Das gesamte Interview mit Jürgen Trittin können Sie am Sonntag ab 11:05 Uhr im Deutschlandfunk hören.
Christel Blanke: Herr Trittin, die Nachricht dieser Woche war sicher der Tod von Osama bin Laden. Da gibt es manche, die empfinden Genugtuung darüber, andere empfinden Freude, das lassen wir jetzt mal dahingestellt. Die entscheidende Frage ist wahrscheinlich: Ist die Welt jetzt dadurch sicherer geworden?
Jürgen Trittin: Die Wortwahl der Kanzlerin war mehr als unglücklich. Dennoch, dass einem der gefährlichsten Terroristen dieser Welt die Möglichkeit, seine Untaten zu begehen, nicht mehr da ist, das ist erstmal etwas, was viele Menschen - glaube ich -, insbesondere in den USA, zu recht als ein Stück weniger Druck empfunden haben. Ob am Ende die Gefahr durch den globalisierten Terrorismus nun ausgerechnet durch diese Aktion gemindert worden ist, das ist schwierig zu prognostizieren. Es gibt die einen, die sagen: Das ist auch Motivation für andere, ihm nachzueifern, da sei ein neuer Märtyrer geschaffen worden. Es gibt die anderen, die sagen: In der Wirklichkeit hatte bin Laden auf die tatsächliche terroristische Drohung höchstens einen symbolischen, aber keinen realen Einfluss mehr. Ich glaube, es war für Amerikas Seele wahrscheinlich wichtiger als für die reale Bedrohung durch den Terrorismus.
Blanke: Also keine Notwendigkeit, jetzt auch im deutschen politischen Handeln irgendetwas zu verändern mit Blick auf diesen Tod?
Trittin: Nein, ich glaube, dass die wesentlichen Dinge ja nach vielen Jahren des Druckes auf den Weg gebracht worden sind. Man möchte in Afghanistan zu einer politischen Lösung kommen - einer Lösung, die am Ende eben auch ein Stück Verhandlung mit den Taliban und mit den Kräften um Hekmatjar mit voraussetzt. Man möchte das in den nächsten Jahren abgeschlossen haben, weil man nach 2012 auch die Verantwortung in Afghanistan an die afghanische Regierung übergeben. Damit findet ein Kapitel seinen Abschluss, was angefangen hat mit dem Sturz des Taliban-Regimes, weil dieses Regime eines gewesen ist, was die Räume geschaffen hat, in denen ein Terrorist wie Osama bin Laden und seine Gruppierungen abscheuliche Verbrechen planen, organisieren und durchführen konnten.
Blanke: Es gibt Forderungen auch in Ihrer Partei, den Einsatz in Afghanistan jetzt zu beenden - nach der Devise: Die Grundlage ist mit dem Tod Osama bin Ladens entzogen. Ist das auch Ihre Forderung?
Trittin:Der Einsatz der internationalen Einheiten, und damit auch der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wird ein Ende finden. Das ist eine Forderung, wo man inzwischen selbst bei der NATO ja offene Türen einläuft. Es geht heute darum, den Prozess so zu gestalten, dass Afghanistan eben nicht zurückfällt in einen Krieg und eine mögliche Dominanz - sei es auch regionaler Art - von jenen Kräften, die einst mal einen sicheren Hafen für Osama bin Laden gefunden haben. Das ist aber auf den Weg gebracht, und ich rechne nicht damit, dass wir nach 2012/2013 noch im nennenswerten Umfang kämpfende Truppen der NATO in Afghanistan haben werden.
Blanke: Also, sofortiger Abzug ist nicht nötig?
Trittin: Ein sofortiger Abzug wäre absolut verantwortungslos. Das wissen auch diejenigen, die diese Forderung erheben. Das meinen die auch nicht. Man muss klarstellen: Es muss eine schrittweise Rückführung geben, und das muss verbunden werden mit einer geordneten Übergabe der Sicherheitsaufgaben an die afghanischen Verantwortlichen. Dieses Mandat ist übrigens nicht beendet, das ist ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das jedes Jahr erneuert wird zu Gunsten von ISAF. Die Begründung für die Operation "Enduring Freedom", also jenes Mandats, das erteilt worden ist am 22. September 2001 und die USA und ihre Verbündeten ermächtigt hat, die Urheber des Anschlages auf das World Trade Center weltweit zu verfolgen und zu stellen, dieser ist in der Tat mit dem Tod Osama bin Landens ein Stück die Grundlage entfallen.
Blanke: In der arabischen Welt, Herr Trittin, halten die Proteste an gegen die dortigen autoritären Regime. Im Fall Libyen vertreten die Grünen nach einigem Hin und Her die Position, dass Deutschland im UN-Sicherheitsrat für den Einsatz gegen das Regime in Libyen hätte stimmen müssen. Sie haben aber auch gesagt, Sie teilen die Skepsis mit Blick auf die Luftschläge. Was ist die Alternative? Ist das ein politischer Prozess, wie ihn Außenminister Westerwelle jetzt fordert?
Trittin:Das, was wir in Nordafrika insgesamt beobachten, ist ja ein Prozess, der doppelten Botschaften. Wenn Sie mal anschauen: An der Gemeinschaft gegen Ghaddafi - der militärischen Koalition der Willigen - beteiligt sich mit Katar ein Staat, der gleichzeitig in Bahrain selber aktiv an der militärischen Unterdrückung der dortigen Oppositionsbewegung, übrigens der Mehrheit der Bevölkerung, sich beteiligt. Das heißt, wir haben es mit einem Vorgang zu tun, der - glaube ich - in den Augen vieler Menschen in der arabischen Welt auch viele Fragezeichen hinterlässt. Bezogen auf das Konkrete in Libyen - die UN-Resolution 1973, die die Grundlage gegeben hat für den Militäreinsatz, hat überwiegend richtige und wichtige Dinge beinhaltet, zum Beispiel die Frage "Einrichtung von Schutzkorridoren", den Aufruf zu einem Waffenstillstand, das Kümmern um Flüchtlinge. All dieses konnte man nicht ablehnen, dazu konnte man sich auch nicht enthalten, auch wenn man der Auffassung ist, dass eine Politik der Einrichtung eine Flugverbotszone, das heißt der Beginn eines Luftkrieges - um nichts anderes handelt es bei der Einrichtung einer Flugverbotszone - ein Prozess ist, der auch vom Ende her bedacht werden muss. Und dass das, was sich diejenigen, die sich damals sehr stark dafür eingesetzt haben, dass dies zu einer schnellen Lösung führen würde, das hat sich - ich sage bewusst - leider, ich hätte mich da gerne geirrt, nicht als richtig erwiesen. Wir stehen heute in einer Situation, wo immer wieder die Frage sich stellt: Eskaliert man militärisch weiter bis hin - beispielsweise - zum Einsatz von kämpfenden Truppen am Boden, oder sucht man in einer Kombination von Sanktionen und Embargo am Ende eine politische Lösung? Ich sage allerdings auch: Eine politische Lösung wird langfristig keine Lösung sein können, die an der Herrschaft Muammar Ghaddafis in Libyen festhält.
Blanke: Im Moment wird ja auch darum gerungen, wie man mit Syrien umgehen soll. Die EU denkt über Sanktionen nach, es sieht aber schwierig aus. Zypern zum Beispiel ist nicht so sehr für schnelle Sanktionen zu haben, ist skeptisch. Muss die EU handeln, und wenn ja - wie kann sie das?
Trittin: Ich glaube, dass die Europäische Union in dieser Frage wirklich handeln kann und muss. Die Zögerlichkeit, was Sanktionen gegen Syrien angeht, kontrastiert ein bisschen mit der schnellen Bereitschaft, militärische Mittel in Libyen einzusetzen. Ich glaube, dass dies mehr als überfällig ist. Dem Regime Assad muss deutlich gemacht werden - und das sage ich als jemand, der es richtig gefunden hat, dass die deutsche Bundesregierung in der großen Koalition den Versuch gemacht hat, auf Syrien zuzugehen, die vorsichtigen Schritte Syriens der Öffnung, Rückzug aus dem Libyen zu nutzen, um dort eine Hinwendung zu mehr Rechtsstaatlichkeit mit zu erreichen - dem Regime muss deutlich gemacht werden, dass solche Schritte auf sie zu unterbleiben, sondern dass es erneut zurückgestoßen wird in die Isolierung, wenn es beim Umgang mit seiner Demokratiebewegung weiterhin auf die Panzer und auf die Gewalt setzt.
Blanke: Die EU muss sich ja auch mit der Frage der Flüchtlinge aus der gesamten Region beschäftigen. Jetzt sollen möglicherweise die Grenzkontrollen im Schengenraum zumindest vorübergehend wieder eingeführt werden. Ist das die richtige Reaktion?
Trittin: Nein, das ist eine absolut verlogene und die Fundamente Europas infrage stellende Haltung. Wir reden heute von Zahlen von Flüchtlingen, die Europa erreichen, die absolut lächerlich sind - gegenüber von den Zahlen, die heute von armen Ländern wie Ägypten und Tunesien zu bewältigen sind. Ich kann das in großer Gelassenheit sagen, ich war vier Jahre lang in Niedersachsen. Das ist ein Bundesland mit einer Quote von zehn Prozent der Flüchtlinge aufzunehmen der gesamten Bundesrepublik. Wir haben es natürlich geschafft, in schwierigen Situationen auf dem Balkan fünfstellige Zahlen innerhalb eines Jahres allein in Niedersachsen unterzubringen. Und dieses Europa fühlt sich von 12.000 Flüchtlingen auf Lampedusa überfordert? Man möchte doch fast sagen: Da lachen doch die Hühner, wenn es nicht so traurig wäre. Es ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass sowohl Berlusconi wie Sarkozy mit der Angst vor den Flüchtlingen ihre Mehrheitsfähigkeit sichern wollen. Es ist schlichte amtlich verordnete Xenophobie, die hier triumphiert und die dann so weit geht, dass man Millionen Reisende in Europa als Geiseln nehmen will, damit hier ein angeblich unkontrollierter Umgang mit Flüchtlingen nicht stattfindet. Es gibt eine ganz einfache Alternative dazu. In solchen Fällen kann Europa sagen: Wir machen eine entsprechende Lastenteilung. Dann nimmt Deutschland eben 1000 Flüchtlinge von denen auf, das ist überhaupt kein Problem, und dann kann man sich das ganze Gerede der Wiedereinführung von Grenzkontrollen und von Schlagbäumen im vereinten Europa sparen.
Blanke: In knapp sechs Wochen will die Bundesregierung uns sagen, wann das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz geht. Möglich wäre ein konkretes Datum, möglich wäre aber auch, wie bisher sich auf Reststrommengen der einzelnen Atomkraftwerke festzulegen. Was wäre aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Trittin: Wir haben in der vergangenen Woche eine ausführliche Anhörung als Grüne mit sehr unterschiedlichen Kräften von RWE bis zu den Stadtwerken gemacht. Das Ergebnis ist ziemlich eindeutig: Alle Wirtschaftszweige - die, die Atomkraftwerke betreiben, die, die keine betreiben und deswegen von der Laufzeitverlängerung benachteiligt worden sind, diejenigen, die Windturbinen bauen - all diejenigen sagen eine klare Botschaft: Wir wollen Investitionssicherheit. Und Investitionssicherheit gibt es nur, wenn man den Mehrheitswillen der Bevölkerung, schnell rauszugehen, umsetzt, und wenn man dieses mit präzisen Fristen tut. Der Umstand, dass weiterhin mit Reststrommengen gezockt und auf Zeit gespielt werden kann, und das ist mit der Freiheit, die wir den Konzernen eingeräumt haben im Sinne eines Kompromisses, eines Konsenses 2001, nicht länger zu vereinbaren. Sie haben diese Regelung gnadenlos missbraucht, deswegen brauchen wir feste Zeiten. Und wenn Sie das mal durchrechnen: Wenn Sie heute sagen würden, die deutschen Atomkraftwerke sollen vom Tag ihrer Betriebsaufnahme maximal 28 Jahre laufen - so hat es eine große Umweltorganisation vorgeschlagen -, dann wären heute schon die sieben ältesten vom Netz. Sie bräuchten gar keine juristischen Verrenkungen mit Sicherheit unternehmen, und das letzte würde 2017 abgeschaltet. Auf ein solches Datum können sich alle - die Betreiber von Atomanlagen, die Stadtwerke, die neue Gaskraftwerke bauen wollen, die Hersteller von Windrädern, die jetzt auch in Süddeutschland endlich neue Windturbinen errichten wollen und sollen und müssen, wenn man aussteigen will, alle können sich darauf einstellen. Und diese Form von Investitionsklarheit ist das erste, was wir von dieser Regierung erwarten.
Blanke: Aber auch im "Fahrplan Atomausstieg" Ihrer Fraktion steht, Reststrommengen der verbleibenden AKW sollen angepasst werden. Ist das also inzwischen durch Ihre neuen Informationen überholt?
Trittin: Das ist mit der Anhörung und diesem, was wir - wir machen ja Vorschläge und wir lernen auch an dieser Stelle dazu - heute erledigt. Wir sind der Auffassung, dass wir zu einem festen Datum kommen müssen, und dieses feste Datum muss so gestaltet werden, dass in der Tat das schnellst rechtlich und energiepolitisch Mögliche erreicht wird.
Blanke: Die Bundesregierung beansprucht für sich zum ersten Mal überhaupt, ein umfassendes Energiekonzept vorgelegt zu haben und sagt, SPD und Grüne haben sich zwar für einen Ausstieg entschieden, aber nicht darüber nachgedacht, was danach kommt.
Trittin: Das hat sie ja selber jetzt erledigt. Die Koalition hat im letzten Herbst mit großen Worten ein Energiekonzept beschlossen, und das ist jetzt nichts mehr wert. Da scheint das Konzept, das wir vorgelegt haben, ab 2001 schrittweise die Atomanlagen stillzulegen und gleichzeitig - übrigens gegen den massiven Widerstand von Frau Merkel, gegen die Haltung Bayerns unter Seehofer und Stoiber im Bundesrat - das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht zu haben, doch ein etwas fundierteres Konzept gewesen zu sein. Und ich verstehe einen Teil des Streits in der CDU so, dass die sagen, wie kriegen wir das hin, jetzt das Gleiche zu machen, was Rot-Grün schon mal verabschiedet hat, ohne dass das jemand merkt.
Blanke: Was auch immer am Ende genau jetzt in diesem Energiekonzept steht, eines ist klar: Es wird einen massiven Ausbau von erneuerbaren Energien, Netzen und Speicherkapazitäten brauchen. Und dagegen regt sich an vielen Stellen schon jetzt Protest. Auch Grüne rufen in manchen Regionen zu diesem Protest auf, man denke zum Beispiel an das Pumpspeicherwerk in Baden-Württemberg, das geplant ist. Wie gehen Sie als Grüne mit diesem Protest um? Was sagen Sie den Menschen?
Trittin: Wir gehen damit ganz normal um. Wir diskutieren mit den Leuten, wir lassen uns aber davon auch nicht sozusagen die Politik diktieren. Im Übrigen, das Pumpspeicherwerk in Atdorf hat mit dem Atomausstieg gar nichts zu tun.
Blanke: Mit dem Umbau der Energieversorgung.
Trittin: Nein. Gar nichts. Es hat null damit zu tun. Wenn man darauf warten wollte, bis das Pumpspeicherwerk in Atdorf in Betrieb ist und Ausgleich liefern kann, dann müsste man den Ausstieg ungefähr dahin verlagern, wo die Union im letzten Herbst gewesen ist. So lange dauert das nämlich, so etwas zu bauen. Das, was jetzt Not tut, ist etwas ganz anderes. Was jetzt Not tut, ist die Bau- und Investitionsblockade in Süddeutschland, was den Ausbau der Windenergie angeht, endlich aufzuheben.
Blanke: Aber auch Windräder sind nicht unbedingt populär in der Bevölkerung.
Trittin: Ja. Ich komme nur gerade aus dem Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg, wo Grüne überall vor Ort erklärt haben, wo sie für Windräder sind. Das Ergebnis ist der erste grüne Ministerpräsident in diesem Lande. Wir haben keine Probleme, zu unserer Position zu stehen, auch wenn es unpopulär an der Stelle ist. Und deswegen dränge ich auf diesen Punkt so nachdrücklich. Wenn wir preisgünstig erneuerbare Energien ausbauen wollen, dann müssen wir auf Onshore-Wind setzten. Das ist im Wesentlichen repowering, also Erneuerung im Norden und Bauen im Süden. Dies mindert übrigens auch das Leitungsproblem, denn wenn ich nicht so viel Strom vom Norden in den Süden transportieren muss, sind meine Kapazitäten an der Stelle auch andere. Es ist aber eines vor allen Dingen: Preisgünstiger. Offshore-Wind, der übrigens auch vor 2025 nicht in relevanten Mengen zur Verfügung stehen wird, kostet die Kilowattstunde heute elf bis zwölf Cent, während Onshore-Wind die Kilowattstunde für unter sieben produziert. Also gerade, wenn man die Kosten im Kopf hat, dann muss man jetzt die Baublockade in Bayern und Baden-Württemberg aufheben und in Baden-Württemberg sind wir da ja ab kommenden Donnerstag auf einem guten Weg mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten.
Blanke: Genau. Der erste grüne Ministerpräsident wird am kommenden Donnerstag in Baden-Württemberg gewählt. In Rheinland-Pfalz werden die Grünen künftig als Juniorpartner einer SPD . . .
Trittin:. . . und der ersten grünen Wirtschaftsministerin.
Blanke: In Rheinland-Pfalz werden die Grünen Juniorpartner in einer SPD-geführten Regierung. Die Grünen schwimmen zurzeit auf einer Welle des Erfolges. Das kann man wohl sagen. Über einen Kanzlerkandidaten wollen Sie noch nicht sprechen. Aber Sie haben gesagt, Sie wollen sich auf die Regierungsübernahme 2013 im Bund einstellen. Was heißt das konkret?
Trittin: Das heißt, dass wir alle zur Zeit alle unsere Reformprojekte darauf abklopfen, wie unter den Bedingungen der übrigens bis heute nicht bewältigten, jedenfalls finanziell nicht bewältigten Finanzmarktkrise und den Bedingungen der Schuldenbremse diese Dinge zu gestalten sind. Das ist ein Prozess, den wir dieser Tage mit den Landtagsfraktionen und den neu gewählten Regierungen zusammen in einer gemeinsamen Kommission führen, der der Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen Volker Ratzmann und ich vorsitzen. Das ist einer der Punkte, die wir in einer neu gebildeten Arbeitsgruppe beim Fraktionsvorstand in der Bundestagesfraktion auf den Weg bringen. Und da geht es dann auch darum, auch Prioritäten zu setzen in den grünen Projekten.
Blanke: Nun wird natürlich alle Welt nach Baden-Württemberg gucken, wie Sie das dort hinbekommen mit dem Regieren. Und mit Blick auf die Ressortverteilung gibt es schon den Vorwurf, die Grünen sind gar nicht wirklich bereit, Verantwortung zu übernehmen. Fast alle sogenannten Schlüsselressorts, Finanzen, Wirtschaft, Innen, Justiz, auch Bildung gehen an die SPD. Wie wollen Sie sich denn für die Bundesebene empfehlen, wenn Sie auf all diesen wichtigen Feldern dann am Ende womöglich nichts anzubieten haben?
Trittin: Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, in Rheinland-Pfalz sitzen wir ja zum ersten Mal im Wirtschaftsministerium. In Baden-Württemberg muss man genau hingucken. In Baden-Württemberg sind wir zuständig für die gesamte Infrastrukturplanung. Das ist das Verkehrsministerium, Schlüsselfrage für regionale Wirtschaftspolitik. Wir sind zuständig für die gesamte Energie- und Raumordnungspolitik, das heißt für alle Ansiedlung. Das heißt, alle operative Wirtschafts- und Industriepolitik ist fest in grüner Hand. Und wenn Sie weitergehen in diesem Bereich, wo es um Innovation geht, energetische Innovation und Forschung, auch das ist in der Hand einer grünen Hochschulministerin und Forschungsministerin. Ich vermag diese Beurteilung nicht ganz zu teilen, dass die Grünen sich da vor den zentralen Fragen rumgedrückt haben. Nein, sie haben die Schlüsselressorts und die Schlüsselverantwortlichkeiten für die ökologische Modernisierung Baden-Württembergs in der Hand. Und das ist neben der wichtigen Rolle, die ja ohne Zweifel der Ministerpräsident in solch einer Landesregierung spielt, ein sehr gutes Signal. Ich finde, das haben die ordentlich auf den Weg gebracht.
Blanke: Es könnte aber auch sein, dass die Enttäuschung bei den Wählern vielleicht schwerer wiegt. Man kann sich ja auch vorstellen, dass zum Beispiel in Ihrer Verantwortung dann Stuttgart 21 doch gebaut werden muss. In Rheinland-Pfalz wird die Moselbrücke gebaut. Könnte es nicht auch sein, dass viele jetzt Grün-begeisterte bis zur Bundestageswahl ernüchtert sind und dann doch nicht mehr die Grünen wählen?
Trittin: Ich glaube, die haben uns nicht im Rausch gewählt, sondern sehr nüchtern. Und die wissen, dass selbst mit grüner absoluter Mehrheit nicht alle Wünsche immer Wirklichkeit werden. Das ist die tägliche Erfahrung, die jeder Mensch macht, wenn er sich ein höherwertiges Konsumgut kauft. Nie werden alle Wünsche Wirklichkeit. Hier ist es darauf abzuklopfen, ob bei unterschiedlichen Interessenlagen vernünftige Kompromisse gefunden worden sind. In Rheinland-Pfalz ist man in den Koalitionsverhandlungen zu dem Ergebnis gekommen, dass der Preis eines Ausstiegs der Hochmoselbrücke ein fast dreistelliger Millionenbetrag wäre, der da ist. Da haben die Grünen sich nicht durchsetzen können. Bei dem von der Landesregierung vormals massiv beförderten Bau der Mittelrheinbrücke haben die Grünen sich durchgesetzt. Und deswegen glaube ich, dass viele Menschen diese beiden Seiten so sehen und es für uns immer darauf ankommt, zu erklären, was geht. Niemand erwartet, dass die Grünen alles durchsetzen. Sie erwarten von den Grünen, dass sie aber alles dafür tun, das zu erreichen, was irgend rauszuholen ist. Und ich glaube, das ist in beiden Fällen sehr gut gelungen.
Blanke: Und wie ist das in der Partei selbst? Also, die Grünen werden jetzt "Mitbesitzer" eines Atomkonzerns. Sie werden möglicherweise eben Stuttgart 21 bauen, sie werden sich mit Protesten gegen den Ausbau Erneuerbarer herumplagen müssen. Halten die Grünen das aus?
Trittin: Das machen die Grünen schon heute tagtäglich. Die Erfolge der Grünen - gerade in Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, in Nordrhein-Westfalen haben wir uns auch verdoppelt - sind eigentlich nur denkbar, weil wir so gut kommunal verankert sind. Jeder grüne Ratsherr - und die Grünen streben immer bevorzugt in die Bauausschüsse und Planungsausschüsse in den Kreistagen und Stadträten - weiß, was es für Zoff gibt über eine Satzung, die beispielsweise zulässt, Solardächer zu machen, die in Baugebieten bestimmte Heizungsformen untersagt, die davon ausgeht, dass Vorrangflächen für Windenergie geschaffen werden. Das ist unser tägliches Geschäft seit 20 Jahren. Wir haben dabei eine Erfahrung gemacht: Es nützt überhaupt nichts, die Bürger immer hinters Licht führen zu wollen, ihre Planungsrechte zu beschneiden. Wenn man solche Dinge umsetzen will und auf lokalen Widerstand stößt, dann hilft es nur, solche Verfahren transparent zu machen, die Menschen daran zu beteiligen. Dann gibt es in vielen Fällen auch für schwierige Entscheidungen stabile Mehrheiten und Zustimmung. Das ist einer der Gründe, warum wir in den letzten Jahren gewachsen sind, weil wir solche Interessen und Zielkonflikte nicht versucht haben, wegzudrücken, sondern sie ernst genommen haben.
Blanke: In zwei Wochen wird in Bremen gewählt. Dort sieht nach Umfragen alles danach aus, dass Rot-Grün weiter regieren wird. Spannender wird es wohl im September in Berlin. Vor fünf Jahren hätte es dort auch schon einmal für Rot-Grün gereicht. Klaus Wowereit hat sich aber damals dafür entschieden, das Bündnis mit der Linkspartei fortzusetzen. Müssten die Grünen also stärkste Partei werden, um dann auch Teil der Regierung zu werden beim nächsten Mal?
Trittin: Also, ich finde persönlich Bremen total spannend. Es ist meine Geburtsstadt, meine Mutter lebt da noch. Und wenn ich das noch mal erleben würde, dass die Grünen da vor der CDU landen - die Chance haben wir nämlich, dort Zweitstärkste zu werden -, das wäre mir schon eine schöne Angelegenheit. Das ist auch Grund genug für mich, in einer Stadt drei Wahlkampfauftritte zu absolvieren, nicht nur aus heimatlichen Gefühlen, sondern weil ich das ganz spannend finde. In Berlin streben wir an, in der Tat stärkste Fraktion zu werden. Ich weiß ja noch, warum Klaus Wowereit beim letzten Mal sich gegen die Grünen und für die Linken entschieden hat. Nicht, weil die Linken ihm besonders nahe sind, sondern weil die besonders bequem sind. Die sagen zu allem Ja und Amen, von dem Festhalten an den privatisierten Wasserbetrieben - Sie haben eigentlich nie ein kritisches Wort von denen gehört. Und da er eigentlich nicht regieren, sondern mehr repräsentieren wollte, war das ein logischer Koalitionspartner für ihn. Diese Wahl, das streben wir an, soll er beim nächsten Mal nicht mehr haben.
Blanke: Klaus Wowereit sagt, die SPD Juniorpartner der Grünen, das geht nirgendwo anders als in Baden-Württemberg.
Trittin: Ja, das sagt er. Das mag für ihn persönlich auch zutreffend sein, aber die SPD in Berlin wird noch sehr gut den Satz von Franz Müntefering im Ohr haben: "Opposition ist Mist". Und vor der Frage, hilflos in der Opposition zu sitzen oder mit zu regieren, wenn auch als Juniorpartner, wüsste ich eigentlich keinen Grund, der einem Berliner Sozialdemokraten einfallen könnte, warum er sich in einer solchen Situation anders verhält als beispielsweise Nils Schmidt in Baden-Württemberg.
Blanke: Herr Trittin, vielen Dank für das Gespräch.
Trittin: Ich danke Ihnen.
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Christel Blanke: Herr Trittin, die Nachricht dieser Woche war sicher der Tod von Osama bin Laden. Da gibt es manche, die empfinden Genugtuung darüber, andere empfinden Freude, das lassen wir jetzt mal dahingestellt. Die entscheidende Frage ist wahrscheinlich: Ist die Welt jetzt dadurch sicherer geworden?
Jürgen Trittin: Die Wortwahl der Kanzlerin war mehr als unglücklich. Dennoch, dass einem der gefährlichsten Terroristen dieser Welt die Möglichkeit, seine Untaten zu begehen, nicht mehr da ist, das ist erstmal etwas, was viele Menschen - glaube ich -, insbesondere in den USA, zu recht als ein Stück weniger Druck empfunden haben. Ob am Ende die Gefahr durch den globalisierten Terrorismus nun ausgerechnet durch diese Aktion gemindert worden ist, das ist schwierig zu prognostizieren. Es gibt die einen, die sagen: Das ist auch Motivation für andere, ihm nachzueifern, da sei ein neuer Märtyrer geschaffen worden. Es gibt die anderen, die sagen: In der Wirklichkeit hatte bin Laden auf die tatsächliche terroristische Drohung höchstens einen symbolischen, aber keinen realen Einfluss mehr. Ich glaube, es war für Amerikas Seele wahrscheinlich wichtiger als für die reale Bedrohung durch den Terrorismus.
Blanke: Also keine Notwendigkeit, jetzt auch im deutschen politischen Handeln irgendetwas zu verändern mit Blick auf diesen Tod?
Trittin: Nein, ich glaube, dass die wesentlichen Dinge ja nach vielen Jahren des Druckes auf den Weg gebracht worden sind. Man möchte in Afghanistan zu einer politischen Lösung kommen - einer Lösung, die am Ende eben auch ein Stück Verhandlung mit den Taliban und mit den Kräften um Hekmatjar mit voraussetzt. Man möchte das in den nächsten Jahren abgeschlossen haben, weil man nach 2012 auch die Verantwortung in Afghanistan an die afghanische Regierung übergeben. Damit findet ein Kapitel seinen Abschluss, was angefangen hat mit dem Sturz des Taliban-Regimes, weil dieses Regime eines gewesen ist, was die Räume geschaffen hat, in denen ein Terrorist wie Osama bin Laden und seine Gruppierungen abscheuliche Verbrechen planen, organisieren und durchführen konnten.
Blanke: Es gibt Forderungen auch in Ihrer Partei, den Einsatz in Afghanistan jetzt zu beenden - nach der Devise: Die Grundlage ist mit dem Tod Osama bin Ladens entzogen. Ist das auch Ihre Forderung?
Trittin:Der Einsatz der internationalen Einheiten, und damit auch der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wird ein Ende finden. Das ist eine Forderung, wo man inzwischen selbst bei der NATO ja offene Türen einläuft. Es geht heute darum, den Prozess so zu gestalten, dass Afghanistan eben nicht zurückfällt in einen Krieg und eine mögliche Dominanz - sei es auch regionaler Art - von jenen Kräften, die einst mal einen sicheren Hafen für Osama bin Laden gefunden haben. Das ist aber auf den Weg gebracht, und ich rechne nicht damit, dass wir nach 2012/2013 noch im nennenswerten Umfang kämpfende Truppen der NATO in Afghanistan haben werden.
Blanke: Also, sofortiger Abzug ist nicht nötig?
Trittin: Ein sofortiger Abzug wäre absolut verantwortungslos. Das wissen auch diejenigen, die diese Forderung erheben. Das meinen die auch nicht. Man muss klarstellen: Es muss eine schrittweise Rückführung geben, und das muss verbunden werden mit einer geordneten Übergabe der Sicherheitsaufgaben an die afghanischen Verantwortlichen. Dieses Mandat ist übrigens nicht beendet, das ist ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, das jedes Jahr erneuert wird zu Gunsten von ISAF. Die Begründung für die Operation "Enduring Freedom", also jenes Mandats, das erteilt worden ist am 22. September 2001 und die USA und ihre Verbündeten ermächtigt hat, die Urheber des Anschlages auf das World Trade Center weltweit zu verfolgen und zu stellen, dieser ist in der Tat mit dem Tod Osama bin Landens ein Stück die Grundlage entfallen.
Blanke: In der arabischen Welt, Herr Trittin, halten die Proteste an gegen die dortigen autoritären Regime. Im Fall Libyen vertreten die Grünen nach einigem Hin und Her die Position, dass Deutschland im UN-Sicherheitsrat für den Einsatz gegen das Regime in Libyen hätte stimmen müssen. Sie haben aber auch gesagt, Sie teilen die Skepsis mit Blick auf die Luftschläge. Was ist die Alternative? Ist das ein politischer Prozess, wie ihn Außenminister Westerwelle jetzt fordert?
Trittin:Das, was wir in Nordafrika insgesamt beobachten, ist ja ein Prozess, der doppelten Botschaften. Wenn Sie mal anschauen: An der Gemeinschaft gegen Ghaddafi - der militärischen Koalition der Willigen - beteiligt sich mit Katar ein Staat, der gleichzeitig in Bahrain selber aktiv an der militärischen Unterdrückung der dortigen Oppositionsbewegung, übrigens der Mehrheit der Bevölkerung, sich beteiligt. Das heißt, wir haben es mit einem Vorgang zu tun, der - glaube ich - in den Augen vieler Menschen in der arabischen Welt auch viele Fragezeichen hinterlässt. Bezogen auf das Konkrete in Libyen - die UN-Resolution 1973, die die Grundlage gegeben hat für den Militäreinsatz, hat überwiegend richtige und wichtige Dinge beinhaltet, zum Beispiel die Frage "Einrichtung von Schutzkorridoren", den Aufruf zu einem Waffenstillstand, das Kümmern um Flüchtlinge. All dieses konnte man nicht ablehnen, dazu konnte man sich auch nicht enthalten, auch wenn man der Auffassung ist, dass eine Politik der Einrichtung eine Flugverbotszone, das heißt der Beginn eines Luftkrieges - um nichts anderes handelt es bei der Einrichtung einer Flugverbotszone - ein Prozess ist, der auch vom Ende her bedacht werden muss. Und dass das, was sich diejenigen, die sich damals sehr stark dafür eingesetzt haben, dass dies zu einer schnellen Lösung führen würde, das hat sich - ich sage bewusst - leider, ich hätte mich da gerne geirrt, nicht als richtig erwiesen. Wir stehen heute in einer Situation, wo immer wieder die Frage sich stellt: Eskaliert man militärisch weiter bis hin - beispielsweise - zum Einsatz von kämpfenden Truppen am Boden, oder sucht man in einer Kombination von Sanktionen und Embargo am Ende eine politische Lösung? Ich sage allerdings auch: Eine politische Lösung wird langfristig keine Lösung sein können, die an der Herrschaft Muammar Ghaddafis in Libyen festhält.
Blanke: Im Moment wird ja auch darum gerungen, wie man mit Syrien umgehen soll. Die EU denkt über Sanktionen nach, es sieht aber schwierig aus. Zypern zum Beispiel ist nicht so sehr für schnelle Sanktionen zu haben, ist skeptisch. Muss die EU handeln, und wenn ja - wie kann sie das?
Trittin: Ich glaube, dass die Europäische Union in dieser Frage wirklich handeln kann und muss. Die Zögerlichkeit, was Sanktionen gegen Syrien angeht, kontrastiert ein bisschen mit der schnellen Bereitschaft, militärische Mittel in Libyen einzusetzen. Ich glaube, dass dies mehr als überfällig ist. Dem Regime Assad muss deutlich gemacht werden - und das sage ich als jemand, der es richtig gefunden hat, dass die deutsche Bundesregierung in der großen Koalition den Versuch gemacht hat, auf Syrien zuzugehen, die vorsichtigen Schritte Syriens der Öffnung, Rückzug aus dem Libyen zu nutzen, um dort eine Hinwendung zu mehr Rechtsstaatlichkeit mit zu erreichen - dem Regime muss deutlich gemacht werden, dass solche Schritte auf sie zu unterbleiben, sondern dass es erneut zurückgestoßen wird in die Isolierung, wenn es beim Umgang mit seiner Demokratiebewegung weiterhin auf die Panzer und auf die Gewalt setzt.
Blanke: Die EU muss sich ja auch mit der Frage der Flüchtlinge aus der gesamten Region beschäftigen. Jetzt sollen möglicherweise die Grenzkontrollen im Schengenraum zumindest vorübergehend wieder eingeführt werden. Ist das die richtige Reaktion?
Trittin: Nein, das ist eine absolut verlogene und die Fundamente Europas infrage stellende Haltung. Wir reden heute von Zahlen von Flüchtlingen, die Europa erreichen, die absolut lächerlich sind - gegenüber von den Zahlen, die heute von armen Ländern wie Ägypten und Tunesien zu bewältigen sind. Ich kann das in großer Gelassenheit sagen, ich war vier Jahre lang in Niedersachsen. Das ist ein Bundesland mit einer Quote von zehn Prozent der Flüchtlinge aufzunehmen der gesamten Bundesrepublik. Wir haben es natürlich geschafft, in schwierigen Situationen auf dem Balkan fünfstellige Zahlen innerhalb eines Jahres allein in Niedersachsen unterzubringen. Und dieses Europa fühlt sich von 12.000 Flüchtlingen auf Lampedusa überfordert? Man möchte doch fast sagen: Da lachen doch die Hühner, wenn es nicht so traurig wäre. Es ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass sowohl Berlusconi wie Sarkozy mit der Angst vor den Flüchtlingen ihre Mehrheitsfähigkeit sichern wollen. Es ist schlichte amtlich verordnete Xenophobie, die hier triumphiert und die dann so weit geht, dass man Millionen Reisende in Europa als Geiseln nehmen will, damit hier ein angeblich unkontrollierter Umgang mit Flüchtlingen nicht stattfindet. Es gibt eine ganz einfache Alternative dazu. In solchen Fällen kann Europa sagen: Wir machen eine entsprechende Lastenteilung. Dann nimmt Deutschland eben 1000 Flüchtlinge von denen auf, das ist überhaupt kein Problem, und dann kann man sich das ganze Gerede der Wiedereinführung von Grenzkontrollen und von Schlagbäumen im vereinten Europa sparen.
Blanke: In knapp sechs Wochen will die Bundesregierung uns sagen, wann das letzte Atomkraftwerk in Deutschland vom Netz geht. Möglich wäre ein konkretes Datum, möglich wäre aber auch, wie bisher sich auf Reststrommengen der einzelnen Atomkraftwerke festzulegen. Was wäre aus Ihrer Sicht sinnvoll?
Trittin: Wir haben in der vergangenen Woche eine ausführliche Anhörung als Grüne mit sehr unterschiedlichen Kräften von RWE bis zu den Stadtwerken gemacht. Das Ergebnis ist ziemlich eindeutig: Alle Wirtschaftszweige - die, die Atomkraftwerke betreiben, die, die keine betreiben und deswegen von der Laufzeitverlängerung benachteiligt worden sind, diejenigen, die Windturbinen bauen - all diejenigen sagen eine klare Botschaft: Wir wollen Investitionssicherheit. Und Investitionssicherheit gibt es nur, wenn man den Mehrheitswillen der Bevölkerung, schnell rauszugehen, umsetzt, und wenn man dieses mit präzisen Fristen tut. Der Umstand, dass weiterhin mit Reststrommengen gezockt und auf Zeit gespielt werden kann, und das ist mit der Freiheit, die wir den Konzernen eingeräumt haben im Sinne eines Kompromisses, eines Konsenses 2001, nicht länger zu vereinbaren. Sie haben diese Regelung gnadenlos missbraucht, deswegen brauchen wir feste Zeiten. Und wenn Sie das mal durchrechnen: Wenn Sie heute sagen würden, die deutschen Atomkraftwerke sollen vom Tag ihrer Betriebsaufnahme maximal 28 Jahre laufen - so hat es eine große Umweltorganisation vorgeschlagen -, dann wären heute schon die sieben ältesten vom Netz. Sie bräuchten gar keine juristischen Verrenkungen mit Sicherheit unternehmen, und das letzte würde 2017 abgeschaltet. Auf ein solches Datum können sich alle - die Betreiber von Atomanlagen, die Stadtwerke, die neue Gaskraftwerke bauen wollen, die Hersteller von Windrädern, die jetzt auch in Süddeutschland endlich neue Windturbinen errichten wollen und sollen und müssen, wenn man aussteigen will, alle können sich darauf einstellen. Und diese Form von Investitionsklarheit ist das erste, was wir von dieser Regierung erwarten.
Blanke: Aber auch im "Fahrplan Atomausstieg" Ihrer Fraktion steht, Reststrommengen der verbleibenden AKW sollen angepasst werden. Ist das also inzwischen durch Ihre neuen Informationen überholt?
Trittin: Das ist mit der Anhörung und diesem, was wir - wir machen ja Vorschläge und wir lernen auch an dieser Stelle dazu - heute erledigt. Wir sind der Auffassung, dass wir zu einem festen Datum kommen müssen, und dieses feste Datum muss so gestaltet werden, dass in der Tat das schnellst rechtlich und energiepolitisch Mögliche erreicht wird.
Blanke: Die Bundesregierung beansprucht für sich zum ersten Mal überhaupt, ein umfassendes Energiekonzept vorgelegt zu haben und sagt, SPD und Grüne haben sich zwar für einen Ausstieg entschieden, aber nicht darüber nachgedacht, was danach kommt.
Trittin: Das hat sie ja selber jetzt erledigt. Die Koalition hat im letzten Herbst mit großen Worten ein Energiekonzept beschlossen, und das ist jetzt nichts mehr wert. Da scheint das Konzept, das wir vorgelegt haben, ab 2001 schrittweise die Atomanlagen stillzulegen und gleichzeitig - übrigens gegen den massiven Widerstand von Frau Merkel, gegen die Haltung Bayerns unter Seehofer und Stoiber im Bundesrat - das Erneuerbare-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht zu haben, doch ein etwas fundierteres Konzept gewesen zu sein. Und ich verstehe einen Teil des Streits in der CDU so, dass die sagen, wie kriegen wir das hin, jetzt das Gleiche zu machen, was Rot-Grün schon mal verabschiedet hat, ohne dass das jemand merkt.
Blanke: Was auch immer am Ende genau jetzt in diesem Energiekonzept steht, eines ist klar: Es wird einen massiven Ausbau von erneuerbaren Energien, Netzen und Speicherkapazitäten brauchen. Und dagegen regt sich an vielen Stellen schon jetzt Protest. Auch Grüne rufen in manchen Regionen zu diesem Protest auf, man denke zum Beispiel an das Pumpspeicherwerk in Baden-Württemberg, das geplant ist. Wie gehen Sie als Grüne mit diesem Protest um? Was sagen Sie den Menschen?
Trittin: Wir gehen damit ganz normal um. Wir diskutieren mit den Leuten, wir lassen uns aber davon auch nicht sozusagen die Politik diktieren. Im Übrigen, das Pumpspeicherwerk in Atdorf hat mit dem Atomausstieg gar nichts zu tun.
Blanke: Mit dem Umbau der Energieversorgung.
Trittin: Nein. Gar nichts. Es hat null damit zu tun. Wenn man darauf warten wollte, bis das Pumpspeicherwerk in Atdorf in Betrieb ist und Ausgleich liefern kann, dann müsste man den Ausstieg ungefähr dahin verlagern, wo die Union im letzten Herbst gewesen ist. So lange dauert das nämlich, so etwas zu bauen. Das, was jetzt Not tut, ist etwas ganz anderes. Was jetzt Not tut, ist die Bau- und Investitionsblockade in Süddeutschland, was den Ausbau der Windenergie angeht, endlich aufzuheben.
Blanke: Aber auch Windräder sind nicht unbedingt populär in der Bevölkerung.
Trittin: Ja. Ich komme nur gerade aus dem Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg, wo Grüne überall vor Ort erklärt haben, wo sie für Windräder sind. Das Ergebnis ist der erste grüne Ministerpräsident in diesem Lande. Wir haben keine Probleme, zu unserer Position zu stehen, auch wenn es unpopulär an der Stelle ist. Und deswegen dränge ich auf diesen Punkt so nachdrücklich. Wenn wir preisgünstig erneuerbare Energien ausbauen wollen, dann müssen wir auf Onshore-Wind setzten. Das ist im Wesentlichen repowering, also Erneuerung im Norden und Bauen im Süden. Dies mindert übrigens auch das Leitungsproblem, denn wenn ich nicht so viel Strom vom Norden in den Süden transportieren muss, sind meine Kapazitäten an der Stelle auch andere. Es ist aber eines vor allen Dingen: Preisgünstiger. Offshore-Wind, der übrigens auch vor 2025 nicht in relevanten Mengen zur Verfügung stehen wird, kostet die Kilowattstunde heute elf bis zwölf Cent, während Onshore-Wind die Kilowattstunde für unter sieben produziert. Also gerade, wenn man die Kosten im Kopf hat, dann muss man jetzt die Baublockade in Bayern und Baden-Württemberg aufheben und in Baden-Württemberg sind wir da ja ab kommenden Donnerstag auf einem guten Weg mit dem ersten grünen Ministerpräsidenten.
Blanke: Genau. Der erste grüne Ministerpräsident wird am kommenden Donnerstag in Baden-Württemberg gewählt. In Rheinland-Pfalz werden die Grünen künftig als Juniorpartner einer SPD . . .
Trittin:. . . und der ersten grünen Wirtschaftsministerin.
Blanke: In Rheinland-Pfalz werden die Grünen Juniorpartner in einer SPD-geführten Regierung. Die Grünen schwimmen zurzeit auf einer Welle des Erfolges. Das kann man wohl sagen. Über einen Kanzlerkandidaten wollen Sie noch nicht sprechen. Aber Sie haben gesagt, Sie wollen sich auf die Regierungsübernahme 2013 im Bund einstellen. Was heißt das konkret?
Trittin: Das heißt, dass wir alle zur Zeit alle unsere Reformprojekte darauf abklopfen, wie unter den Bedingungen der übrigens bis heute nicht bewältigten, jedenfalls finanziell nicht bewältigten Finanzmarktkrise und den Bedingungen der Schuldenbremse diese Dinge zu gestalten sind. Das ist ein Prozess, den wir dieser Tage mit den Landtagsfraktionen und den neu gewählten Regierungen zusammen in einer gemeinsamen Kommission führen, der der Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen Volker Ratzmann und ich vorsitzen. Das ist einer der Punkte, die wir in einer neu gebildeten Arbeitsgruppe beim Fraktionsvorstand in der Bundestagesfraktion auf den Weg bringen. Und da geht es dann auch darum, auch Prioritäten zu setzen in den grünen Projekten.
Blanke: Nun wird natürlich alle Welt nach Baden-Württemberg gucken, wie Sie das dort hinbekommen mit dem Regieren. Und mit Blick auf die Ressortverteilung gibt es schon den Vorwurf, die Grünen sind gar nicht wirklich bereit, Verantwortung zu übernehmen. Fast alle sogenannten Schlüsselressorts, Finanzen, Wirtschaft, Innen, Justiz, auch Bildung gehen an die SPD. Wie wollen Sie sich denn für die Bundesebene empfehlen, wenn Sie auf all diesen wichtigen Feldern dann am Ende womöglich nichts anzubieten haben?
Trittin: Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, in Rheinland-Pfalz sitzen wir ja zum ersten Mal im Wirtschaftsministerium. In Baden-Württemberg muss man genau hingucken. In Baden-Württemberg sind wir zuständig für die gesamte Infrastrukturplanung. Das ist das Verkehrsministerium, Schlüsselfrage für regionale Wirtschaftspolitik. Wir sind zuständig für die gesamte Energie- und Raumordnungspolitik, das heißt für alle Ansiedlung. Das heißt, alle operative Wirtschafts- und Industriepolitik ist fest in grüner Hand. Und wenn Sie weitergehen in diesem Bereich, wo es um Innovation geht, energetische Innovation und Forschung, auch das ist in der Hand einer grünen Hochschulministerin und Forschungsministerin. Ich vermag diese Beurteilung nicht ganz zu teilen, dass die Grünen sich da vor den zentralen Fragen rumgedrückt haben. Nein, sie haben die Schlüsselressorts und die Schlüsselverantwortlichkeiten für die ökologische Modernisierung Baden-Württembergs in der Hand. Und das ist neben der wichtigen Rolle, die ja ohne Zweifel der Ministerpräsident in solch einer Landesregierung spielt, ein sehr gutes Signal. Ich finde, das haben die ordentlich auf den Weg gebracht.
Blanke: Es könnte aber auch sein, dass die Enttäuschung bei den Wählern vielleicht schwerer wiegt. Man kann sich ja auch vorstellen, dass zum Beispiel in Ihrer Verantwortung dann Stuttgart 21 doch gebaut werden muss. In Rheinland-Pfalz wird die Moselbrücke gebaut. Könnte es nicht auch sein, dass viele jetzt Grün-begeisterte bis zur Bundestageswahl ernüchtert sind und dann doch nicht mehr die Grünen wählen?
Trittin: Ich glaube, die haben uns nicht im Rausch gewählt, sondern sehr nüchtern. Und die wissen, dass selbst mit grüner absoluter Mehrheit nicht alle Wünsche immer Wirklichkeit werden. Das ist die tägliche Erfahrung, die jeder Mensch macht, wenn er sich ein höherwertiges Konsumgut kauft. Nie werden alle Wünsche Wirklichkeit. Hier ist es darauf abzuklopfen, ob bei unterschiedlichen Interessenlagen vernünftige Kompromisse gefunden worden sind. In Rheinland-Pfalz ist man in den Koalitionsverhandlungen zu dem Ergebnis gekommen, dass der Preis eines Ausstiegs der Hochmoselbrücke ein fast dreistelliger Millionenbetrag wäre, der da ist. Da haben die Grünen sich nicht durchsetzen können. Bei dem von der Landesregierung vormals massiv beförderten Bau der Mittelrheinbrücke haben die Grünen sich durchgesetzt. Und deswegen glaube ich, dass viele Menschen diese beiden Seiten so sehen und es für uns immer darauf ankommt, zu erklären, was geht. Niemand erwartet, dass die Grünen alles durchsetzen. Sie erwarten von den Grünen, dass sie aber alles dafür tun, das zu erreichen, was irgend rauszuholen ist. Und ich glaube, das ist in beiden Fällen sehr gut gelungen.
Blanke: Und wie ist das in der Partei selbst? Also, die Grünen werden jetzt "Mitbesitzer" eines Atomkonzerns. Sie werden möglicherweise eben Stuttgart 21 bauen, sie werden sich mit Protesten gegen den Ausbau Erneuerbarer herumplagen müssen. Halten die Grünen das aus?
Trittin: Das machen die Grünen schon heute tagtäglich. Die Erfolge der Grünen - gerade in Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, in Nordrhein-Westfalen haben wir uns auch verdoppelt - sind eigentlich nur denkbar, weil wir so gut kommunal verankert sind. Jeder grüne Ratsherr - und die Grünen streben immer bevorzugt in die Bauausschüsse und Planungsausschüsse in den Kreistagen und Stadträten - weiß, was es für Zoff gibt über eine Satzung, die beispielsweise zulässt, Solardächer zu machen, die in Baugebieten bestimmte Heizungsformen untersagt, die davon ausgeht, dass Vorrangflächen für Windenergie geschaffen werden. Das ist unser tägliches Geschäft seit 20 Jahren. Wir haben dabei eine Erfahrung gemacht: Es nützt überhaupt nichts, die Bürger immer hinters Licht führen zu wollen, ihre Planungsrechte zu beschneiden. Wenn man solche Dinge umsetzen will und auf lokalen Widerstand stößt, dann hilft es nur, solche Verfahren transparent zu machen, die Menschen daran zu beteiligen. Dann gibt es in vielen Fällen auch für schwierige Entscheidungen stabile Mehrheiten und Zustimmung. Das ist einer der Gründe, warum wir in den letzten Jahren gewachsen sind, weil wir solche Interessen und Zielkonflikte nicht versucht haben, wegzudrücken, sondern sie ernst genommen haben.
Blanke: In zwei Wochen wird in Bremen gewählt. Dort sieht nach Umfragen alles danach aus, dass Rot-Grün weiter regieren wird. Spannender wird es wohl im September in Berlin. Vor fünf Jahren hätte es dort auch schon einmal für Rot-Grün gereicht. Klaus Wowereit hat sich aber damals dafür entschieden, das Bündnis mit der Linkspartei fortzusetzen. Müssten die Grünen also stärkste Partei werden, um dann auch Teil der Regierung zu werden beim nächsten Mal?
Trittin: Also, ich finde persönlich Bremen total spannend. Es ist meine Geburtsstadt, meine Mutter lebt da noch. Und wenn ich das noch mal erleben würde, dass die Grünen da vor der CDU landen - die Chance haben wir nämlich, dort Zweitstärkste zu werden -, das wäre mir schon eine schöne Angelegenheit. Das ist auch Grund genug für mich, in einer Stadt drei Wahlkampfauftritte zu absolvieren, nicht nur aus heimatlichen Gefühlen, sondern weil ich das ganz spannend finde. In Berlin streben wir an, in der Tat stärkste Fraktion zu werden. Ich weiß ja noch, warum Klaus Wowereit beim letzten Mal sich gegen die Grünen und für die Linken entschieden hat. Nicht, weil die Linken ihm besonders nahe sind, sondern weil die besonders bequem sind. Die sagen zu allem Ja und Amen, von dem Festhalten an den privatisierten Wasserbetrieben - Sie haben eigentlich nie ein kritisches Wort von denen gehört. Und da er eigentlich nicht regieren, sondern mehr repräsentieren wollte, war das ein logischer Koalitionspartner für ihn. Diese Wahl, das streben wir an, soll er beim nächsten Mal nicht mehr haben.
Blanke: Klaus Wowereit sagt, die SPD Juniorpartner der Grünen, das geht nirgendwo anders als in Baden-Württemberg.
Trittin: Ja, das sagt er. Das mag für ihn persönlich auch zutreffend sein, aber die SPD in Berlin wird noch sehr gut den Satz von Franz Müntefering im Ohr haben: "Opposition ist Mist". Und vor der Frage, hilflos in der Opposition zu sitzen oder mit zu regieren, wenn auch als Juniorpartner, wüsste ich eigentlich keinen Grund, der einem Berliner Sozialdemokraten einfallen könnte, warum er sich in einer solchen Situation anders verhält als beispielsweise Nils Schmidt in Baden-Württemberg.
Blanke: Herr Trittin, vielen Dank für das Gespräch.
Trittin: Ich danke Ihnen.
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