Sprecher: Doktor Hans Modrow, vorletzter amtierender Ministerpräsident der DDR vom November 1989 bis März 1990, geboren am 27. Januar 1928 im heute polnischen Jasenitz, Pommern. Fachausbildung zum Maschinenschlosser, später Studium der Wirtschaftswissenschaften. Zu DDR-Zeiten Mitglied der SED, der FDJ und des FDGB. Von 1973 bis 1989 1. Sekretär der SED in Dresden. Nach der Deutschen Einigung Bundestagsabgeordneter und danach Mitglied des Europaparlaments. Modrow hat zwei Töchter, seine Ehefrau ist verstorben.
Hans Modrow: Es ist eine Geschichte, die hinter uns liegt.
Sprecher: Deutsche Melancholie.
Rainer Burchardt: Doktor Modrow, in diesen Tagen überborden die Feierlichkeiten 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Welche Gefühle beschleichen Sie eigentlich bei diesen Aktionen und bei diesem Festakt?
Modrow: Ich will nicht verschweigen, dass das ein sehr zwiespältiges Erleben ist. Ich bin 1949 dabei, wo die DDR gegründet wird, als junger FDJ-Funktionär erlebe ich die große Demonstration, und unsere Haltung zur Bundesrepublik haben wir ja dann mit unserem Leben irgendwo weitergetragen. Dann bin ich ein Abgeordneter in der Volkskammer der DDR und werde ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages und da kann man nicht nur von Distanzen sprechen, ich erlebe aber auch im Deutschen Bundestag, wie ich in einer sehr groben Art angegriffen werde und wie alles seine Zeit braucht, ehe man miteinander überhaupt ins Gespräch kommen kann, so dass ich heute sagen würde: Es ist eine Geschichte, die hinter uns liegt und wichtig scheint mir, dass man mit Reife von allen Seiten darauf schaut und bereit ist, Lehren und Erfahrungen daraus abzuleiten, die uns ein wenig helfen, auch international vertrauensvoller betrachtet zu werden und einen anderen Blick in die Zukunft zu bekommen, als wir ihn im Moment unter uns noch sehr strittig haben.
Burchardt: Gab oder gibt es für Sie noch eine Vorstellung davon, dass man auch hätte sagen können: 60 Jahre DDR?
Modrow: Eigentlich als stiller Wunsch ja, aber mit dem realen Denken und dem Verstand, mit dem man ja nun die Jahre und die Ereignisse nicht nur erlebt, sondern auch mit beeinflusst hat, würde ich sagen, leider nein.
Modrow: Ich war der Zugführer dieser Feuerwehreinheit.
Sprecher: Nationalsozialismus und Kriegsgefangenschaft.
Burchardt: Sie kommen aus einer, ja, man kann mit Ihren Begriffen von damals sagen, vielleicht proletarischen Familie. Ihr Vater war Bäcker und auch Seemann, so ist zu lesen. Sie sind, vermute ich mal, sehr stringent aufgezogen worden. Wie ist es damals gewesen? Sie sind Jahrgang 1928, Sie haben als Junge natürlich auch den heraufziehenden Nationalsozialismus und den Weltkrieg erleben müssen. Wie haben Sie dieses überstanden?
Modrow: Zunächst das familiäre Leben, der Vater war Seemann und das bestimmte sein Leben und auch sein Verhalten zu seinen beiden Söhnen. Wehe, einer von euch kommt auf die Idee, ein Bäcker werden zu wollen. Da kriegt man nur X-Beine, das war seine klare Haltung, ...
Burchardt: Aha, nicht, man muss kleine Brötchen backen.
Modrow: ... sondern er war voll darauf aus, dass beide Jungs Seeleute werden. Mein Bruder ist es geworden und bei mir, muss ich wieder sagen, war der Augenarzt offensichtlich auch ein guter Psychologe. Als der meine Sehtüchtigkeit prüfte, in diesem Fall also mit dem "h" geschrieben, sagte der Junge: Du bist nicht farbendumm, aber farbenblind, Seemann kannst du nicht werden, so dass ich den Beruf eines Maschinenschlossers erwählte, um dann doch wieder auch mit dem alten Wunsch, zur See zu gehen und in der Maschine zu fahren, wie der Ausdruck war, um den es sich damals handelte, sozusagen unten ...
Burchardt: ... als Heizer.
Modrow: Na, vielleicht wäre ich auch ein Chief geworden, je nachdem, denn geheizt wurde zu dem Zeitpunkt auch schon nicht mehr ganz mit Kohle, man begann schon mit der Dieselmaschine.
Burchardt: Gab es irgendeinen Einfluss der Nationalsozialisten oder dieser gesamten Ideologie auf den jungen Hans Modrow?
Modrow: Den gab es, den gab es auch ausgeprägt, denn wenn man bereit ist, noch im Januar 1945 mit Überzeugung in den Volkssturm zu gehen, dann war es das.
Burchardt: Da waren Sie überzeugt.
Modrow: Da war ich überzeugt. Und es war auch einfach damit verbunden, dass wir in unserem Dorf, Jasenitz – heute Jasienica, unweit von Szczecin, damals Stettin – mit einer Jugendfeuerwehr gearbeitet haben. Ich war der Zugführer dieser Feuerwehreinheit und wir waren in Stettin, wir waren auch in diesem Hydrierwerk Pölitz, in dem ich lernte, im Einsatz, haben gelöscht.
Burchardt: Sie sind dann bei Kriegsende – logischerweise, muss man sagen – in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Hat da etwas wie eine Umerziehung oder ein neues Bewusstsein für Sie Platz gegriffen?
Modrow: Zunächst, vielleicht mag es für manche Ohren abwegig klingen, begann die Ersterziehung durch das Verhalten der Kriegsgefangenen untereinander. Dann erlebe ich aber in der Gefangenschaft, dass wir die jungen Burschen sind, die für den Feldwebel und was wir alles für Dienstgrade dann hatten sozusagen die Paslacks wurden und das gefiel uns gleich überhaupt nicht, und die Auseinandersetzungen liefen dann zwischen uns, ich war 17 Jahre alt, und denen, die dann so gegen 30 waren. Dort begannen die ersten Auseinandersetzungen, wo mir klar war: Diese Vorbilder, die du mal gesehen hast, die gibt es nicht. Ich wurde dann Ende 1947 angesprochen, ob ich bereit wäre, auf eine Antifa-Schule zu gehen und ich habe dem zugestimmt und bin dann sechs Monate zunächst als Kursant in Rjasan, das ist unweit, vielleicht 250 Kilometer, von Moskau, und von dort dann nach Ogre bei Riga mit der Schule umgesiedelt und war ein junger Assistent, und bin mit gerade 21 Jahren zurückgekommen und galt für diese damaligen Verhältnisse in der sowjetischen Zone als ein gebildeter, junger Marxist.
Modrow: Europa steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte.
Sprecher: Wege zur deutschen Teilung.
Burchardt: Haben Sie selbst die Gründung der DDR und eine Verfassung, die zwar auch dort die Deutsche Einheit als Ziel mit angesprochen hat, aber auf der anderen Seite doch so etwas wie ein Teilungspapier war, haben Sie das begrüßt?
Modrow: Ich habe begrüßt, mit der Verfassung waren wir uns als junge Leute noch nicht so unmittelbar beschäftigt wie mir das später auch in der Volkskammer der DDR begegnet ist. Es gab einen Ausspruch von Stalin zu der Zeit, der uns am stärksten beeinflusst hat, wo er formuliert: Europa steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte, und die DDR ist sozusagen ein Ausdruck dieses Wendepunktes. Das war das, was uns damals sehr beeinflusst hat und damit sind wir auch in die Gründung der DDR gegangen. Wir gestalten einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte, das ist unser Beitrag, den wir als junge Leute dafür leisten.
Burchardt: Dem vorausgegangen ist natürlich das, was man nachträglich die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED nennt. War das eigentlich in ihren Augen in Ordnung, war das notwendig?
Modrow: Die habe ich ja unmittelbar gar nicht erlebt, ich war in der Gefangenschaft und komme zurück und bin, wie ich schon sagte, ein gebildeter, junger Marxist, habe aber zunächst, beeinflusst durch meinen Lehrer an der Antifa-Schule, die entschiedene Forderung: Ich gehe in meinem Beruf als Schlosser in den Betrieb und beginne nicht in Politik. Aber es ergibt sich natürlich, dass ich damit auch Begegnungen habe und erlebe eben die Parität in der Führung der SED, und mein erstes richtiges, wie wir es damals nannten, Kadergespräch hatte ich mit dem paritätischen Landesvorsitzenden in Brandenburg. Es war Genosse Bismarck – sein Name ist nur noch mit großer Geschichte, aber nicht aus der Verwandtschaft des Adels der Bismarcks verbunden –, und der war ein väterlicher Freund, der mit mir darüber sprach, dass ich doch in die Politik gehen solle und müsste und der sehr beeinflusst hat, dass ich ein Jugendfunktionär geworden bin, so dass ich damit überhaupt keine Distanz dazu hatte.
Burchardt: Sie haben ja auch eigentlich nichts ausgelassen, FDJ, dann Gewerkschaftsmitglied, also FDGB, SED-Mitglied – für jemanden, der heute sagt, er wolle nicht in die Politik, ist das ja einigermaßen erstaunlich.
Modrow: Gut, aber es war ja dann die Frage: Wird es ein Lebensberuf?
Modrow: Man weiß nicht alles, aber man muss eine Hoffnung, eine Überzeugung haben.
Sprecher: Erosionen im Ostblock.
Burchardt: Sie haben dann Wirtschaftswissenschaften studiert, man würde heute sagen, auf dem zweiten Bildungsweg. Sie sind Wirtschaftswissenschaftler geworden, das natürlich auch in einer hohen, spannenden Zeit, in den 50er-Jahren, wo es auch so etwas wie die ersten Erosionen im Ostblock gegeben hat, Stalins Tod im März 1953 und dann vor allem am 17. Juni 1953 auch in der DDR. War das nicht ein erstes Warnsignal auch für einen bekennenden Marxisten?
Modrow: Eigentlich zu dem Zeitpunkt, in den Zusammenhängen, die Sie fragen, nicht unmittelbar, aber in ihrer Frage liegt ja ein anderes Problem. Ich erlebe den Tod Stalins 1953 als Student in Moskau, und dann erlebe ich den 20. Parteitag, höre, was Chruschtschow über Stalin sagt und ziehe eine Lehre, das will ich sagen, für mein ganzes Leben und die ist auch geblieben. War Stalin vorher nun doch etwas eine gottähnliche Gestalt, war mir bewusst: Unter Menschen gibt es keine Götter.
Burchardt: Und die Grausamkeiten des Stalinismus, waren die bekannt und waren die nicht auch etwas ...
Modrow: Die kamen erst mit dem 20. Parteitag der KPdSU, und dort war wieder eine beachtliche, ich will das ruhig so sagen, Hilfe für bestimmtes Verständnis durch meinen 1. Bezirkssekretär der SED, Alfred Neumann, denn Alfred Neumann war als junger Sportler 1933 in die Sowjetunion in die Emigration. Er hätte sonst ein Schicksal wie Seelenbinder haben können, denn er war ausgewählt für die deutsche Olympiamannschaft als Zehnkämpfer, war ein Sportlehrer in Moskau in einem großen Autowerk, und meldet sich freiwillig nach Spanien und erklärt mir dann nach diesem 20. Parteitag, dass er nicht nur nach Spanien gegangen ist aus Patriotismus, sondern auch mit dem Bewusstsein: Vermeide, dass du nach Sibirien gehst. Das sind aber auch wieder diese sehr gemischten Gefühle, und jeder, der glaubt, dass das alles geradlinig in unserem Leben war: Es war eben nicht so. Es kommt auf der einen Seite das Begreifen und Erkennen und dann wieder die Hoffnung, dass da so richtig ist und das war auch ein Ausspruch, der für mich auch sehr prägend blieb, wo Alfred Neumann dann sagt, weißt du, man weiß nicht alles, aber man muss eine Hoffnung, eine Überzeugung haben.
Burchardt: Herr Modrow, höre ich daraus, dass Sie die Ereignisse des 17. Juni 1953 nicht für gerechtfertigt gehalten haben?
Modrow: Die Ereignisse von 1953, die habe ich ja in Moskau erlebt. Ich bin gar nicht in Berlin, als sie ablaufen, und in Moskau spielt das keine besondere Rolle.
Burchardt: Aber das Volk der DDR litt unter dieser Heraufsetzung der geforderten Norm.
Modrow: Ja, aber wir sitzen in Moskau und haben keinen Bezug dazu. Ein wirkliches Verhältnis zu den Ereignissen bekomme ich, nachdem ich aus der Sowjetunion zurückkehre nach Berlin.
Burchardt: Es setzte dann ja das, was man die Entstalinisierung nennt, ein. In dem Zusammenhang gesprochen: War das eine richtige Reaktion auch der Staatsführung der DDR? Ulbricht hat sich da ja sehr stark gemacht.
Modrow: Ich denke, es war ein berechtigter Versuch, den Sie ja nannten: voran im neuen Kurs. Und als ich im August 1953 in Berlin als 1. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung und dann auch in die SED-Leitung gewählt werde, ist das sozusagen das Konzept der Politik. Wir fahren einen neuen Kurs. Und den nehme ich auch auf als Korrektur dessen, was falsch gelaufen ist, der Dinge, die überzogen waren im Prinzip mit all den sehr administrativen Formen von Normen und Ähnlichem, von denen ich ja nun insofern etwas verstand, weil ich ja selber nach Normen schon gearbeitet habe 1949. Es war ja für mich nicht die sozusagen ganz fremde Welt. Das war mein Vorteil auch, dass ich nach der Gefangenschaft auch das Erleben hatte und darum nahm ich das als eine Korrektur an und als ein Bemühen, in dem ich nun selber einbezogen bin, dass wir sozusagen einen neuen Kurs machen.
Burchardt: Neuer Kurs ist natürlich auch ein Stichwort für das, was sich 1956 in Budapest abspielte, dann in Prag 1968, bis hin zur Solidarność in Polen, alles dieses sind ja punktuelle Ereignisse, die man vielleicht als Erosionen des Ostblocks bezeichnen könnte. Dazwischen kam 1961 der Mauerbau innerhalb der DDR. Auf wie wackligen Füßen haben Sie – Sie waren damals schon wichtiger Funktionär innerhalb der Führungsequipe der DDR –, wie haben Sie das empfunden? Waren das alles Warnzeichen oder waren das ausgeflippte Leute, die man wieder einfangen musste, wenn es sein musste, eben auch mit Kriegsrecht, wie in Polen oder mit Waffengewalt, wie in Budapest?
Modrow: Die Ereignisse in Ungarn laufen ja auch sehr parallel mit ganz anderen Ereignissen, zunächst in Polen: Gomułka kommt zurück und wird der 1. Sekretär. Das ist mit mal für uns eine Situation, dass jene, die erst, nehmen wir mal das Wort, in die Wüste geschickt werden, die man abberuft, was ja auch für Kader gilt, die erscheinen mit einem Mal und sind jene, die nun in diesen Ländern die Verantwortung in den Parteien übernehmen. Damit ist wieder so eine Situation, das eine erlebt man mit dem Gefühl: Warum muss es diese Gewalt geben? Und das andere ist wieder: Da kommt ein kommunistischer Führer an die Spitze, der ja eigentlich abberufen war, der jetzt wieder da ist, ein Hardliner. Welche Entwicklungen setzen ein? Die Sache ist in dieser Beziehung wesentlich komplizierter.
Burchardt: Gab es da interne Kontakte zwischen den Staatsführungen oder wurde alles aus Moskau mehr oder weniger gesteuert?
Modrow: Ich denke, es gab untereinander auch, denn es ist ja völlig klar, dass das bereits die Phase ist, bleiben wir zum Beispiel bei Polen, wo die direkten Grenzbeziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen immer eine Rolle spielen. Und eine Stabilität zwischen den beiden Ländern spielte immer eine Rolle, die wir ja auch vom Jugendverband versuchten mitzutragen. Für uns waren die Jugendverbände natürlich, Slowakei und Polen, in politischem Sinne – nach der sowjetischen Jugendorganisation – das Allerwichtigste, mit denen hielten wir Kontakte einfach, weil das ja auch für uns eine – so war es Verständnis –, eine Aufgabe war, die nachwachsenden Generationen in ein Freundschaftsverhältnis zu bekommen. Und das Problem Sudetendeutsche, Umsiedlungen und, und, begleitet uns ja in einer anderen Art und Weise, und da war schon unser Bemühen ... Aber das eigentliche Problem liegt, wenn Sie die Frage nach Erschütterungen stellen und nach Signalen, liegt natürlich in dem Verhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Dort trägt sich das viel stärker aus. Ohnedem ist ja schließlich dann also 1961 nicht erklärbar.
Modrow: Ich gehöre der Volkskammer der DDR an und habe dafür gestimmt, dass es geschieht.
Sprecher: Mauerbau.
Burchardt: War das gerechtfertigt? War das nicht die falsche Reaktion? Man merkte im Grunde genommen aus den letzten 15 Jahren, die Menschen in all diesen Staaten wollen mehr Freiheit, mehr Offenheit, und dann baut die DDR eine Mauer, einen antifaschistischen Schutzwall, wie es hieß?
Modrow: Da sind zwei Probleme, die hier eine Rolle spielen. Ich bin ja einer derer, die mit entscheiden, dass das geschieht, unmittelbar in der engeren Führung, aber ich gehöre der Volkskammer der DDR an ...
Burchardt: Und Sie haben dafür gestimmt.
Modrow: ... und habe dafür gestimmt, dass es geschieht. Und wir hatten insoweit Informationen, dass wir sehr wohl wussten, dass Kennedy und Chruschtschow in Wien ein sehr zugespitztes Gespräch hatten.
Burchardt: Das war im Juni, also zwei Monate vorher.
Modrow: Das war im Juni davor, und dort würde über die Frage Krieg oder Frieden, wird Westberlin, werden es die Sowjets in irgendeiner Weise anfassen, wo Rechte der drei anderen westlichen Mächte berührt werden, dass es dann auch zu Auseinandersetzungen gehen kann?
Burchardt: Wäre man darauf eingestellt gewesen im Osten?
Modrow: Wir waren darauf eingestellt, dass es dazu kommen könnte und das war auch ein wichtiges Motiv, dafür zu stimmen, und das Zweite: Ich bin in der Phase ab Januar 1961 in der Planung des größten Ostberliner Betriebes Elektroapparatewerke tätig, nachdem ich als Externer mein Ökonomiestudium gemacht habe. Und ich erlebe nun und bekomme von meinem Planungschef die fürchterliche Aufgabe, ihm immer wieder vorzulegen, wie ich die Entwicklung der Arbeitskräfte im Werkzeugbau prognostiziere. Da waren mal 1000 ...
Burchardt: Stellvertretend für die gesamte Wirtschaft.
Modrow: Genau so, da waren mal 1000 Leute, jetzt waren es noch knapp 700, und der wollte von mir wissen, wie er den nächsten Plan machen soll, was im Jahre 1962 vielleicht noch im Werkzeugmaschinenbau sein sollte. Ja, und ich erlebte ständig, dass die Zahl nach unten geht. Und was man heute vergisst, ist, dass eben diese Leute dann in Westberlin arbeiteten, ein Teil ihres Einkommens in Westgeld bekamen, die hatten dann die Möglichkeit, eine Westmark tauschten sie in sechs Ost um und lebten damit, und das waren Gegensätze, die sich innerhalb – bleiben wir mal ruhig in der damaligen Begrifflichkeit – des Ostens Berlins auch aufbauten. Es war nicht nur so, dass die oben darüber diskutieren. Wir waren da auch in dem Sinne eine geteilte Stadt, wo die einen einen großen Vorteil davon hatten und die anderen Nachteile für sich sahen.
Burchardt: Es ist ja so gesehen, wenn ich da vorgreifen darf, fast ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet der kapitalistische Westen, oder, sprich mal ganz deutlich, Franz Josef Strauß einen Ein-Milliarden-Kredit für die DDR auf den Weg bringen musste, um das System zu stabilisieren.
Modrow: Ja, aber ich denke, es gab da eben auch einen Hintergrund, der, wenn man es genauer nimmt, zu 1961 auch passt. Wer war denn international in diesen Phasen besonders daran interessiert, dass das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten absolut aus dem Ruder läuft? Weder der Westen war da interessiert noch der Osten. Wir tun heute so, als waren alles nur deutsch-deutsche Fragen. Die vier Siegermächte haben ihr Interesse an dem jeweiligen deutschen Staat, auf den sie Einfluss nahmen, nie aufgegeben und ihre volle Souveränität beiden Staaten auch nie gewährt.
Burchardt: Vielleicht noch ein Wort zu den 60er-Jahren. 1968 und 1964 gab es jeweils überarbeitete, man kann eigentlich sagen, neue DDR-Verfassungen, insgesamt gesehen gab es ja in der Geschichte der DDR drei Verfassungen. Waren eigentlich diese Überarbeitungen wirklich nötig, denn es war ja nicht daraus ersichtlich, dass es nun fundamental neue Verfassungsgrundsätze gab?
Modrow: Zunächst, denke ich, haben beide deutsche Staaten bei ihren Verfassungen 1949 eine sehr große – und das halte ich für positiv – Anleihe an Weimar genommen, denn wenn man genauer hinschaut, sind ja da auch dann viele Inhalte zwischen beiden deutschen Verfassungen, die sich aus Weimar ergeben. Dass dann aber eine Situation einsetzt in der DDR, die mit zwei Nationen ein Volk, mit zwei Nationen und, und, eintritt und sich das auf Verfassung auswirkt, war, nach meiner Meinung, eine Situation, wo falsche theoretische Auffassungen eine Rolle mitspielen.
Burchardt: Aber das Ziel der Deutschen Einheit war eigentlich in beiden Verfassungen doch immer da?
Modrow: Ja, aber beide Verfassungen hatten immer am Ende die Vorstellung, dass das System, das die jeweilige Verfassung prägt, sich dann dem anderen gegenüber durchsetzt, denn in der alten Bundesrepublik war man immer mit seiner Verfassung auf das Ziel ausgerichtet, stärker sogar als die erste DDR-Verfassung, dass man ja geteiltes Deutschland hat und den Weg zur Vereinigung während ja die erste DDR-Verfassung so zu lesen war, wir haben eine deutsche Verfassung und die anderen werden diese Verfassung nicht durch einen Beitritt, sondern den werden sie einfach nehmen, weil wir ja eine Vereinigung Deutschlands in einer Art herbeiführen, wo dann die sozialistische Perspektive der Weg sein wird, wo wir uns dann nicht mehr strittig gegenüberstehen, sondern wo wir gemeinsam diese Zukunft nehmen.
Burchardt: Herr Modrow, haben Sie das wirklich damals 1:1 geglaubt, dass das möglich sein würde?
Modrow: Nicht 1:1 geglaubt, aber auf jeden Fall ist ja, und das ist ja der Vorwurf, den ich erlebe, der kleine Vers in der DDR-Hymne "Deutschland, einig Vaterland" etwas, was ich bei meinem Dreistufenplan am 1. Februar 1990 als Überschrift setze, als Motto setzte, Deutschland, einig Vaterland. Ich kann ja nicht so tun, als hätte ich das nicht in bestimmter Weise verinnerlicht, wenn ich 1990 mit Recht sage: Ich habe diese Zeile nicht von der Straße geholt, sondern aus der Hymne der DDR genommen.
Burchardt: Tatsächlich? Denn ich meine, es gab ja damals zunächst mal die Slogans "Wir sind das Volk" und dann später "Wir sind ein Volk". War das nicht eine Animation?
Modrow: Für dieses "Wir sind ein Volk" hatte ich einfach ein Verständnis, aber eben den Vorbehalt: In welchem Maße wird es ein souveränes Aufeinander-Zugehen sein? Und ich habe ja immerhin am 30. Januar, gut zehn Tage, bevor Herr Kohl in Moskau war, mit Gorbatschow über diesen Dreistufenplan verhandelt und diskutiert. Es war kein Moskauer Konzept, es war unseres. Wir sind nicht, wie es früher üblich war, nach Moskau eingeladen worden und bekamen von Moskau ein Dokument, sondern wir haben unser Dokument nach Moskau getragen. Und die Diskussionsfrage, die ja das Kernproblem dann geworden ist, war die Frage der militärischen Neutralität, und da war ich für "Deutschland, einig Vaterland" als ein militärisch Neutrales.
Burchardt: Wären Sie denn nachträglich betrachtet auch ein Befürworter der Stalin-Note von 1952 gewesen?
Modrow: Ja; diese Überzeugung hatte ich und habe dafür auch einen Partner in der Führungsspitze der KPdSU gehabt, das war Valentin Falin. Falin war der Sekretär für die Außenbeziehungen der KPdSU, er war in Berlin, ich glaube, es war der 20. oder 21. November.
Burchardt: Der war damals ein Jungstar ...
Modrow: Und der 1989, wo er mit Krenz und mit mir über seine Idee eine Konföderation weiterdiskutiert und er gehört ja zu denen, die bereits Anfang der 50er und in den 50er-Jahren als Germanist zu den Beratern in der Führung der KPdSU oder dem Außenministerium zählt, und Falin hatte dieses Konzept der Konföderation ganz tief verinnerlicht.
Modrow: Biermann bekommt keine Rückreise und man überlegt nicht, welche Nachwirkungen entstehen.
Sprecher: Dissidenten.
Burchardt: In den 70er-Jahren wurde Biermann ausgewiesen, so zumindest ist die offizielle Lesart, 1976, was insbesondere in Westdeutschland natürlich schon ein ziemlich happiges Signal war. Es erschien auch das Buch von Bahro, der damals für einen neuen Weg in der Wirtschaftspolitik plädierte, weil er offensichtlich auch sah, dass die DDR auf so etwas wie einen Staatsbankrott hinauslief. Sie haben das selber ja auch ein bisschen angedeutet mit Ihren eigenen Erfahrungen. Was hätte man da anders machen müssen?
Modrow: Man hätte vorher nachdenken müssen zunächst, was aus Schritten dieser Art entsteht. Ich bleibe mal zunächst in dem Rahmen sozusagen der Politik, die in dieser Zeit ja von der SED-Führung gestaltet wurde.
Burchardt: Aber es war doch wahrscheinlich falsch, Bahro einzusperren?
Modrow: Ja, sie haben einfach nicht darüber nachgedacht, welche Folgen es für ihre eigene Politik hat, wenn sie in dieser Weise handeln. Da beginnt mein Problem.
Burchardt: War die Staatsführung überfordert in der Zeit?
Modrow: Die war nach meiner tiefen Überzeugung überfordert, denn Krug bringt das ja in einem seiner Erinnerungen wieder, wie Werner Lambertz mit ihm sitzt und diskutiert, dass er bleiben soll, dass er nicht weggehen soll, und dort beginnt für mich das Problem. Biermann bekommt keine Rückreise und man überlegt nicht, welche Nachwirkungen entstehen. Man glaubt, man schafft sich einen vom Hals und begreift nicht, dass man in Wirklichkeit das Schneeballsystem auslöst und dass nun die Lawine zu laufen beginnt.
Burchardt: Wollte man damit irrtümlicherweise Stärke beweisen?
Modrow: Man wollte die Lawine nicht, sondern man wollte zeigen: Mit uns kann man nicht spielen. Und alle anderen sollten das Signal bekommen: Steht fest zur DDR, und genau das funktionierte nicht.
Burchardt: Es gab dann in den 80er-Jahren ja auch noch mal einen Versuch der SPD, durch das sogenannte Streitpapier mit der SED so etwas wie eine, ja, das, was in der Ostpolitik prinzipiell ja Wandel durch Annäherung hieß, von Egon Bahr und Willy Brandt initiiert, das das Ganze fortschreiben sollte. War da nicht noch mal eine letzte Möglichkeit gegeben, mit einer politischen Institution, die auch, wenn sie nicht an der Regierung war, so doch Einfluss hatte in der Bundesrepublik, im Westen also, etwas mehr Gemeinsamkeit auf den Weg zu bringen?
Modrow: Ich denke, man soll im Nachgang die Vielzahl von Begegnungen und Kontakte der 80er-Jahre zwischen der SED und der SPD nicht nur auf diese Verhandlungen, die Eppler und Erich Hahn und wer auch immer von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften im Spiel war. Ich habe Oskar Lafontaine 1982 kennengelernt. Er war mein Gast in Dresden, da war er noch der Bürgermeister, er kam als Ministerpräsident nach Dresden. Ich habe Mitte der 80er-Jahre Björn Engholm kennengelernt und wir trafen uns im Dezember jedes Jahr, ich habe also in der Zeit Sozialdemokraten kennengelernt, Schröder war mein Gast 1985.
Burchardt: Aber war das, mal etwas flapsig formuliert, nicht eher Ihr Privatvergnügen? Wurde das nicht auch ein bisschen argwöhnisch beäugt von der SED-Führung?
Modrow: Ja, es war insofern kein Privatvergnügen, das hat mir Willy Brandt dann als Kollege im Deutschen Bundestag noch mal sehr bewusst gemacht und mir gesagt: Du musst eines wissen. Du hast ja verfolgt, wenn Sozialdemokraten in der DDR waren, dass wir nach Dresden wollten, und meine skandinavischen Freunde hatten mir gesagt, in Dresden bekommt man nicht den Leitartikel des neuen Deutschland vorgelesen und kann man miteinander sprechen. Und das haben wir dann über diese Besuche auch erlebt und deshalb wollten wir, weil wir miteinander sprechen können. Und da, meine ich, hätte ein starker Strang im Interesse beider Seiten entwickelt werden können.
Burchardt: Wie haben Sie denn in diesem Zusammenhang den Besuch von Erich Honecker 1987 in Bonn beurteilt?
Modrow: Zunächst, denke ich, war es für die Bundesrepublik eindeutig ein beachtlich großes Zugeständnis, denn man kam nicht darum hin, den roten Teppich auszurollen. Es war also kein Arbeitsbesuch. Und da ich mich dann ja später mit Diplomatie auch ein wenig beschäftigen musste, war das ein hoher Rang, der in diesem Besuch lag, und das war die Forderung, die Honecker auch gestellt hat und man ist auf ihn so zugegangen. Dass damit natürlich auch das Bewusstsein Honeckers – er ist der Repräsentant des zweiten souveränen Deutschland und es wird sozusagen diese beiden Deutschlands noch im nächsten Jahrhundert geben –, dass das alles dieses Bewusstsein stärkt, ist doch verständlich. Und er weiß auch: Selbst Gorbatschow will nicht, dass er dahinreist, nicht nur der Tschernenko, der es vorher nicht wollte und die sowjetische Außenpolitik – auch da empfindet er einen Sieg, den Kohl auch mit getragen hat. Ich denke, man muss halt auch diese Momente mit sehen, wenn man heute darüber so wohlhistorisch urteilt, als auch das Empfinden von Menschen betrachtet.
Burchardt: Wenn Sie sagen, Gorbatschow war dagegen – war das dann auch sozusagen noch mal ein Ärmel aufkrempeln gegen Glasnost und Perestroika, wie es ja eigentlich von Honecker bis zum Schluss versucht wurde?
Modrow: Nein, das war nach meiner Überzeugung nicht die Haltung. Gorbatschow wollte vor Honecker im Spiel sein. Das war das Problem. Und diese Haltung Gorbatschows und dass er der Erste sein muss in bestimmten Zusammenhängen, die hat ihn ja auch für China bewegt. Er kam später als Honecker, später als Jaruzelski, nach China zu Deng Xiaoping, das heißt: Gorbatschow war auch darauf aus, dass seine internationale Reputation stärker ist als die anderer, denn er hatte ja das Vakuum, das Breschnew hinterlassen, was auch von den nachfolgenden Spitzen der Sowjetunion nicht ausgeglichen war, da wollte er rein. Man darf das auch von dieser Seite aus nicht unterschätzen, was da abspielte.
Burchardt: Herr Modrow zu Ihnen persönlich in dieser Zeit. Sie waren damals in Dresden, in hoher Funktion, und es war ja nach den – da Sie Peking oder China erwähnt haben gerade – nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit Gewalt gegen Studenten, was dann ja auch durchaus erörtert wurde in der Staatsführung der DDR, auf dem Höhepunkt der Protestaktion in Leipzig, in Berlin usw. Sie selbst haben – muss man den Eindruck haben – sich gewandelt vom Saulus zum Paulus, wenn man das so sagen darf. Sie haben zunächst mal in Dresden mit harter Hand durchgegriffen, Sie haben aber dann das Gespräch mit der sogenannten Gruppe der 20er gesucht, Sie haben also auf Dialog gesetzt. Was war für Sie da das Motiv?
Modrow: Zunächst, was die harte Hand betrifft: Auch dort, wer hat denn – bleiben wir bei Ihrem Wort "harte Hand" – wer hat denn eine harte Hand abgefordert? Wenn Herr Genscher und Herr Seiders nach Prag reisen und dort vor Tausenden sagen, sie können jetzt direkt in die Bundesrepublik reisen, und sich dann aber mit der DDR engagieren, dass diese Reise nicht über Cheb nach Waldsassen geht, sondern dass die über Bad Schandau nach Dresden und dann über das Territorium der Bundesrepublik geht, dann mögen auch diese beiden Politiker sich befragen.
Burchardt: Sie haben also praktisch gesagt, bei uns am Bahnhof findet nichts statt.
Modrow: So haben sie die Verantwortung dafür getragen, dass sich das so vollzieht. Und ich werde abends vom Verkehrsminister der DDR Otto Arndt aufgefordert, alle Unterstützung zu organisieren, damit diese drei Züge, die da fahren, ohne Stopp durch Dresden gehen, weil er mir eindeutig sagte, wir beide ändern daran nichts mehr. Du kannst mit mir reden, so viel Du willst, ich habe keine Entscheidung mehr. Entschieden ist an der Spitze. Wir können beide nur noch handeln. Und die Transportpolizei wird den Bahnhof nicht frei haben. Und dann kann passieren, dass die drei Züge gestoppt werden und es wird Tote geben, das ist unsere Verantwortung. Und aus der habe ich gehandelt. Und insofern, wenn das eine harte Hand ist, dass man mitgeholfen hat, dass Menschen nicht in ein Chaos und eine Katastrophe kommen, dann stehe ich selbst dafür ein.
Modrow: Das Wort "verbittert" habe ich für mein Leben nie auf- und angenommen, und ich empfinde es auch nicht so.
Sprecher: Ernüchterung.
Burchardt: Sie hatten vorhin zum Eingang das Stichwort Konföderation eingebracht, und insofern interessiert mich natürlich noch Ihre Rolle als Ministerpräsident der DDR in diesen vier Monaten um die Jahreswende 1989/90, auch Ihre Kontakte mit Helmut Kohl. Zunächst hatten Sie offensichtlich ganz gute Gespräche, aber zum Schluss hat man sich überhaupt nicht mehr verstanden. Hatte das etwas damit zu tun, dass Sie Ihren Dreipunkteplan hatten, Kohl seinen Zehnpunkteplan und dass Sie nach wie vor auf die Konföderation setzten, während Kohl wohl schon damals auch von Gorbatschow doch initiiert auf eine vollständige deutsche Einheit unter westlicher Führung, wenn man das mal so sagen darf, setzte?
Modrow: Zunächst, was diesen Teil Ihrer Fragestellung anbetrifft, spielt da, glaube ich, in gewissem Umfange eine Rolle und spielt mit. Aber da laufen Zusammenhänge und sind Probleme enthalten, die wir gewiss jetzt nicht mehr erörtern können. Aber dort geht es um eine Kernfrage, das ist die NATO. Und dieses NATO-Problem war mit dem vereinigten Deutschland insoweit verbunden, wird die Bundesrepublik militärisch neutral, ist diese Entscheidung gefallen. Die Außenpolitik der USA wird sehr, sehr aktiv. Am 8. und 9. Februar ist Baker in Moskau 1990, und diese Frage, militärisch neutral, bringt er vom Tisch, nicht Helmut Kohl. Was aber bei Kohl und seinen Wandel betrifft, ist es ein ganz anderer Zusammenhang. In dem Moment, wo klar ist, es wird am 18. März in der DDR eine Wahl sein, zieht Kohl in den Wahlkampf. Und dort bin ich für ihn der politische Gegner, gegen den er den Wahlkampf führt und organisiert, mit ganz üblen Verleumdungen, die dann eine Rolle spielen, die zum Glück dann aber völkerrechtlich in eine andere Ordnung kommen, so unter anderem zu den Fragen des Verkaufes von Häusern, der Bodenreform und anderem. Wo eindeutig klar ist, ich höre dann, dass ich nichts weiter vorhabe, als einem Dutzend Leuten aus der Regierung ein Haus zuzuschieben, wo wir, die wir entscheiden, dass diese Bürger, die in diesen Häusern wohnen, die dem Staat gehören, oder die ein Haus haben, wo der Boden nicht geklärt ist, auf dem es steht, wo wir das entscheiden, bin ich der, der da ein paar Leute bedienen will. Dass wir in Wirklichkeit für Hunderttausende uns einsetzen, ist in den Gerichtssälen dann mit dem Modrow-Gesetz behandelt worden. Aber das waren dann die politischen Angriffe. Und herausgekommen ist ja schließlich mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, dass ein beigefügter Brief die Bodenreform und die Enteignung von 45 bis 49 durch die sowjetische Militäradministration, zu der wir uns am 1. März 90 bekannten, auch völkerrechtlich aufgenommen hat.
Burchardt: Sind Sie verbittert, nachträglich betrachtet, über diese Ereignisse, auch vor dem Hintergrund, dass man Ihnen ja auch Wahlfälschungen vorgeworfen hat, dass da auch Gerichtsurteile dann relevant wurden, die zwar dann wieder zurückgenommen wurden bzw. amnestiert wurden? Ist das für Sie auch so etwas wie eine Siegerjustiz gewesen, die da am Werk war?
Modrow: Das Wort "verbittert" habe ich für mein Leben nie auf- und angenommen, und ich empfinde es auch nicht so, sondern eines habe ich vor allem zu dieser Phase aufgenommen, als der Graf von Lambsdorff mir im Deutschen Bundestag den Vorwurf gemacht hat, ich sei der einzige Ministerpräsident in der deutschen Geschichte, der im Zusammenhang mit all diesen Fragen gewissermaßen eine dritte Macht ins Spiel bringt, um Interessen der Bürger, des eigenen Volkes oder Landes oder wie man will dann nicht mehr wahrzunehmen. Da habe ich mir im Stillen gedacht: Ja, die von Lambsdorffs saßen auf den Gütern und die Modrows saßen wie viele andere in der Kate. Und da bin ich dann wieder zu Brecht zurückgegangen und habe mir gesagt: Der Regen fließt eben von oben nach unten und nicht von unten nach oben. Er setzt dann da zu und Du hast einen Klassenfeind.
Modrow: Wir erleben ein Gesamteuropa, dass die Linke – und ich glaube nicht, dass das für die Länder besonders gut – sehr schwach ist.
Sprecher: Zukunft der Linken in Deutschland.
Burchardt: Sie sind ja PDS-Mitglied geworden und somit dann auch Mitglied der Linken. Gegenüber der Linken sind Sie allerdings ziemlich skeptisch. Wie beurteilen Sie denn im Augenblick die Position der Linken im gesamtpolitischen Spektrum in Deutschland?
Modrow: Wir leben in einer Situation, wo eine völlig neue Lage unter den Parteien dahingehend entstanden ist, dass wir ein Fünf-Parteien-System haben. Die Bundesrepublik hat begonnen mit drei Parteien, und die – bleiben wir bei der Farbenlehre – und die Gelben waren immer die, die entschieden haben, wer regiert. Das hörte auf, als die Grünen dazukamen, da musste jeder sehen, dass er einen Partner findet, um regieren zu können. Und jetzt haben wir gewissermaßen den fünften Partner, und der soll am Katzentisch sitzen. Ich halte das einfach für eine Situation, die sich nicht aufrechterhalten lässt. Wir erleben ja jetzt, dass der große Streit in der Großen Koalition abläuft, wir hören, dass der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern mit einem feststellt als der Regierungschef, der aus Schleswig-Holstein kommt, dass das mit der These, die DDR war ein durchgängig Unrechtsstaat, doch historisch zu prüfen sei, und dass es mehr ein politischer und kein wieder juristisch oder staatsrechtlicher Ausdruck sei. Und alle streiten und fallen über den Mann her. Was ich sehe, ist, dass die Linke in einen Prozess gekommen ist, den ich zunächst als sehr positiv betrachte. Die linken Kräfte in der alten DDR kamen über die PDS, die linken Kräfte in diesem Zusammenhang in der alten BRD kamen über die Gewerkschaften, über linke Sozialdemokraten und ein gewisses Sammelsurium. Sie haben eine Partei gegründet. Die politischen Umstände zwangen zu einem schnellen Tempo, wenn man bei Wahlen etwas erreichen will. Und was ich jetzt sehe, ist, dass man versäumt, nachzuholen, was eigentlich im Vorfeld hätte intensiver geschehen sollen, miteinander über eine Programmatik der Partei zu diskutieren. Denn wir erleben ein Gesamteuropa, dass die Linke – und ich glaube nicht, dass das für die Länder besonders gut – sehr schwach ist. Die Balancen in den Ländern gehen politisch in eine Schieflage. Und ich verstehe Müntefering ganz gut, wenn er jetzt sagt, lasst uns mal in Ruhe über etwas nachdenken. Vorher stürzt Beck darüber, was er im Nachgang in Ruhe betrachten möchte. Die bundesdeutsche Politik ist in eine Bewegung geraten, wo sich alle Parteien im Moment sehr schwer damit tun, und die Linke auch, und da ist meine Kritik. Die Linke muss, glaube ich, ihre Chancen mit einem gewissen Abstand in sich und für sich selber betrachten und diskutieren und von dort aus ableiten, wo ist in dieser Gesellschaft unser Platz. Und sie hat dadurch, dass wir ja nun in einer Krise, nicht nur der Finanzkrise stecken. Wir werden in eine Krise des Systems kommen, die sehr tief sein wird, die heute noch gar nicht in ihrer Tiefe zu übersehen ist. Denn wir haben 20 Jahre eine Welt ohne den realen Sozialismus, und die Verwerfungen im realen Kapitalismus sind in einem Tempo gewachsen und entstanden, die gewiss auf keiner Seite jemand vorausgesehen hat. Und die nächsten zehn Jahre werden uns auf dem Gebiet weiter beschäftigen. Und da, glaube ich, ist es sogar gesellschaftlich notwendig, dass eine linke Kraft da ist, die in diesen Prozessen mit einem Profil und auch mit einer alternativen Programmatik auftritt.
Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Hans Modrow.
Hans Modrow: Es ist eine Geschichte, die hinter uns liegt.
Sprecher: Deutsche Melancholie.
Rainer Burchardt: Doktor Modrow, in diesen Tagen überborden die Feierlichkeiten 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Welche Gefühle beschleichen Sie eigentlich bei diesen Aktionen und bei diesem Festakt?
Modrow: Ich will nicht verschweigen, dass das ein sehr zwiespältiges Erleben ist. Ich bin 1949 dabei, wo die DDR gegründet wird, als junger FDJ-Funktionär erlebe ich die große Demonstration, und unsere Haltung zur Bundesrepublik haben wir ja dann mit unserem Leben irgendwo weitergetragen. Dann bin ich ein Abgeordneter in der Volkskammer der DDR und werde ein Abgeordneter des Deutschen Bundestages und da kann man nicht nur von Distanzen sprechen, ich erlebe aber auch im Deutschen Bundestag, wie ich in einer sehr groben Art angegriffen werde und wie alles seine Zeit braucht, ehe man miteinander überhaupt ins Gespräch kommen kann, so dass ich heute sagen würde: Es ist eine Geschichte, die hinter uns liegt und wichtig scheint mir, dass man mit Reife von allen Seiten darauf schaut und bereit ist, Lehren und Erfahrungen daraus abzuleiten, die uns ein wenig helfen, auch international vertrauensvoller betrachtet zu werden und einen anderen Blick in die Zukunft zu bekommen, als wir ihn im Moment unter uns noch sehr strittig haben.
Burchardt: Gab oder gibt es für Sie noch eine Vorstellung davon, dass man auch hätte sagen können: 60 Jahre DDR?
Modrow: Eigentlich als stiller Wunsch ja, aber mit dem realen Denken und dem Verstand, mit dem man ja nun die Jahre und die Ereignisse nicht nur erlebt, sondern auch mit beeinflusst hat, würde ich sagen, leider nein.
Modrow: Ich war der Zugführer dieser Feuerwehreinheit.
Sprecher: Nationalsozialismus und Kriegsgefangenschaft.
Burchardt: Sie kommen aus einer, ja, man kann mit Ihren Begriffen von damals sagen, vielleicht proletarischen Familie. Ihr Vater war Bäcker und auch Seemann, so ist zu lesen. Sie sind, vermute ich mal, sehr stringent aufgezogen worden. Wie ist es damals gewesen? Sie sind Jahrgang 1928, Sie haben als Junge natürlich auch den heraufziehenden Nationalsozialismus und den Weltkrieg erleben müssen. Wie haben Sie dieses überstanden?
Modrow: Zunächst das familiäre Leben, der Vater war Seemann und das bestimmte sein Leben und auch sein Verhalten zu seinen beiden Söhnen. Wehe, einer von euch kommt auf die Idee, ein Bäcker werden zu wollen. Da kriegt man nur X-Beine, das war seine klare Haltung, ...
Burchardt: Aha, nicht, man muss kleine Brötchen backen.
Modrow: ... sondern er war voll darauf aus, dass beide Jungs Seeleute werden. Mein Bruder ist es geworden und bei mir, muss ich wieder sagen, war der Augenarzt offensichtlich auch ein guter Psychologe. Als der meine Sehtüchtigkeit prüfte, in diesem Fall also mit dem "h" geschrieben, sagte der Junge: Du bist nicht farbendumm, aber farbenblind, Seemann kannst du nicht werden, so dass ich den Beruf eines Maschinenschlossers erwählte, um dann doch wieder auch mit dem alten Wunsch, zur See zu gehen und in der Maschine zu fahren, wie der Ausdruck war, um den es sich damals handelte, sozusagen unten ...
Burchardt: ... als Heizer.
Modrow: Na, vielleicht wäre ich auch ein Chief geworden, je nachdem, denn geheizt wurde zu dem Zeitpunkt auch schon nicht mehr ganz mit Kohle, man begann schon mit der Dieselmaschine.
Burchardt: Gab es irgendeinen Einfluss der Nationalsozialisten oder dieser gesamten Ideologie auf den jungen Hans Modrow?
Modrow: Den gab es, den gab es auch ausgeprägt, denn wenn man bereit ist, noch im Januar 1945 mit Überzeugung in den Volkssturm zu gehen, dann war es das.
Burchardt: Da waren Sie überzeugt.
Modrow: Da war ich überzeugt. Und es war auch einfach damit verbunden, dass wir in unserem Dorf, Jasenitz – heute Jasienica, unweit von Szczecin, damals Stettin – mit einer Jugendfeuerwehr gearbeitet haben. Ich war der Zugführer dieser Feuerwehreinheit und wir waren in Stettin, wir waren auch in diesem Hydrierwerk Pölitz, in dem ich lernte, im Einsatz, haben gelöscht.
Burchardt: Sie sind dann bei Kriegsende – logischerweise, muss man sagen – in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. Hat da etwas wie eine Umerziehung oder ein neues Bewusstsein für Sie Platz gegriffen?
Modrow: Zunächst, vielleicht mag es für manche Ohren abwegig klingen, begann die Ersterziehung durch das Verhalten der Kriegsgefangenen untereinander. Dann erlebe ich aber in der Gefangenschaft, dass wir die jungen Burschen sind, die für den Feldwebel und was wir alles für Dienstgrade dann hatten sozusagen die Paslacks wurden und das gefiel uns gleich überhaupt nicht, und die Auseinandersetzungen liefen dann zwischen uns, ich war 17 Jahre alt, und denen, die dann so gegen 30 waren. Dort begannen die ersten Auseinandersetzungen, wo mir klar war: Diese Vorbilder, die du mal gesehen hast, die gibt es nicht. Ich wurde dann Ende 1947 angesprochen, ob ich bereit wäre, auf eine Antifa-Schule zu gehen und ich habe dem zugestimmt und bin dann sechs Monate zunächst als Kursant in Rjasan, das ist unweit, vielleicht 250 Kilometer, von Moskau, und von dort dann nach Ogre bei Riga mit der Schule umgesiedelt und war ein junger Assistent, und bin mit gerade 21 Jahren zurückgekommen und galt für diese damaligen Verhältnisse in der sowjetischen Zone als ein gebildeter, junger Marxist.
Modrow: Europa steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte.
Sprecher: Wege zur deutschen Teilung.
Burchardt: Haben Sie selbst die Gründung der DDR und eine Verfassung, die zwar auch dort die Deutsche Einheit als Ziel mit angesprochen hat, aber auf der anderen Seite doch so etwas wie ein Teilungspapier war, haben Sie das begrüßt?
Modrow: Ich habe begrüßt, mit der Verfassung waren wir uns als junge Leute noch nicht so unmittelbar beschäftigt wie mir das später auch in der Volkskammer der DDR begegnet ist. Es gab einen Ausspruch von Stalin zu der Zeit, der uns am stärksten beeinflusst hat, wo er formuliert: Europa steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte, und die DDR ist sozusagen ein Ausdruck dieses Wendepunktes. Das war das, was uns damals sehr beeinflusst hat und damit sind wir auch in die Gründung der DDR gegangen. Wir gestalten einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte, das ist unser Beitrag, den wir als junge Leute dafür leisten.
Burchardt: Dem vorausgegangen ist natürlich das, was man nachträglich die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED nennt. War das eigentlich in ihren Augen in Ordnung, war das notwendig?
Modrow: Die habe ich ja unmittelbar gar nicht erlebt, ich war in der Gefangenschaft und komme zurück und bin, wie ich schon sagte, ein gebildeter, junger Marxist, habe aber zunächst, beeinflusst durch meinen Lehrer an der Antifa-Schule, die entschiedene Forderung: Ich gehe in meinem Beruf als Schlosser in den Betrieb und beginne nicht in Politik. Aber es ergibt sich natürlich, dass ich damit auch Begegnungen habe und erlebe eben die Parität in der Führung der SED, und mein erstes richtiges, wie wir es damals nannten, Kadergespräch hatte ich mit dem paritätischen Landesvorsitzenden in Brandenburg. Es war Genosse Bismarck – sein Name ist nur noch mit großer Geschichte, aber nicht aus der Verwandtschaft des Adels der Bismarcks verbunden –, und der war ein väterlicher Freund, der mit mir darüber sprach, dass ich doch in die Politik gehen solle und müsste und der sehr beeinflusst hat, dass ich ein Jugendfunktionär geworden bin, so dass ich damit überhaupt keine Distanz dazu hatte.
Burchardt: Sie haben ja auch eigentlich nichts ausgelassen, FDJ, dann Gewerkschaftsmitglied, also FDGB, SED-Mitglied – für jemanden, der heute sagt, er wolle nicht in die Politik, ist das ja einigermaßen erstaunlich.
Modrow: Gut, aber es war ja dann die Frage: Wird es ein Lebensberuf?
Modrow: Man weiß nicht alles, aber man muss eine Hoffnung, eine Überzeugung haben.
Sprecher: Erosionen im Ostblock.
Burchardt: Sie haben dann Wirtschaftswissenschaften studiert, man würde heute sagen, auf dem zweiten Bildungsweg. Sie sind Wirtschaftswissenschaftler geworden, das natürlich auch in einer hohen, spannenden Zeit, in den 50er-Jahren, wo es auch so etwas wie die ersten Erosionen im Ostblock gegeben hat, Stalins Tod im März 1953 und dann vor allem am 17. Juni 1953 auch in der DDR. War das nicht ein erstes Warnsignal auch für einen bekennenden Marxisten?
Modrow: Eigentlich zu dem Zeitpunkt, in den Zusammenhängen, die Sie fragen, nicht unmittelbar, aber in ihrer Frage liegt ja ein anderes Problem. Ich erlebe den Tod Stalins 1953 als Student in Moskau, und dann erlebe ich den 20. Parteitag, höre, was Chruschtschow über Stalin sagt und ziehe eine Lehre, das will ich sagen, für mein ganzes Leben und die ist auch geblieben. War Stalin vorher nun doch etwas eine gottähnliche Gestalt, war mir bewusst: Unter Menschen gibt es keine Götter.
Burchardt: Und die Grausamkeiten des Stalinismus, waren die bekannt und waren die nicht auch etwas ...
Modrow: Die kamen erst mit dem 20. Parteitag der KPdSU, und dort war wieder eine beachtliche, ich will das ruhig so sagen, Hilfe für bestimmtes Verständnis durch meinen 1. Bezirkssekretär der SED, Alfred Neumann, denn Alfred Neumann war als junger Sportler 1933 in die Sowjetunion in die Emigration. Er hätte sonst ein Schicksal wie Seelenbinder haben können, denn er war ausgewählt für die deutsche Olympiamannschaft als Zehnkämpfer, war ein Sportlehrer in Moskau in einem großen Autowerk, und meldet sich freiwillig nach Spanien und erklärt mir dann nach diesem 20. Parteitag, dass er nicht nur nach Spanien gegangen ist aus Patriotismus, sondern auch mit dem Bewusstsein: Vermeide, dass du nach Sibirien gehst. Das sind aber auch wieder diese sehr gemischten Gefühle, und jeder, der glaubt, dass das alles geradlinig in unserem Leben war: Es war eben nicht so. Es kommt auf der einen Seite das Begreifen und Erkennen und dann wieder die Hoffnung, dass da so richtig ist und das war auch ein Ausspruch, der für mich auch sehr prägend blieb, wo Alfred Neumann dann sagt, weißt du, man weiß nicht alles, aber man muss eine Hoffnung, eine Überzeugung haben.
Burchardt: Herr Modrow, höre ich daraus, dass Sie die Ereignisse des 17. Juni 1953 nicht für gerechtfertigt gehalten haben?
Modrow: Die Ereignisse von 1953, die habe ich ja in Moskau erlebt. Ich bin gar nicht in Berlin, als sie ablaufen, und in Moskau spielt das keine besondere Rolle.
Burchardt: Aber das Volk der DDR litt unter dieser Heraufsetzung der geforderten Norm.
Modrow: Ja, aber wir sitzen in Moskau und haben keinen Bezug dazu. Ein wirkliches Verhältnis zu den Ereignissen bekomme ich, nachdem ich aus der Sowjetunion zurückkehre nach Berlin.
Burchardt: Es setzte dann ja das, was man die Entstalinisierung nennt, ein. In dem Zusammenhang gesprochen: War das eine richtige Reaktion auch der Staatsführung der DDR? Ulbricht hat sich da ja sehr stark gemacht.
Modrow: Ich denke, es war ein berechtigter Versuch, den Sie ja nannten: voran im neuen Kurs. Und als ich im August 1953 in Berlin als 1. Sekretär der FDJ-Bezirksleitung und dann auch in die SED-Leitung gewählt werde, ist das sozusagen das Konzept der Politik. Wir fahren einen neuen Kurs. Und den nehme ich auch auf als Korrektur dessen, was falsch gelaufen ist, der Dinge, die überzogen waren im Prinzip mit all den sehr administrativen Formen von Normen und Ähnlichem, von denen ich ja nun insofern etwas verstand, weil ich ja selber nach Normen schon gearbeitet habe 1949. Es war ja für mich nicht die sozusagen ganz fremde Welt. Das war mein Vorteil auch, dass ich nach der Gefangenschaft auch das Erleben hatte und darum nahm ich das als eine Korrektur an und als ein Bemühen, in dem ich nun selber einbezogen bin, dass wir sozusagen einen neuen Kurs machen.
Burchardt: Neuer Kurs ist natürlich auch ein Stichwort für das, was sich 1956 in Budapest abspielte, dann in Prag 1968, bis hin zur Solidarność in Polen, alles dieses sind ja punktuelle Ereignisse, die man vielleicht als Erosionen des Ostblocks bezeichnen könnte. Dazwischen kam 1961 der Mauerbau innerhalb der DDR. Auf wie wackligen Füßen haben Sie – Sie waren damals schon wichtiger Funktionär innerhalb der Führungsequipe der DDR –, wie haben Sie das empfunden? Waren das alles Warnzeichen oder waren das ausgeflippte Leute, die man wieder einfangen musste, wenn es sein musste, eben auch mit Kriegsrecht, wie in Polen oder mit Waffengewalt, wie in Budapest?
Modrow: Die Ereignisse in Ungarn laufen ja auch sehr parallel mit ganz anderen Ereignissen, zunächst in Polen: Gomułka kommt zurück und wird der 1. Sekretär. Das ist mit mal für uns eine Situation, dass jene, die erst, nehmen wir mal das Wort, in die Wüste geschickt werden, die man abberuft, was ja auch für Kader gilt, die erscheinen mit einem Mal und sind jene, die nun in diesen Ländern die Verantwortung in den Parteien übernehmen. Damit ist wieder so eine Situation, das eine erlebt man mit dem Gefühl: Warum muss es diese Gewalt geben? Und das andere ist wieder: Da kommt ein kommunistischer Führer an die Spitze, der ja eigentlich abberufen war, der jetzt wieder da ist, ein Hardliner. Welche Entwicklungen setzen ein? Die Sache ist in dieser Beziehung wesentlich komplizierter.
Burchardt: Gab es da interne Kontakte zwischen den Staatsführungen oder wurde alles aus Moskau mehr oder weniger gesteuert?
Modrow: Ich denke, es gab untereinander auch, denn es ist ja völlig klar, dass das bereits die Phase ist, bleiben wir zum Beispiel bei Polen, wo die direkten Grenzbeziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen immer eine Rolle spielen. Und eine Stabilität zwischen den beiden Ländern spielte immer eine Rolle, die wir ja auch vom Jugendverband versuchten mitzutragen. Für uns waren die Jugendverbände natürlich, Slowakei und Polen, in politischem Sinne – nach der sowjetischen Jugendorganisation – das Allerwichtigste, mit denen hielten wir Kontakte einfach, weil das ja auch für uns eine – so war es Verständnis –, eine Aufgabe war, die nachwachsenden Generationen in ein Freundschaftsverhältnis zu bekommen. Und das Problem Sudetendeutsche, Umsiedlungen und, und, begleitet uns ja in einer anderen Art und Weise, und da war schon unser Bemühen ... Aber das eigentliche Problem liegt, wenn Sie die Frage nach Erschütterungen stellen und nach Signalen, liegt natürlich in dem Verhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Dort trägt sich das viel stärker aus. Ohnedem ist ja schließlich dann also 1961 nicht erklärbar.
Modrow: Ich gehöre der Volkskammer der DDR an und habe dafür gestimmt, dass es geschieht.
Sprecher: Mauerbau.
Burchardt: War das gerechtfertigt? War das nicht die falsche Reaktion? Man merkte im Grunde genommen aus den letzten 15 Jahren, die Menschen in all diesen Staaten wollen mehr Freiheit, mehr Offenheit, und dann baut die DDR eine Mauer, einen antifaschistischen Schutzwall, wie es hieß?
Modrow: Da sind zwei Probleme, die hier eine Rolle spielen. Ich bin ja einer derer, die mit entscheiden, dass das geschieht, unmittelbar in der engeren Führung, aber ich gehöre der Volkskammer der DDR an ...
Burchardt: Und Sie haben dafür gestimmt.
Modrow: ... und habe dafür gestimmt, dass es geschieht. Und wir hatten insoweit Informationen, dass wir sehr wohl wussten, dass Kennedy und Chruschtschow in Wien ein sehr zugespitztes Gespräch hatten.
Burchardt: Das war im Juni, also zwei Monate vorher.
Modrow: Das war im Juni davor, und dort würde über die Frage Krieg oder Frieden, wird Westberlin, werden es die Sowjets in irgendeiner Weise anfassen, wo Rechte der drei anderen westlichen Mächte berührt werden, dass es dann auch zu Auseinandersetzungen gehen kann?
Burchardt: Wäre man darauf eingestellt gewesen im Osten?
Modrow: Wir waren darauf eingestellt, dass es dazu kommen könnte und das war auch ein wichtiges Motiv, dafür zu stimmen, und das Zweite: Ich bin in der Phase ab Januar 1961 in der Planung des größten Ostberliner Betriebes Elektroapparatewerke tätig, nachdem ich als Externer mein Ökonomiestudium gemacht habe. Und ich erlebe nun und bekomme von meinem Planungschef die fürchterliche Aufgabe, ihm immer wieder vorzulegen, wie ich die Entwicklung der Arbeitskräfte im Werkzeugbau prognostiziere. Da waren mal 1000 ...
Burchardt: Stellvertretend für die gesamte Wirtschaft.
Modrow: Genau so, da waren mal 1000 Leute, jetzt waren es noch knapp 700, und der wollte von mir wissen, wie er den nächsten Plan machen soll, was im Jahre 1962 vielleicht noch im Werkzeugmaschinenbau sein sollte. Ja, und ich erlebte ständig, dass die Zahl nach unten geht. Und was man heute vergisst, ist, dass eben diese Leute dann in Westberlin arbeiteten, ein Teil ihres Einkommens in Westgeld bekamen, die hatten dann die Möglichkeit, eine Westmark tauschten sie in sechs Ost um und lebten damit, und das waren Gegensätze, die sich innerhalb – bleiben wir mal ruhig in der damaligen Begrifflichkeit – des Ostens Berlins auch aufbauten. Es war nicht nur so, dass die oben darüber diskutieren. Wir waren da auch in dem Sinne eine geteilte Stadt, wo die einen einen großen Vorteil davon hatten und die anderen Nachteile für sich sahen.
Burchardt: Es ist ja so gesehen, wenn ich da vorgreifen darf, fast ein Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet der kapitalistische Westen, oder, sprich mal ganz deutlich, Franz Josef Strauß einen Ein-Milliarden-Kredit für die DDR auf den Weg bringen musste, um das System zu stabilisieren.
Modrow: Ja, aber ich denke, es gab da eben auch einen Hintergrund, der, wenn man es genauer nimmt, zu 1961 auch passt. Wer war denn international in diesen Phasen besonders daran interessiert, dass das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten absolut aus dem Ruder läuft? Weder der Westen war da interessiert noch der Osten. Wir tun heute so, als waren alles nur deutsch-deutsche Fragen. Die vier Siegermächte haben ihr Interesse an dem jeweiligen deutschen Staat, auf den sie Einfluss nahmen, nie aufgegeben und ihre volle Souveränität beiden Staaten auch nie gewährt.
Burchardt: Vielleicht noch ein Wort zu den 60er-Jahren. 1968 und 1964 gab es jeweils überarbeitete, man kann eigentlich sagen, neue DDR-Verfassungen, insgesamt gesehen gab es ja in der Geschichte der DDR drei Verfassungen. Waren eigentlich diese Überarbeitungen wirklich nötig, denn es war ja nicht daraus ersichtlich, dass es nun fundamental neue Verfassungsgrundsätze gab?
Modrow: Zunächst, denke ich, haben beide deutsche Staaten bei ihren Verfassungen 1949 eine sehr große – und das halte ich für positiv – Anleihe an Weimar genommen, denn wenn man genauer hinschaut, sind ja da auch dann viele Inhalte zwischen beiden deutschen Verfassungen, die sich aus Weimar ergeben. Dass dann aber eine Situation einsetzt in der DDR, die mit zwei Nationen ein Volk, mit zwei Nationen und, und, eintritt und sich das auf Verfassung auswirkt, war, nach meiner Meinung, eine Situation, wo falsche theoretische Auffassungen eine Rolle mitspielen.
Burchardt: Aber das Ziel der Deutschen Einheit war eigentlich in beiden Verfassungen doch immer da?
Modrow: Ja, aber beide Verfassungen hatten immer am Ende die Vorstellung, dass das System, das die jeweilige Verfassung prägt, sich dann dem anderen gegenüber durchsetzt, denn in der alten Bundesrepublik war man immer mit seiner Verfassung auf das Ziel ausgerichtet, stärker sogar als die erste DDR-Verfassung, dass man ja geteiltes Deutschland hat und den Weg zur Vereinigung während ja die erste DDR-Verfassung so zu lesen war, wir haben eine deutsche Verfassung und die anderen werden diese Verfassung nicht durch einen Beitritt, sondern den werden sie einfach nehmen, weil wir ja eine Vereinigung Deutschlands in einer Art herbeiführen, wo dann die sozialistische Perspektive der Weg sein wird, wo wir uns dann nicht mehr strittig gegenüberstehen, sondern wo wir gemeinsam diese Zukunft nehmen.
Burchardt: Herr Modrow, haben Sie das wirklich damals 1:1 geglaubt, dass das möglich sein würde?
Modrow: Nicht 1:1 geglaubt, aber auf jeden Fall ist ja, und das ist ja der Vorwurf, den ich erlebe, der kleine Vers in der DDR-Hymne "Deutschland, einig Vaterland" etwas, was ich bei meinem Dreistufenplan am 1. Februar 1990 als Überschrift setze, als Motto setzte, Deutschland, einig Vaterland. Ich kann ja nicht so tun, als hätte ich das nicht in bestimmter Weise verinnerlicht, wenn ich 1990 mit Recht sage: Ich habe diese Zeile nicht von der Straße geholt, sondern aus der Hymne der DDR genommen.
Burchardt: Tatsächlich? Denn ich meine, es gab ja damals zunächst mal die Slogans "Wir sind das Volk" und dann später "Wir sind ein Volk". War das nicht eine Animation?
Modrow: Für dieses "Wir sind ein Volk" hatte ich einfach ein Verständnis, aber eben den Vorbehalt: In welchem Maße wird es ein souveränes Aufeinander-Zugehen sein? Und ich habe ja immerhin am 30. Januar, gut zehn Tage, bevor Herr Kohl in Moskau war, mit Gorbatschow über diesen Dreistufenplan verhandelt und diskutiert. Es war kein Moskauer Konzept, es war unseres. Wir sind nicht, wie es früher üblich war, nach Moskau eingeladen worden und bekamen von Moskau ein Dokument, sondern wir haben unser Dokument nach Moskau getragen. Und die Diskussionsfrage, die ja das Kernproblem dann geworden ist, war die Frage der militärischen Neutralität, und da war ich für "Deutschland, einig Vaterland" als ein militärisch Neutrales.
Burchardt: Wären Sie denn nachträglich betrachtet auch ein Befürworter der Stalin-Note von 1952 gewesen?
Modrow: Ja; diese Überzeugung hatte ich und habe dafür auch einen Partner in der Führungsspitze der KPdSU gehabt, das war Valentin Falin. Falin war der Sekretär für die Außenbeziehungen der KPdSU, er war in Berlin, ich glaube, es war der 20. oder 21. November.
Burchardt: Der war damals ein Jungstar ...
Modrow: Und der 1989, wo er mit Krenz und mit mir über seine Idee eine Konföderation weiterdiskutiert und er gehört ja zu denen, die bereits Anfang der 50er und in den 50er-Jahren als Germanist zu den Beratern in der Führung der KPdSU oder dem Außenministerium zählt, und Falin hatte dieses Konzept der Konföderation ganz tief verinnerlicht.
Modrow: Biermann bekommt keine Rückreise und man überlegt nicht, welche Nachwirkungen entstehen.
Sprecher: Dissidenten.
Burchardt: In den 70er-Jahren wurde Biermann ausgewiesen, so zumindest ist die offizielle Lesart, 1976, was insbesondere in Westdeutschland natürlich schon ein ziemlich happiges Signal war. Es erschien auch das Buch von Bahro, der damals für einen neuen Weg in der Wirtschaftspolitik plädierte, weil er offensichtlich auch sah, dass die DDR auf so etwas wie einen Staatsbankrott hinauslief. Sie haben das selber ja auch ein bisschen angedeutet mit Ihren eigenen Erfahrungen. Was hätte man da anders machen müssen?
Modrow: Man hätte vorher nachdenken müssen zunächst, was aus Schritten dieser Art entsteht. Ich bleibe mal zunächst in dem Rahmen sozusagen der Politik, die in dieser Zeit ja von der SED-Führung gestaltet wurde.
Burchardt: Aber es war doch wahrscheinlich falsch, Bahro einzusperren?
Modrow: Ja, sie haben einfach nicht darüber nachgedacht, welche Folgen es für ihre eigene Politik hat, wenn sie in dieser Weise handeln. Da beginnt mein Problem.
Burchardt: War die Staatsführung überfordert in der Zeit?
Modrow: Die war nach meiner tiefen Überzeugung überfordert, denn Krug bringt das ja in einem seiner Erinnerungen wieder, wie Werner Lambertz mit ihm sitzt und diskutiert, dass er bleiben soll, dass er nicht weggehen soll, und dort beginnt für mich das Problem. Biermann bekommt keine Rückreise und man überlegt nicht, welche Nachwirkungen entstehen. Man glaubt, man schafft sich einen vom Hals und begreift nicht, dass man in Wirklichkeit das Schneeballsystem auslöst und dass nun die Lawine zu laufen beginnt.
Burchardt: Wollte man damit irrtümlicherweise Stärke beweisen?
Modrow: Man wollte die Lawine nicht, sondern man wollte zeigen: Mit uns kann man nicht spielen. Und alle anderen sollten das Signal bekommen: Steht fest zur DDR, und genau das funktionierte nicht.
Burchardt: Es gab dann in den 80er-Jahren ja auch noch mal einen Versuch der SPD, durch das sogenannte Streitpapier mit der SED so etwas wie eine, ja, das, was in der Ostpolitik prinzipiell ja Wandel durch Annäherung hieß, von Egon Bahr und Willy Brandt initiiert, das das Ganze fortschreiben sollte. War da nicht noch mal eine letzte Möglichkeit gegeben, mit einer politischen Institution, die auch, wenn sie nicht an der Regierung war, so doch Einfluss hatte in der Bundesrepublik, im Westen also, etwas mehr Gemeinsamkeit auf den Weg zu bringen?
Modrow: Ich denke, man soll im Nachgang die Vielzahl von Begegnungen und Kontakte der 80er-Jahre zwischen der SED und der SPD nicht nur auf diese Verhandlungen, die Eppler und Erich Hahn und wer auch immer von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften im Spiel war. Ich habe Oskar Lafontaine 1982 kennengelernt. Er war mein Gast in Dresden, da war er noch der Bürgermeister, er kam als Ministerpräsident nach Dresden. Ich habe Mitte der 80er-Jahre Björn Engholm kennengelernt und wir trafen uns im Dezember jedes Jahr, ich habe also in der Zeit Sozialdemokraten kennengelernt, Schröder war mein Gast 1985.
Burchardt: Aber war das, mal etwas flapsig formuliert, nicht eher Ihr Privatvergnügen? Wurde das nicht auch ein bisschen argwöhnisch beäugt von der SED-Führung?
Modrow: Ja, es war insofern kein Privatvergnügen, das hat mir Willy Brandt dann als Kollege im Deutschen Bundestag noch mal sehr bewusst gemacht und mir gesagt: Du musst eines wissen. Du hast ja verfolgt, wenn Sozialdemokraten in der DDR waren, dass wir nach Dresden wollten, und meine skandinavischen Freunde hatten mir gesagt, in Dresden bekommt man nicht den Leitartikel des neuen Deutschland vorgelesen und kann man miteinander sprechen. Und das haben wir dann über diese Besuche auch erlebt und deshalb wollten wir, weil wir miteinander sprechen können. Und da, meine ich, hätte ein starker Strang im Interesse beider Seiten entwickelt werden können.
Burchardt: Wie haben Sie denn in diesem Zusammenhang den Besuch von Erich Honecker 1987 in Bonn beurteilt?
Modrow: Zunächst, denke ich, war es für die Bundesrepublik eindeutig ein beachtlich großes Zugeständnis, denn man kam nicht darum hin, den roten Teppich auszurollen. Es war also kein Arbeitsbesuch. Und da ich mich dann ja später mit Diplomatie auch ein wenig beschäftigen musste, war das ein hoher Rang, der in diesem Besuch lag, und das war die Forderung, die Honecker auch gestellt hat und man ist auf ihn so zugegangen. Dass damit natürlich auch das Bewusstsein Honeckers – er ist der Repräsentant des zweiten souveränen Deutschland und es wird sozusagen diese beiden Deutschlands noch im nächsten Jahrhundert geben –, dass das alles dieses Bewusstsein stärkt, ist doch verständlich. Und er weiß auch: Selbst Gorbatschow will nicht, dass er dahinreist, nicht nur der Tschernenko, der es vorher nicht wollte und die sowjetische Außenpolitik – auch da empfindet er einen Sieg, den Kohl auch mit getragen hat. Ich denke, man muss halt auch diese Momente mit sehen, wenn man heute darüber so wohlhistorisch urteilt, als auch das Empfinden von Menschen betrachtet.
Burchardt: Wenn Sie sagen, Gorbatschow war dagegen – war das dann auch sozusagen noch mal ein Ärmel aufkrempeln gegen Glasnost und Perestroika, wie es ja eigentlich von Honecker bis zum Schluss versucht wurde?
Modrow: Nein, das war nach meiner Überzeugung nicht die Haltung. Gorbatschow wollte vor Honecker im Spiel sein. Das war das Problem. Und diese Haltung Gorbatschows und dass er der Erste sein muss in bestimmten Zusammenhängen, die hat ihn ja auch für China bewegt. Er kam später als Honecker, später als Jaruzelski, nach China zu Deng Xiaoping, das heißt: Gorbatschow war auch darauf aus, dass seine internationale Reputation stärker ist als die anderer, denn er hatte ja das Vakuum, das Breschnew hinterlassen, was auch von den nachfolgenden Spitzen der Sowjetunion nicht ausgeglichen war, da wollte er rein. Man darf das auch von dieser Seite aus nicht unterschätzen, was da abspielte.
Burchardt: Herr Modrow zu Ihnen persönlich in dieser Zeit. Sie waren damals in Dresden, in hoher Funktion, und es war ja nach den – da Sie Peking oder China erwähnt haben gerade – nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens mit Gewalt gegen Studenten, was dann ja auch durchaus erörtert wurde in der Staatsführung der DDR, auf dem Höhepunkt der Protestaktion in Leipzig, in Berlin usw. Sie selbst haben – muss man den Eindruck haben – sich gewandelt vom Saulus zum Paulus, wenn man das so sagen darf. Sie haben zunächst mal in Dresden mit harter Hand durchgegriffen, Sie haben aber dann das Gespräch mit der sogenannten Gruppe der 20er gesucht, Sie haben also auf Dialog gesetzt. Was war für Sie da das Motiv?
Modrow: Zunächst, was die harte Hand betrifft: Auch dort, wer hat denn – bleiben wir bei Ihrem Wort "harte Hand" – wer hat denn eine harte Hand abgefordert? Wenn Herr Genscher und Herr Seiders nach Prag reisen und dort vor Tausenden sagen, sie können jetzt direkt in die Bundesrepublik reisen, und sich dann aber mit der DDR engagieren, dass diese Reise nicht über Cheb nach Waldsassen geht, sondern dass die über Bad Schandau nach Dresden und dann über das Territorium der Bundesrepublik geht, dann mögen auch diese beiden Politiker sich befragen.
Burchardt: Sie haben also praktisch gesagt, bei uns am Bahnhof findet nichts statt.
Modrow: So haben sie die Verantwortung dafür getragen, dass sich das so vollzieht. Und ich werde abends vom Verkehrsminister der DDR Otto Arndt aufgefordert, alle Unterstützung zu organisieren, damit diese drei Züge, die da fahren, ohne Stopp durch Dresden gehen, weil er mir eindeutig sagte, wir beide ändern daran nichts mehr. Du kannst mit mir reden, so viel Du willst, ich habe keine Entscheidung mehr. Entschieden ist an der Spitze. Wir können beide nur noch handeln. Und die Transportpolizei wird den Bahnhof nicht frei haben. Und dann kann passieren, dass die drei Züge gestoppt werden und es wird Tote geben, das ist unsere Verantwortung. Und aus der habe ich gehandelt. Und insofern, wenn das eine harte Hand ist, dass man mitgeholfen hat, dass Menschen nicht in ein Chaos und eine Katastrophe kommen, dann stehe ich selbst dafür ein.
Modrow: Das Wort "verbittert" habe ich für mein Leben nie auf- und angenommen, und ich empfinde es auch nicht so.
Sprecher: Ernüchterung.
Burchardt: Sie hatten vorhin zum Eingang das Stichwort Konföderation eingebracht, und insofern interessiert mich natürlich noch Ihre Rolle als Ministerpräsident der DDR in diesen vier Monaten um die Jahreswende 1989/90, auch Ihre Kontakte mit Helmut Kohl. Zunächst hatten Sie offensichtlich ganz gute Gespräche, aber zum Schluss hat man sich überhaupt nicht mehr verstanden. Hatte das etwas damit zu tun, dass Sie Ihren Dreipunkteplan hatten, Kohl seinen Zehnpunkteplan und dass Sie nach wie vor auf die Konföderation setzten, während Kohl wohl schon damals auch von Gorbatschow doch initiiert auf eine vollständige deutsche Einheit unter westlicher Führung, wenn man das mal so sagen darf, setzte?
Modrow: Zunächst, was diesen Teil Ihrer Fragestellung anbetrifft, spielt da, glaube ich, in gewissem Umfange eine Rolle und spielt mit. Aber da laufen Zusammenhänge und sind Probleme enthalten, die wir gewiss jetzt nicht mehr erörtern können. Aber dort geht es um eine Kernfrage, das ist die NATO. Und dieses NATO-Problem war mit dem vereinigten Deutschland insoweit verbunden, wird die Bundesrepublik militärisch neutral, ist diese Entscheidung gefallen. Die Außenpolitik der USA wird sehr, sehr aktiv. Am 8. und 9. Februar ist Baker in Moskau 1990, und diese Frage, militärisch neutral, bringt er vom Tisch, nicht Helmut Kohl. Was aber bei Kohl und seinen Wandel betrifft, ist es ein ganz anderer Zusammenhang. In dem Moment, wo klar ist, es wird am 18. März in der DDR eine Wahl sein, zieht Kohl in den Wahlkampf. Und dort bin ich für ihn der politische Gegner, gegen den er den Wahlkampf führt und organisiert, mit ganz üblen Verleumdungen, die dann eine Rolle spielen, die zum Glück dann aber völkerrechtlich in eine andere Ordnung kommen, so unter anderem zu den Fragen des Verkaufes von Häusern, der Bodenreform und anderem. Wo eindeutig klar ist, ich höre dann, dass ich nichts weiter vorhabe, als einem Dutzend Leuten aus der Regierung ein Haus zuzuschieben, wo wir, die wir entscheiden, dass diese Bürger, die in diesen Häusern wohnen, die dem Staat gehören, oder die ein Haus haben, wo der Boden nicht geklärt ist, auf dem es steht, wo wir das entscheiden, bin ich der, der da ein paar Leute bedienen will. Dass wir in Wirklichkeit für Hunderttausende uns einsetzen, ist in den Gerichtssälen dann mit dem Modrow-Gesetz behandelt worden. Aber das waren dann die politischen Angriffe. Und herausgekommen ist ja schließlich mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag, dass ein beigefügter Brief die Bodenreform und die Enteignung von 45 bis 49 durch die sowjetische Militäradministration, zu der wir uns am 1. März 90 bekannten, auch völkerrechtlich aufgenommen hat.
Burchardt: Sind Sie verbittert, nachträglich betrachtet, über diese Ereignisse, auch vor dem Hintergrund, dass man Ihnen ja auch Wahlfälschungen vorgeworfen hat, dass da auch Gerichtsurteile dann relevant wurden, die zwar dann wieder zurückgenommen wurden bzw. amnestiert wurden? Ist das für Sie auch so etwas wie eine Siegerjustiz gewesen, die da am Werk war?
Modrow: Das Wort "verbittert" habe ich für mein Leben nie auf- und angenommen, und ich empfinde es auch nicht so, sondern eines habe ich vor allem zu dieser Phase aufgenommen, als der Graf von Lambsdorff mir im Deutschen Bundestag den Vorwurf gemacht hat, ich sei der einzige Ministerpräsident in der deutschen Geschichte, der im Zusammenhang mit all diesen Fragen gewissermaßen eine dritte Macht ins Spiel bringt, um Interessen der Bürger, des eigenen Volkes oder Landes oder wie man will dann nicht mehr wahrzunehmen. Da habe ich mir im Stillen gedacht: Ja, die von Lambsdorffs saßen auf den Gütern und die Modrows saßen wie viele andere in der Kate. Und da bin ich dann wieder zu Brecht zurückgegangen und habe mir gesagt: Der Regen fließt eben von oben nach unten und nicht von unten nach oben. Er setzt dann da zu und Du hast einen Klassenfeind.
Modrow: Wir erleben ein Gesamteuropa, dass die Linke – und ich glaube nicht, dass das für die Länder besonders gut – sehr schwach ist.
Sprecher: Zukunft der Linken in Deutschland.
Burchardt: Sie sind ja PDS-Mitglied geworden und somit dann auch Mitglied der Linken. Gegenüber der Linken sind Sie allerdings ziemlich skeptisch. Wie beurteilen Sie denn im Augenblick die Position der Linken im gesamtpolitischen Spektrum in Deutschland?
Modrow: Wir leben in einer Situation, wo eine völlig neue Lage unter den Parteien dahingehend entstanden ist, dass wir ein Fünf-Parteien-System haben. Die Bundesrepublik hat begonnen mit drei Parteien, und die – bleiben wir bei der Farbenlehre – und die Gelben waren immer die, die entschieden haben, wer regiert. Das hörte auf, als die Grünen dazukamen, da musste jeder sehen, dass er einen Partner findet, um regieren zu können. Und jetzt haben wir gewissermaßen den fünften Partner, und der soll am Katzentisch sitzen. Ich halte das einfach für eine Situation, die sich nicht aufrechterhalten lässt. Wir erleben ja jetzt, dass der große Streit in der Großen Koalition abläuft, wir hören, dass der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern mit einem feststellt als der Regierungschef, der aus Schleswig-Holstein kommt, dass das mit der These, die DDR war ein durchgängig Unrechtsstaat, doch historisch zu prüfen sei, und dass es mehr ein politischer und kein wieder juristisch oder staatsrechtlicher Ausdruck sei. Und alle streiten und fallen über den Mann her. Was ich sehe, ist, dass die Linke in einen Prozess gekommen ist, den ich zunächst als sehr positiv betrachte. Die linken Kräfte in der alten DDR kamen über die PDS, die linken Kräfte in diesem Zusammenhang in der alten BRD kamen über die Gewerkschaften, über linke Sozialdemokraten und ein gewisses Sammelsurium. Sie haben eine Partei gegründet. Die politischen Umstände zwangen zu einem schnellen Tempo, wenn man bei Wahlen etwas erreichen will. Und was ich jetzt sehe, ist, dass man versäumt, nachzuholen, was eigentlich im Vorfeld hätte intensiver geschehen sollen, miteinander über eine Programmatik der Partei zu diskutieren. Denn wir erleben ein Gesamteuropa, dass die Linke – und ich glaube nicht, dass das für die Länder besonders gut – sehr schwach ist. Die Balancen in den Ländern gehen politisch in eine Schieflage. Und ich verstehe Müntefering ganz gut, wenn er jetzt sagt, lasst uns mal in Ruhe über etwas nachdenken. Vorher stürzt Beck darüber, was er im Nachgang in Ruhe betrachten möchte. Die bundesdeutsche Politik ist in eine Bewegung geraten, wo sich alle Parteien im Moment sehr schwer damit tun, und die Linke auch, und da ist meine Kritik. Die Linke muss, glaube ich, ihre Chancen mit einem gewissen Abstand in sich und für sich selber betrachten und diskutieren und von dort aus ableiten, wo ist in dieser Gesellschaft unser Platz. Und sie hat dadurch, dass wir ja nun in einer Krise, nicht nur der Finanzkrise stecken. Wir werden in eine Krise des Systems kommen, die sehr tief sein wird, die heute noch gar nicht in ihrer Tiefe zu übersehen ist. Denn wir haben 20 Jahre eine Welt ohne den realen Sozialismus, und die Verwerfungen im realen Kapitalismus sind in einem Tempo gewachsen und entstanden, die gewiss auf keiner Seite jemand vorausgesehen hat. Und die nächsten zehn Jahre werden uns auf dem Gebiet weiter beschäftigen. Und da, glaube ich, ist es sogar gesellschaftlich notwendig, dass eine linke Kraft da ist, die in diesen Prozessen mit einem Profil und auch mit einer alternativen Programmatik auftritt.
Sprecher: In unserer Reihe "Zeitzeugen" hörten Sie Rainer Burchardt im Gespräch mit Hans Modrow.