Eine Demonstrantin:
"Wir wollen echten Wandel, um unsere Leben zu retten. Was hat die Politik vor, was plant die Justiz? Dieser extrem schwere Fall hat uns aufgerüttelt. Es reicht. Aber es passiert weiter! Jeden Tag!"
Eine ältere Demonstrantin:
"Dieser Fall ist ein Medium für uns. Wir erheben unsere Stimmen und wir ergreifen die Initiative. Es ist allerhöchste Zeit, dass auch die Regierung handelt. Tut sie es nicht, verpasst sie das Boot. Und im nächsten Jahr finden Wahlen statt."
Ein Demonstrant:
"Ich bin so geschockt, dass das in meinem Land passiert. Wo ist mein Indien? Und die Vergewaltigungen gehen weiter, weil die Vergewaltiger keine Angst haben. In unseren Parlamenten sitzen Vergewaltiger und Mörder. Warum also sollten Täter Angst vor Konsequenzen haben, wenn das offenbar Routine ist?"
Studentin:
"Es geht zu allererst um unsere Mentalität. Wenn wir unsere Mentalität nicht verändern, wird sich für uns Frauen nichts verändern. Moralische Werte müssen an allen Schulen unterrichtet werden."
Ohne die brutale Gruppenvergewaltigung vom 16. Dezember würde es diese Stimmen nicht geben. Das Opfer überlebte die Folter im fahrenden Bus nicht. Die 23-jährige Physiotherapiestudentin starb nach 13 Tagen Überlebenskampf in einer Spezialklinik in Singapur.
Todesstrafe? Lebenslange Isolationshaft? Zwangskastration? Am Anfang konzentrierte sich die Diskussion der geschockten Bevölkerung auf die richtige Bestrafung. Die Wut richtete sich gegen die Regierung, die Justiz und die Polizei. Die junge indische Mittelklasse, die sich an die Spitze des Protests gestellt hat, empfindet den Staat als tatenlos und korrupt. Doch inzwischen hinterfragt die mobile, urbane Jugend die Gesellschaft als Ganzes.
Jyoti Atwal:
"Was wir heute in Indien sehen, ist nur eine äußere Modernität. Diese Modernität basiert auf wirtschaftlicher Entwicklung, auf mehr Reichtum und Konsum. Aber eine innere Modernität hat sich noch nicht entwickelt. Ein Faktor, der das Land über alle Klassen- und Kasten- und Religionsschranken verbindet, ist die Angst vor der weiblichen Sexualität. Im öffentlichen Raum trennen wir Frauen und Männer. Indiens Frauen wachsen in dem Glauben auf, anders zu sein."
Jyoti Atwal lehrt Geschichte an der Nehru-Universität in Delhi. Die junge Professorin beschäftigt sich intensiv mit der Rolle der Geschlechter:
"In der indischen Gesellschaft schämen sich Frauen ab einem gewissen Alter für ihren Körper. Sobald ein Mädchen die Pubertät erreicht, wird ihr Körper vom elterlichen Haushalt kontrolliert, und sie hat alleine keinen Zugang mehr zum öffentlichen Raum. Den Körper der Frau umgibt ein übersteigertes Schamgefühl, während es für indische Männer völlig okay ist, in aller Öffentlichkeit auf die Straße zu pinkeln. Frauen hingegen müssen sich bedecken und züchtig kleiden. Das ist nicht nur in Indien so, sondern in ganz Südasien."
Auch Jyoti Atwal kennt die fürchterlichen Studien. Zum Beispiel die von der Thomson-Reuters-Stiftung aus dem Jahr 2011. Befragt wurden fast 400 Experten aus dem Bereich Frauen- und Geschlechterforschung. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass ausgerechnet Indien, die größte Demokratie der Welt, der frauenfeindlichste aller G20-Staaten ist. Weil häusliche Gewalt, öffentliche sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zum weiblichen Alltag gehören. Und weil in Indien in den letzten drei Jahrzehnten rund zwölf Millionen Mädchen als unerwünschtes Geschlecht gezielt abgetrieben worden sind. Laut einer UNICEF-Studie aus dem vergangenen Jahr glauben 52 Prozent aller heranwachsenden Mädchen und 57 Prozent aller heranwachsenden Jungen, dass es in Ordnung ist, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Noch mal Jyoti Atwal:
"Als Frau fühlst du ständig Scham über deine sexuelle Präsenz. Das hält Frauen davon ab, offen über das zu sprechen, was ihnen zu Hause passiert. Gewalt gegen Frauen wird von vielen als normal empfunden, und das schließt eine Vergewaltigung ein. Nur wenn die Scham aufhört, wenn Frauen sich zu Hause frei bewegen können und wenn Jungen zu Hause erleben, dass die Eltern ihre Schwestern gleichbehandeln, wird es Wandel geben. Der Ausgangspunkt für sozialen Wandel in Indien ist die Familie."
Es mangelt dem aufstrebenden Schwellenland nicht an starken Frauen. Kiran Bedi gehört dazu. In ihrem Büro trifft sich die 63-Jährige mit sechs Medienstudenten aus Mumbai, die extra nach Delhi gereist sind, um die Massenproteste zu dokumentieren. Kiran Bedi war Indiens erste Polizistin. Heute ist sie Sozialaktivistin und eine führende Stimme der gesellschaftlichen Diskussion:
"Indien hat eine sehr patriarchalische und konservative, ja feudale Geschichte. Frauen waren immer nur Besitz und haben nie selber besessen. Frauen waren immer nur das zweite Geschlecht. Meine Eltern waren damals eine Insel, die sich gegen diese Einstellung gewehrt hat. Meine Eltern waren Visionäre. Eure Eltern, die euch heute gleichberechtigt und progressiv erziehen, sind die neue Generation. Ihr seid die neue Generation. Also wer gewinnt? Die alte Denkweise oder die neue?"
Die indische Volksseele kocht schnell hoch. Soziale Bewegungen entstehen spontan und sind zerbrechlich. Jüngstes Beispiel: die wochenlangen Massenproteste gegen die ausufernde Korruption im Sommer 2011, angeführt von Anna Hazare. Heute ist die Bewegung so gut wie unsichtbar. Sie ist ausgefasert, einfach verschwunden. Kiran Bedi hat Anna Hazare unterstützt. Deshalb gibt sie den sechs Studenten aus Mumbai mit auf den Weg – fangt bei euch selber an. Hinterfragt eure Werte und die Tradition eurer Familien. Kiran Bedi:
"Ich kann euch nur raten: Gebt nicht auf, macht weiter. Entweder jetzt oder nie. Ich möchte, dass die Mädchen an der Spitze stehen und die Jungen folgen. Ihr Jungen müsst ein wichtiger Teil der Bewegung sein. Was geschehen ist, verletzt Euch auch. Es geht auch um euren Selbstrespekt, um eure Selbstachtung. Und bevor ihr alle, Jungen und Mädchen, Geschäftsmann oder Arzt oder Ingenieur werden, werdet bessere Menschen. Wachst nicht für Titel heran, wachst für die Menschheit heran."
"Wir wollen echten Wandel, um unsere Leben zu retten. Was hat die Politik vor, was plant die Justiz? Dieser extrem schwere Fall hat uns aufgerüttelt. Es reicht. Aber es passiert weiter! Jeden Tag!"
Eine ältere Demonstrantin:
"Dieser Fall ist ein Medium für uns. Wir erheben unsere Stimmen und wir ergreifen die Initiative. Es ist allerhöchste Zeit, dass auch die Regierung handelt. Tut sie es nicht, verpasst sie das Boot. Und im nächsten Jahr finden Wahlen statt."
Ein Demonstrant:
"Ich bin so geschockt, dass das in meinem Land passiert. Wo ist mein Indien? Und die Vergewaltigungen gehen weiter, weil die Vergewaltiger keine Angst haben. In unseren Parlamenten sitzen Vergewaltiger und Mörder. Warum also sollten Täter Angst vor Konsequenzen haben, wenn das offenbar Routine ist?"
Studentin:
"Es geht zu allererst um unsere Mentalität. Wenn wir unsere Mentalität nicht verändern, wird sich für uns Frauen nichts verändern. Moralische Werte müssen an allen Schulen unterrichtet werden."
Ohne die brutale Gruppenvergewaltigung vom 16. Dezember würde es diese Stimmen nicht geben. Das Opfer überlebte die Folter im fahrenden Bus nicht. Die 23-jährige Physiotherapiestudentin starb nach 13 Tagen Überlebenskampf in einer Spezialklinik in Singapur.
Todesstrafe? Lebenslange Isolationshaft? Zwangskastration? Am Anfang konzentrierte sich die Diskussion der geschockten Bevölkerung auf die richtige Bestrafung. Die Wut richtete sich gegen die Regierung, die Justiz und die Polizei. Die junge indische Mittelklasse, die sich an die Spitze des Protests gestellt hat, empfindet den Staat als tatenlos und korrupt. Doch inzwischen hinterfragt die mobile, urbane Jugend die Gesellschaft als Ganzes.
Jyoti Atwal:
"Was wir heute in Indien sehen, ist nur eine äußere Modernität. Diese Modernität basiert auf wirtschaftlicher Entwicklung, auf mehr Reichtum und Konsum. Aber eine innere Modernität hat sich noch nicht entwickelt. Ein Faktor, der das Land über alle Klassen- und Kasten- und Religionsschranken verbindet, ist die Angst vor der weiblichen Sexualität. Im öffentlichen Raum trennen wir Frauen und Männer. Indiens Frauen wachsen in dem Glauben auf, anders zu sein."
Jyoti Atwal lehrt Geschichte an der Nehru-Universität in Delhi. Die junge Professorin beschäftigt sich intensiv mit der Rolle der Geschlechter:
"In der indischen Gesellschaft schämen sich Frauen ab einem gewissen Alter für ihren Körper. Sobald ein Mädchen die Pubertät erreicht, wird ihr Körper vom elterlichen Haushalt kontrolliert, und sie hat alleine keinen Zugang mehr zum öffentlichen Raum. Den Körper der Frau umgibt ein übersteigertes Schamgefühl, während es für indische Männer völlig okay ist, in aller Öffentlichkeit auf die Straße zu pinkeln. Frauen hingegen müssen sich bedecken und züchtig kleiden. Das ist nicht nur in Indien so, sondern in ganz Südasien."
Auch Jyoti Atwal kennt die fürchterlichen Studien. Zum Beispiel die von der Thomson-Reuters-Stiftung aus dem Jahr 2011. Befragt wurden fast 400 Experten aus dem Bereich Frauen- und Geschlechterforschung. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass ausgerechnet Indien, die größte Demokratie der Welt, der frauenfeindlichste aller G20-Staaten ist. Weil häusliche Gewalt, öffentliche sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zum weiblichen Alltag gehören. Und weil in Indien in den letzten drei Jahrzehnten rund zwölf Millionen Mädchen als unerwünschtes Geschlecht gezielt abgetrieben worden sind. Laut einer UNICEF-Studie aus dem vergangenen Jahr glauben 52 Prozent aller heranwachsenden Mädchen und 57 Prozent aller heranwachsenden Jungen, dass es in Ordnung ist, wenn ein Mann seine Frau schlägt. Noch mal Jyoti Atwal:
"Als Frau fühlst du ständig Scham über deine sexuelle Präsenz. Das hält Frauen davon ab, offen über das zu sprechen, was ihnen zu Hause passiert. Gewalt gegen Frauen wird von vielen als normal empfunden, und das schließt eine Vergewaltigung ein. Nur wenn die Scham aufhört, wenn Frauen sich zu Hause frei bewegen können und wenn Jungen zu Hause erleben, dass die Eltern ihre Schwestern gleichbehandeln, wird es Wandel geben. Der Ausgangspunkt für sozialen Wandel in Indien ist die Familie."
Es mangelt dem aufstrebenden Schwellenland nicht an starken Frauen. Kiran Bedi gehört dazu. In ihrem Büro trifft sich die 63-Jährige mit sechs Medienstudenten aus Mumbai, die extra nach Delhi gereist sind, um die Massenproteste zu dokumentieren. Kiran Bedi war Indiens erste Polizistin. Heute ist sie Sozialaktivistin und eine führende Stimme der gesellschaftlichen Diskussion:
"Indien hat eine sehr patriarchalische und konservative, ja feudale Geschichte. Frauen waren immer nur Besitz und haben nie selber besessen. Frauen waren immer nur das zweite Geschlecht. Meine Eltern waren damals eine Insel, die sich gegen diese Einstellung gewehrt hat. Meine Eltern waren Visionäre. Eure Eltern, die euch heute gleichberechtigt und progressiv erziehen, sind die neue Generation. Ihr seid die neue Generation. Also wer gewinnt? Die alte Denkweise oder die neue?"
Die indische Volksseele kocht schnell hoch. Soziale Bewegungen entstehen spontan und sind zerbrechlich. Jüngstes Beispiel: die wochenlangen Massenproteste gegen die ausufernde Korruption im Sommer 2011, angeführt von Anna Hazare. Heute ist die Bewegung so gut wie unsichtbar. Sie ist ausgefasert, einfach verschwunden. Kiran Bedi hat Anna Hazare unterstützt. Deshalb gibt sie den sechs Studenten aus Mumbai mit auf den Weg – fangt bei euch selber an. Hinterfragt eure Werte und die Tradition eurer Familien. Kiran Bedi:
"Ich kann euch nur raten: Gebt nicht auf, macht weiter. Entweder jetzt oder nie. Ich möchte, dass die Mädchen an der Spitze stehen und die Jungen folgen. Ihr Jungen müsst ein wichtiger Teil der Bewegung sein. Was geschehen ist, verletzt Euch auch. Es geht auch um euren Selbstrespekt, um eure Selbstachtung. Und bevor ihr alle, Jungen und Mädchen, Geschäftsmann oder Arzt oder Ingenieur werden, werdet bessere Menschen. Wachst nicht für Titel heran, wachst für die Menschheit heran."