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"Es ist eben immer schwierig, mitten in einem Krieg Wahlen durchzuführen"

Vor der morgigen Parlamentswahl in Afghanistan ruft Ahmed Rashid die internationale Gemeinschaft zu Verhandlungen mit den Taliban auf. Es habe sich gezeigt, dass die gemäßigten Taliban-Führer zu Gesprächen bereit seien. Dennoch erwartet Rashid Störungen der Wahl durch die Taliban.

    Christoph Heinemann: Die Afghanen wählen morgen ein neues Parlament. Weltweit häufen sich die Appelle an die Führung des Landes, sie solle freie und faire Wahlen gewährleisten. Die Präsidentschaftswahlen des vergangenen Jahres sind in unguter Erinnerung.
    Als einer der besten Kenner der Geschichte, der Kultur und der Gegenwart Afghanistans gilt der pakistanische Journalist Ahmed Rashid. Im Jahr 2000 veröffentlichte er das Buch "Taliban", das nun in aktualisierter Fassung vorliegt. Spätestens nach dem 11. September 2001 wurde dieses Buch zum Weltbestseller, rund 1,5 Millionen mal verkauft.
    Kurz vor seiner Amtseinführung bat Barack Obama Ahmed Rashid zu einem Abendessen, das gelingt auch nicht jedem Vertreter unserer Zunft.
    Rashid hat jetzt ein neues Buch veröffentlicht, dessen Titel wenig hoffnungsvoll klingt: "Sturz ins Chaos – Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban".
    Ahmed Rashid hielt sich in dieser Woche in Berlin auf. Zu Beginn des Gesprächs, das wir mit ihm aufgezeichnet haben, habe ich ihn gefragt, ob die Parlamentswahl einen Test für die Stabilität in Afghanistan bildet?

    Ahmed Rashid: Es ist sicherlich ein Test für die Stabilität. Viel hängt von der Wahlbeteiligung ab. Ich befürchte, dass diese wegen der sich verschlechternden Sicherheitslage nicht besonders hoch ausfallen wird. Nicht mehr als 25 Prozent werden vorausgesagt, und das wäre sehr schädlich.
    Die andere Sorge bezieht sich auf die Taliban, die angedroht haben, diese Wahlen zu stören. Und die dritte Frage ist die der Wahlmanipulation durch Leute, die mit der Regierung in Verbindung stehen. Das hatten wir bereits bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr. Es ist eben immer schwierig, mitten in einem Krieg Wahlen durchzuführen. Und genau das ist die gegenwärtige Lage in Afghanistan.

    Heinemann: Die US-Regierung hat den Beginn des Abzugs der Truppen ab Juli kommenden Jahres angekündigt. Sind die afghanischen Sicherheitskräfte in der Lage, ab 2014 die Sicherheit im Land zu garantieren?

    Rashid: Erst seit zwei Jahren bemühen sich Amerikaner und NATO ernsthaft, die afghanische Armee und Polizei aufzubauen. Das wird viel länger dauern. Wir haben große Probleme mit Drogenkonsum oder Analphabetentum und viele kommen einfach nicht zum Dienst. Die große Frage lautet: werden die Amerikaner vor Juli 2011 Verhandlungen mit den Taliban ankündigen?

    Heinemann: Ist ein Dialog mit den gemäßigten Taliban möglich?

    Rashid: Diejenigen, die im vergangenen Jahr mit Taliban gesprochen haben, Vertreter der Vereinten Nationen oder der Karsai-Regierung etwa, berichten, dass die Taliban mit den Amerikaner reden wollen. Die NATO, Präsident Karsai und viele Afghanen warten nun darauf, wie schnell Präsident Obama entscheidet, Verhandlungen mit den Taliban zu beginnen, während gleichzeitig militärische Operationen weitergeführt werden.

    Heinemann: Halten Sie die Taliban für verlässliche Partner, oder wollen die nicht einfach nur ihr Regime wiederherstellen?

    Rashid: Das muss selbstverständlich ausprobiert werden. Die Taliban haben signalisiert, dass sie verhandeln wollen. Sie stellen Vorbedingungen und die Amerikaner ebenso. Dennoch: alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Taliban reden wollen. Warum? Sie sind erschöpft, wie alle anderen auch. Sie kämpfen seit 10 oder seit 30 Jahren. Sie haben es satt, als Flüchtlinge in Pakistan - oder wie einige im Iran - zu leben. Sie wollen nach Hause.
    Und zur Frage der Machtübernahme: die gemäßigte Taliban-Führung hat inzwischen begriffen, dass, wenn sie versuchen, die Macht zu übernehmen, sie von der Internationalen Gemeinschaft vollständig ausgeschlossen werden. Sie werden kein Geld bekommen, Hilfen werden gestoppt, der Wiederaufbau angehalten. Und sie werden sehr schnell die Unterstützung der Afghanen verlieren, genau wie damals, vor 2001, als ein Drittel der Menschen in Afghanistan vom Hungertod bedroht war, weil die Taliban über keinerlei wirtschaftliche Pläne verfügten. Sie haben immer noch keine.
    Die vernünftigen Taliban-Führer streben eine Art Partnerschaft und eine Teilung der Macht mit Präsident Karsai an. Das ist die beste Lösung.

    Heinemann: Sie kennen Präsident Karsai persönlich. Welche sind seine Stärken und Schwächen?

    Rashid: In der letzten Zeit habe ich ihn stark kritisiert, weil er Dinge zu lange hat laufen lassen: Drogenmissbrauch, Korruption, seine Familie ist in Bank-Pleiten und andere zwielichtige Angelegenheiten verwickelt. Es gibt zwei Antworten in dieser Frage: wenn man die amerikanische oder die europäische Presse liest, wird vollständig schwarz gemalt: Karsai ist korrupt, paranoid, hat die Kontrolle verloren. Ich kenne ihn aber auch aus den Jahren 2002 bis 2004, das war die Zeit ohne Krieg. Er bettelte im Westen um Geld für den Wiederaufbau – vergeblich. Die Amerikaner wollten nichts aufbauen, weil sie damit beschäftigt waren, den Krieg im Irak vorzubereiten. Man muss verstehen, dass Karsai verbittert, wütend und ausgesprochen frustriert ist. Er glaubt nicht mehr, was die Leute im Westen sagen – übrigens kommen ja auch ziemlich unterschiedliche Botschaften von den westlichen Regierungen. Andererseits hat also auch der Westen Karsai fallen gelassen. Es gilt nicht nur die eine Darstellung, die Karsai die Schuld für alles gibt.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit dem pakistanischen Journalisten Ahmed Rashid. - Sie beschreiben in Ihrem Buch die weitreichende Unterstützung der Taliban durch den pakistanischen Geheimdienst ISI. Welche Strategie verfolgt die pakistanische Regierung?

    Rashid: Fast die gesamte Führung der Taliban lebt seit 2001 in Pakistan. Damit befinden sich diese Leute seit Langem im Würgegriff des ISI. Die pakistanischen Geheimdienste wissen, was die Taliban tun, was sie denken und was sie planen. Ich hoffe, dass das Militär und die Geheimdienste ihre Politik ändern werden, sodass sie dazu beitragen, den Afghanen zu helfen, mit den Taliban Verhandlungen aufzunehmen, und solche Gespräche nicht zu blockieren. Der ISI wird vom Militär kontrolliert und das Militär kontrolliert gegenwärtig weitgehend die pakistanische Außenpolitik und die nationale Sicherheitspolitik. Die pakistanische Regierung ist zwar gewählt, aber in den äußerst wichtigen Regionen – im Grenzgebiet zu Afghanistan und Indien – übt sie kaum Macht aus.

    Heinemann: Müssen die Warlords, die regionalen Kriegsherren oder Bandenchefs, in eine Friedenslösung einbezogen werden?

    Rashid: 2004 waren wir auf dem richtigen Weg. Damals wurden sie entwaffnet, einige gingen ins Parlament, andere machten Geschäfte. Wäre dieser Prozess fortgeführt worden, hätte man die Warlords ausgrenzen können. Einige der wichtigen Warlords wird man an den Entscheidungen, etwa über Verhandlungen mit den Taliban, beteiligen müssen. Das heißt aber nicht, dass sie in die Regierung aufgenommen werden sollten und Minister oder Gouverneure werden. Ich glaube nicht, dass die meisten Afghanen diese Leute in der Regierung sehen wollen.

    Heinemann: Ich möchte auf den Titel Ihres Buches zurückkommen: wie lässt sich der Sturz ins Chaos in Afghanistan verhindern?

    Rashid: Ein paar Dinge müssen dafür geklärt werden: wir müssen akzeptieren, dass der Krieg beendet werden muss. Und das geht nicht, indem man einfach davonläuft, indem die NATO und die Amerikaner sagen, wir ziehen ab. Wir benötigen eine Verhandlungslösung: man muss sich über die Teilung der Macht oder die Frage der Verfassung einigen. Es bedarf aber auch eines regionalen Abkommens zwischen den Nachbarstaaten. Afghanistan hat sechs Nachbarn. Alle haben in der Vergangenheit in Afghanistan eingegriffen und tun dies auch heute noch. Es gibt große Spannungen zwischen diesen Nachbarländern, etwa zwischen Indien und Pakistan, und eine Rivalität beider in Kabul. Die Internationale Gemeinschaft muss mit den Taliban verhandeln, oder der afghanischen Regierung helfen, mit den Taliban zu verhandeln, und gleichzeitig mit den Mitteln der regionalen Diplomatie die Länder dieser Gegend zusammenbringen.