt durch die vielen neuen Vorschriften, die es dann womöglich gibt, tatsächlich in so ein Political Correctness Zusammensein wie in Amerika, aber das wollen wir alle nicht.
Barenberg: Darauf wollte ich auch noch mal kurz zu sprechen kommen. Beispielsweise die Kollegin Christiane Hoffmann hat im "Spiegel" ja eine ganz ähnliche Analyse vorgenommen und gesagt, solange der Politikbetrieb – jetzt mit Verweis auf den Fall Brüderle – eine klare Männerdomäne war, waren Frauen den Zudringlichkeiten eher ausgeliefert. Diese Zeiten sind vorbei, schreibt sie. Aber dann schreibt sie auch, dass die Folge dieser Debatte sein wird, dass das Klima politisch korrekter werden wird, dass Politiker sich zurücknehmen und dass es neue Tabus anstelle der alten geben wird. Welche Folgen erwarten Sie von dieser Debatte für Männer, aber auch für Frauen?
Sichtermann: Ich glaube, dass diese Befürchtungen nicht ganz ohne Grund sind, dass nun plötzlich Politiker wollen keine Journalistin mehr im Auto mitnehmen, oder es muss immer jemand Drittes dabei sein, weil sie Angst haben, wegen sexueller Belästigung dann womöglich belangt zu werden. Das kann schon sein. Aber ich glaube, dass Männer mit einem reinen Gewissen – und damit meine ich, dass sie Frauen ernst nehmen und in Frauen auch Leistungsträgerinnen sehen und nicht nur erotische Objekte -, dass die gar nicht so eine Angst haben, dass das an denen abperlt. Dazu gehören natürlich vor allem die jüngeren, wahrscheinlich auch Sie selbst. Während so ein alter Herr wie Herr Brüderle, der hat das einfach noch nicht kapiert, dass Frauen jetzt sozusagen mitspielen und sie das Spiel nach den Regeln spielen und nicht immer wieder durch Sexualisierung ihrer Gegenwart zurückgestupst werden wollen in die alten Zeiten und die alte Welt. Also der Übergang kann schwierig sein und auch unangenehm, diese berühmte schwierige Grenze zwischen Flirt und sexueller Belästigung, dass die tatsächlich neu ausgetastet, austariert werden muss, neu beschrieben werden muss und dass es da auch immer wieder Situationen gibt, die dann doch belastend sind für alle. Da müssen wir durch! Also diese Brüderle-Geschichte? Den armen Brüderle hat es nun gerade getroffen mit einer ziemlich harmlosen Sache, ja, aber wir müssen da durch, auch durch die unangenehmen Seiten. Das ist so!
Barenberg: Die Autorin Barbara Sichtermann heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Sichtermann: Gerne – tschüß!
Barenberg: Tschüß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Zehntausende solcher Nachrichten wurden auf dem Internetdienst Twitter schon abgesetzt, gestern sind ein paar Tausend weitere hinzugekommen. Auch die Anti-Diskriminierungsstelle des Bundes registriert einen Anstieg gemeldeter Vorfälle. – Die Autorin Barbara Sichtermann hat sich in vielen Büchern und Essays mit dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern beschäftigt, mit Frauen, mit Männern, mit Kindern, und zwar nicht immer nur zur Freude so mancher Feministin. Geprägt von der Studenten- und Frauenbewegung ist eines ihrer Anliegen einmal so beschrieben worden: "Das Glück der erotischen und sexuellen Anziehung nicht im Kampf mit den Männern um mehr Rechte zu opfern." Ich begrüße sie jetzt im Studio in Berlin. Einen schönen guten Morgen, Barbara Sichtermann.
Barbara Sichtermann: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Reden wir über den Fall Brüderle beziehungsweise reden wir über die Frage, ob es jenseits dieses Einzelfalls eine Debatte gibt, die heute noch geführt werden muss, ob das eine sinnvolle Debatte ist.
Sichtermann: Die Debatte ist schon sehr alt. Vor Jahrzehnten hat man sich schon über diesen alltäglichen Sexismus und sexuelle Belästigung unterhalten. Aber es war noch nicht der Moment dafür gekommen, daraus so etwas wie eine große, republikweite Auseinandersetzung zu machen. Dafür mussten erst mehr Frauen in Positionen gelangen, wo sie dann so interessant waren, dass sie, wie zum Beispiel jetzt diese Journalistin, die sich über Brüderle geärgert hat, dass sie damit an die Öffentlichkeit gehen konnten. Es ist ja so: Ich glaube, in dieser ganzen Debatte wird eines immer übersehen: die symbolische Seite der sexuellen Anmache. Das ist ja eine Dominanzgeste: ein Gast, der die Serviererin in den Po kneift, oder ein Politiker, der Journalistinnen mit Komplimenten, sogenannten Komplimenten über ihre Oberweite begegnet, der weist ihr ihren Platz zu. Der sagt ihr: Ich bin hier der Mann, ich bestimme, und wenn ich will, kann ich dich auch haben. Das ist natürlich eine Interpretation, aber es ist ein ganz wichtiger Subtext. Verstehen Sie? Die Dominanzgeste, die der Frau ihren Platz zuweist.
Barenberg: Das Machtgefälle sozusagen, das in dieser Situation steckt?
Sichtermann: Genau! Das kommt dabei heraus. Die Macht ist heute schon besser verteilt, Frauen haben schon viel mehr Einfluss, und deshalb reagieren sie, glaube ich, instinktiv - das muss gar nicht immer bewusst sein, auch nicht auf Seiten der Männer übrigens – auf die sogenannten Übergriffe, sexuellen Belästigungen, Herrenwitze und so, jetzt doch mal ein bisschen nervös, indem sie sagen, schaut mal her, obwohl so viele Frauen schon mitmischen, wir eine Kanzlerin haben, gibt es immer noch Herrschaftsaspekte zwischen den Geschlechtern.
Barenberg: Ich verstehe Sie also richtig, dass wir es gewissermaßen mit einem kulturellen Lernprozess zu tun haben, der schon eine Weile lang Manifest ist, der aber jetzt quasi ein neues Gewand erhält. Worum genau geht es jetzt in dieser Debatte unter diesen Voraussetzungen?
Sichtermann: Es geht um die schon viel zitierte Augenhöhe. Männer, die zusammen Politik machen oder im Büro sitzen, irgendwie sonst in funktionalen Zusammenhängen aufeinanderstoßen, die heben ja auch nicht aufs Geschlecht ab, sondern die kämpfen miteinander oder arbeiten auch zusammen von Mann zu Mann und es geht für sie nur um die gemeinsam zu vertretenden Inhalte. Wenn da eine Frau reinkommt, dann sind sie erst mal irritiert und denken, die gehört doch hier gar nicht her. Die gehört doch in ihr angestammtes Feld, und das ist die Häuslichkeit und das ist die Erotik. Durch den Herrenwitz und durch die Anmache stupsen sie sie, schubsen sie sie dahin symbolisch zurück. Das ist die Lage, und das wird heute einfach nicht mehr von so vielen beruflich erfolgreichen Frauen akzeptiert.
Barenberg: So mancher hat das offenbar ja noch nicht begriffen. In der Fernsehrunde, die es dazu bei Günther Jauch am Sonntag gab, wurde ja gefragt, wer legt denn hier fest, was ein Kompliment ist und was Anmache – etwa die Frau?
Sichtermann: Ja, ja! Und wenn eine Frau einem Mann mal ein Kompliment macht, dann legt der Mann das fest. – Natürlich ist es derjenige, der, sagen wir mal, zu seinem eigenen Erstaunen in einer Situation, die damit eigentlich gar nichts zu tun hat, plötzlich erotisch konjugiert wird. Muss der entweder reagieren und sagen, okay, wir gehen nachher einen trinken und vielleicht wird mehr daraus, oder er muss sagen, Schluss? Es geht hier um was weiß ich, Wahlen, es geht um eine Reise ins Ausland, was immer Brüderle und die Frau Himmelreich da eigentlich, oder was die Frau Himmelreich mit Herrn Brüderle besprechen wollte. Es geht nicht darum, dass ich in deinen Augen eigentlich hier gar nicht hergehöre, sondern mich gefälligst in die Frauenwelt zu verdrücken habe, die es aber gar nicht mehr gibt. Die gibt es nicht mehr! Wir haben jetzt diese Mischung und Männer müssen lernen, Frauen in funktionalen Zusammenhängen so wahrzunehmen, dass sie, während diese Zusammenhänge dominieren, nicht ans Geschlecht denken. Das können sie hinterher dann machen. Also das ist schon eine schwierige Sache, vor allem, weil man ja Angst hat, man kommt durch die vielen neuen Vorschriften, die es dann womöglich gibt, tatsächlich in so ein Political Correctness Zusammensein wie in Amerika, aber das wollen wir alle nicht.
Barenberg: Darauf wollte ich auch noch mal kurz zu sprechen kommen. Beispielsweise die Kollegin Christiane Hoffmann hat im "Spiegel" ja eine ganz ähnliche Analyse vorgenommen und gesagt, solange der Politikbetrieb – jetzt mit Verweis auf den Fall Brüderle – eine klare Männerdomäne war, waren Frauen den Zudringlichkeiten eher ausgeliefert. Diese Zeiten sind vorbei, schreibt sie. Aber dann schreibt sie auch, dass die Folge dieser Debatte sein wird, dass das Klima politisch korrekter werden wird, dass Politiker sich zurücknehmen und dass es neue Tabus anstelle der alten geben wird. Welche Folgen erwarten Sie von dieser Debatte für Männer, aber auch für Frauen?
Sichtermann: Ich glaube, dass diese Befürchtungen nicht ganz ohne Grund sind, dass nun plötzlich Politiker wollen keine Journalistin mehr im Auto mitnehmen, oder es muss immer jemand Drittes dabei sein, weil sie Angst haben, wegen sexueller Belästigung dann womöglich belangt zu werden. Das kann schon sein. Aber ich glaube, dass Männer mit einem reinen Gewissen – und damit meine ich, dass sie Frauen ernst nehmen und in Frauen auch Leistungsträgerinnen sehen und nicht nur erotische Objekte -, dass die gar nicht so eine Angst haben, dass das an denen abperlt. Dazu gehören natürlich vor allem die jüngeren, wahrscheinlich auch Sie selbst. Während so ein alter Herr wie Herr Brüderle, der hat das einfach noch nicht kapiert, dass Frauen jetzt sozusagen mitspielen und sie das Spiel nach den Regeln spielen und nicht immer wieder durch Sexualisierung ihrer Gegenwart zurückgestupst werden wollen in die alten Zeiten und die alte Welt. Also der Übergang kann schwierig sein und auch unangenehm, diese berühmte schwierige Grenze zwischen Flirt und sexueller Belästigung, dass die tatsächlich neu ausgetastet, austariert werden muss, neu beschrieben werden muss und dass es da auch immer wieder Situationen gibt, die dann doch belastend sind für alle. Da müssen wir durch! Also diese Brüderle-Geschichte? Den armen Brüderle hat es nun gerade getroffen mit einer ziemlich harmlosen Sache, ja, aber wir müssen da durch, auch durch die unangenehmen Seiten. Das ist so!
Barenberg: Die Autorin Barbara Sichtermann heute Morgen hier im Deutschlandfunk. Ich bedanke mich ganz herzlich für das Gespräch.
Sichtermann: Gerne – tschüß!
Barenberg: Tschüß!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.