Karin Fischer: Jetzt aber zum diesjährigen Wilhelm-Raabe-Preis, dessen Träger oder Trägerin gerade frisch gekürt wurde vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig, die den mit 30.000 Euro dotierten Preis jedes Jahr zusammen und zum Lob des großen Sohnes der Stadt vergeben. Frage an meinen Kollegen Hubert Winkels, Literaturredakteur im Büchermarkt des Deutschlandfunks und Mitglied der Jury des Raabe-Preises: Wer ist es in diesem Jahr geworden?
Hubert Winkels: Ja! Es ist schön, dass ich es Ihnen zuerst sagen darf. Die Jury-Sitzung ist noch keine zehn Minuten zu Ende, das trifft sich doch gut. Die Preisträgerin in diesem Jahr – die Verleihung wird am 2. November sein, aber bekannt ist es jetzt seit einer Viertelstunde – ist Marion Poschmann. Marion Poschmann hat einen Roman geschrieben, der "Die Sonnenposition" heißt, ihr dritter Roman, und sie ist auch als Lyrikerin sehr bekannt geworden, und der hat die Zustimmung der Jury rundum gefunden.
Fischer: Marion Poschmann ist auch auf der Shortlist des Buchpreises in diesem Jahr verzeichnet. Dieser Wilhelm-Raabe-Preis würdigt ein in deutscher Sprache verfasstes erzählerisches Werk. Sibylle Lewitscharoff hat ihn zuletzt bekommen, davor Rainald Goetz und viele andere Großmeister der Sprache. Ist Marion Poschmann eine Großmeisterin, was zeichnet ihren Erzählstil aus?
Winkels: Ja, Großmeisterin der Sprache könnte man sagen, wenn nicht ihre Arbeit selber eher ein sehr, sehr kleinteiliges zum Funken bringen wäre. Aber das tut sie auf eine großartige Weise. Ich wüsste gar keinen Autor, zumindest der mittleren Generation – sie ist Jahrgang 1969 -, der einen solch filigranen, solch genauen Umgang mit den Möglichkeiten der Metaphern pflegt wie sie in ihrem Roman "Die Sonnenposition". Wenn man den Inhalt erzählt, macht man schon fast den ersten Fehler, weil die Form wirklich von allen heute diskutierten Büchern hier am stärksten wirkte.
Trotzdem gibt es natürlich ein sogenanntes Setting und eine Geschichte. Der Roman spielt in einem alten Schloss im Brandenburgischen, in dem schon viel deutsche Geschichte abgelaufen ist, Gefangenenlager, Lazarett, Psychiatrie, und ist jetzt eine sozusagen Nach-Wende-Psychiatrie. Der Held, Altfrid, ist der Psychiater, der sich um Patienten kümmert, deren Symptome keinesfalls schlimmer sind als seine eigenen. Er selber glaubt aber, er müsse die Sonnenposition einnehmen zu seinen Patienten, das heißt als aufklärerisches Fixgestirn über allem thronen, was aus vielen, vielen Gründen nicht geht, auch aus strukturellen Gründen der Wahrheitsfindung geht es überhaupt nicht. Das ist eine philosophische Grundlage des Romans. Sein erster Satz ist wunderbar und wird wahrscheinlich noch tausendmal zitiert werden in diesem Jahr. Er heißt nämlich: "Die Sonne bröckelt." Das ist die Sonne in einem Gemach, in einem Zimmer in diesem Schloss.
Fischer: Diese Genauigkeit, die Sie erwähnt haben, hat das mit ihrer Doppelbegabung sozusagen als Erzählerin und Lyrikerin zu tun, dieser Metaphern-Reichtum?
Winkels: Absolut! Das muss man wirklich sagen. Es ist eine sehr, sehr lyrisch verdichtete Sprache. Das geht bei Erzählwerken oft durchaus schief, erst recht, wenn sie, sagen wir, 350 Seiten lang sind. Das ist noch ein mittleres Maß in dem Fall bei diesem Buch, denn Lyrik auf 350 Seiten können Sie zusammenhängend kaum ertragen. Das ist aber hier gar kein Problem, und das hat hier einen sehr, sehr geschliffenen Umgang mit der Sprache zur Grundlage.
Sie kann in ein Bild, in einen Vergleich einsteigen und den in seinen filigranen Verästelungen ausmessen, und nichts daran ist zufällig. Sie endet fast bei allem, was sie erzählt, bei jedem Bild, das sie benutzt, bei der Frage von Licht und Schatten, von Sonne, von Dunkelheit, von Aufklärung, von sehen, nicht sehen, Unsichtbarkeit. Das ist ihr durchgehendes Thema. Und diese Beschwörung, diese Camouflage des Sehens und Erkennens ist auch das Strukturprinzip.
Vielleicht ein Element aus dem Inhalt macht das ganz deutlich: Das Hobby von zwei Freunden, auch vom Erzähler, in ihren Jugendjahren war das Auffinden von Erlkönigen. Erlkönige sind Prototypen von Autos, die Firmen lancieren, Mercedes-Benz zum Beispiel, die noch nicht auf dem Markt sind, aber schon getestet werden. Die werden meistens nachts oder bei Nebel und dann werden die vorher verkleidet, seltsam gespritzt, damit keiner erkennen kann, wie in einem Jahr die marktreife Version aussieht. Da gibt es wohl tatsächlich in der Bundesrepublik Leute, die jagen, die Erlkönige jagen, und das sind Erlkönig-Jäger, die beiden. In diesem Erlkönig haben Sie schon das Motiv, dass Sie die Substanz nicht erkennen können. Sie sehen immer Varianten, sie sehen Täuschungen, sie sehen Manöver, sie gehen in chamäleonhafte Anpassungen an die Umwelt, und dieses Verfahren, wenn man so will, der Jagd nach Erlkönigen ist auch das Schreibverfahren und das bildgebende Verfahren von Marion Poschmann. Es klingt möglicherweise in dem Moment, wo ich es beschreibe, abstrakter, als es das Vergnügen am Ende nahelegt, wenn man das Buch gelesen hat.
Fischer: Hubert Winkels, kurze Frage zum Schluss: Die Liebe zu oder die Übereinstimmung mit Wilhelm Raabe ist nicht Pflicht bei Ihnen. Sehen Sie trotzdem Parallelen in der Erzählhaltung zu diesem großen Erzähler?
Winkels: Ja, glaube ich, ohne sie allzu stark bemühen zu müssen, könnte man sagen, dieses gewisse inhaltliche auf die Stelle treten und mit Erzählhaltungen und Auftürmen sozusagen oder Aneinanderknüpfen von Bildern zu Fluchten, mit denen Raabe auch sehr gerne arbeitet - er ist ein ganz, ganz übers Statische kommender Erzähler -, mit dieser Statik und dieser filigranen, verschränkenden Arbeit hat Marion Poschmann schon zu tun.
Fischer: Hubert Winkels war das – vielen Dank – über Marion Poschmann, die diesjährige Preisträgerin des Wilhelm-Raabe-Preises, verliehen vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig für den Roman "Die Sonnenposition".
Hubert Winkels: Ja! Es ist schön, dass ich es Ihnen zuerst sagen darf. Die Jury-Sitzung ist noch keine zehn Minuten zu Ende, das trifft sich doch gut. Die Preisträgerin in diesem Jahr – die Verleihung wird am 2. November sein, aber bekannt ist es jetzt seit einer Viertelstunde – ist Marion Poschmann. Marion Poschmann hat einen Roman geschrieben, der "Die Sonnenposition" heißt, ihr dritter Roman, und sie ist auch als Lyrikerin sehr bekannt geworden, und der hat die Zustimmung der Jury rundum gefunden.
Fischer: Marion Poschmann ist auch auf der Shortlist des Buchpreises in diesem Jahr verzeichnet. Dieser Wilhelm-Raabe-Preis würdigt ein in deutscher Sprache verfasstes erzählerisches Werk. Sibylle Lewitscharoff hat ihn zuletzt bekommen, davor Rainald Goetz und viele andere Großmeister der Sprache. Ist Marion Poschmann eine Großmeisterin, was zeichnet ihren Erzählstil aus?
Winkels: Ja, Großmeisterin der Sprache könnte man sagen, wenn nicht ihre Arbeit selber eher ein sehr, sehr kleinteiliges zum Funken bringen wäre. Aber das tut sie auf eine großartige Weise. Ich wüsste gar keinen Autor, zumindest der mittleren Generation – sie ist Jahrgang 1969 -, der einen solch filigranen, solch genauen Umgang mit den Möglichkeiten der Metaphern pflegt wie sie in ihrem Roman "Die Sonnenposition". Wenn man den Inhalt erzählt, macht man schon fast den ersten Fehler, weil die Form wirklich von allen heute diskutierten Büchern hier am stärksten wirkte.
Trotzdem gibt es natürlich ein sogenanntes Setting und eine Geschichte. Der Roman spielt in einem alten Schloss im Brandenburgischen, in dem schon viel deutsche Geschichte abgelaufen ist, Gefangenenlager, Lazarett, Psychiatrie, und ist jetzt eine sozusagen Nach-Wende-Psychiatrie. Der Held, Altfrid, ist der Psychiater, der sich um Patienten kümmert, deren Symptome keinesfalls schlimmer sind als seine eigenen. Er selber glaubt aber, er müsse die Sonnenposition einnehmen zu seinen Patienten, das heißt als aufklärerisches Fixgestirn über allem thronen, was aus vielen, vielen Gründen nicht geht, auch aus strukturellen Gründen der Wahrheitsfindung geht es überhaupt nicht. Das ist eine philosophische Grundlage des Romans. Sein erster Satz ist wunderbar und wird wahrscheinlich noch tausendmal zitiert werden in diesem Jahr. Er heißt nämlich: "Die Sonne bröckelt." Das ist die Sonne in einem Gemach, in einem Zimmer in diesem Schloss.
Fischer: Diese Genauigkeit, die Sie erwähnt haben, hat das mit ihrer Doppelbegabung sozusagen als Erzählerin und Lyrikerin zu tun, dieser Metaphern-Reichtum?
Winkels: Absolut! Das muss man wirklich sagen. Es ist eine sehr, sehr lyrisch verdichtete Sprache. Das geht bei Erzählwerken oft durchaus schief, erst recht, wenn sie, sagen wir, 350 Seiten lang sind. Das ist noch ein mittleres Maß in dem Fall bei diesem Buch, denn Lyrik auf 350 Seiten können Sie zusammenhängend kaum ertragen. Das ist aber hier gar kein Problem, und das hat hier einen sehr, sehr geschliffenen Umgang mit der Sprache zur Grundlage.
Sie kann in ein Bild, in einen Vergleich einsteigen und den in seinen filigranen Verästelungen ausmessen, und nichts daran ist zufällig. Sie endet fast bei allem, was sie erzählt, bei jedem Bild, das sie benutzt, bei der Frage von Licht und Schatten, von Sonne, von Dunkelheit, von Aufklärung, von sehen, nicht sehen, Unsichtbarkeit. Das ist ihr durchgehendes Thema. Und diese Beschwörung, diese Camouflage des Sehens und Erkennens ist auch das Strukturprinzip.
Vielleicht ein Element aus dem Inhalt macht das ganz deutlich: Das Hobby von zwei Freunden, auch vom Erzähler, in ihren Jugendjahren war das Auffinden von Erlkönigen. Erlkönige sind Prototypen von Autos, die Firmen lancieren, Mercedes-Benz zum Beispiel, die noch nicht auf dem Markt sind, aber schon getestet werden. Die werden meistens nachts oder bei Nebel und dann werden die vorher verkleidet, seltsam gespritzt, damit keiner erkennen kann, wie in einem Jahr die marktreife Version aussieht. Da gibt es wohl tatsächlich in der Bundesrepublik Leute, die jagen, die Erlkönige jagen, und das sind Erlkönig-Jäger, die beiden. In diesem Erlkönig haben Sie schon das Motiv, dass Sie die Substanz nicht erkennen können. Sie sehen immer Varianten, sie sehen Täuschungen, sie sehen Manöver, sie gehen in chamäleonhafte Anpassungen an die Umwelt, und dieses Verfahren, wenn man so will, der Jagd nach Erlkönigen ist auch das Schreibverfahren und das bildgebende Verfahren von Marion Poschmann. Es klingt möglicherweise in dem Moment, wo ich es beschreibe, abstrakter, als es das Vergnügen am Ende nahelegt, wenn man das Buch gelesen hat.
Fischer: Hubert Winkels, kurze Frage zum Schluss: Die Liebe zu oder die Übereinstimmung mit Wilhelm Raabe ist nicht Pflicht bei Ihnen. Sehen Sie trotzdem Parallelen in der Erzählhaltung zu diesem großen Erzähler?
Winkels: Ja, glaube ich, ohne sie allzu stark bemühen zu müssen, könnte man sagen, dieses gewisse inhaltliche auf die Stelle treten und mit Erzählhaltungen und Auftürmen sozusagen oder Aneinanderknüpfen von Bildern zu Fluchten, mit denen Raabe auch sehr gerne arbeitet - er ist ein ganz, ganz übers Statische kommender Erzähler -, mit dieser Statik und dieser filigranen, verschränkenden Arbeit hat Marion Poschmann schon zu tun.
Fischer: Hubert Winkels war das – vielen Dank – über Marion Poschmann, die diesjährige Preisträgerin des Wilhelm-Raabe-Preises, verliehen vom Deutschlandfunk und der Stadt Braunschweig für den Roman "Die Sonnenposition".