Karin Fischer: Brasilien ist das Gastland hier, und sowohl für das jeweilige Land als auch für die deutschen Leserinnen und Leser ist das immer ein sehr großes Glück, denn wie kaum eine andere Institution kann die Frankfurter Buchmesse den Fokus auf Autoren aus ganz weit entfernten Ländern richten. Über 90 Autorinnen und Autoren präsentieren ihre Bücher aus Brasilien hier, zum Teil sind sie neu übersetzt. Und gestern Abend zur Eröffnung der Buchmesse sprach der Autor Luiz Ruffato sehr deutliche Worte:
Luiz Ruffato: "Als ein Merkmal brasilianischer Toleranz wird stets die sogenannte Rassendemokratie angeführt – ein Mythos. Der Mythos wird verbreitet, es habe keine Vernichtung gegeben, sondern eine Assimilation der Ureinwohner. Dennoch handelt es sich dabei um einen Euphemismus, der lediglich dazu dient, eine unleugbare Tatsache zu vertuschen. Wenn wir heute ein Land von Mestizen sind, so ist dies Resultat einer gewaltsamen Kreuzung zwischen europäischen Männern mit indianischen und afrikanischen Frauen. Genauer gesagt: Assimilation geschah über die Vergewaltigung von Ureinwohnerinnen und Afrikanerinnen durch weiße Kolonisatoren."
Fischer: Die brasilianische Identität, sagt Ruffato, gründet auf einem Akt der Gewalt. Er wollte provozieren, sagen brasilianische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die dabei waren. Aber, Michi Strausfeld, was aber doch hängen bleibt, gerade weil wir es in den vergangenen Tagen so oft gelesen haben: Diesen "melting pot" Brasilien als positive Imagination gibt es eigentlich so nicht, dafür viel Egoismus und Gewalt?
Michi Strausfeld: Ich glaube, was Luiz Ruffato da gesagt hat, dass die brasilianische Gesellschaft, wie sie sich heute präsentiert, in ihren verschiedenen Rassenmischungen in der Tat auf der Vergewaltigung der Frauen beruht hat, denn die weißen Männer lebten im Herrenhaus, wie Gilberto Freyre schon in den 30er-Jahren geschildert hat, und dann gingen sie Nachts in die Büsche zu den Sklavenhütten und haben jede Menge Nachkommen gezeugt. Das ist eine Sache. Dass die immer freiwillig vor sich gegangen sind, diese Beischläfersachen, das kann ich mir schwer vorstellen. Die Indio-Frauen oder die Indios überhaupt sind weitgehend ausgerottet worden. Es gibt heute noch vier Millionen Indios in einem Land von 190 Millionen. Das waren aber die Menschen, die dort gelebt haben, und insofern hat er, glaube ich, recht.
Fischer: Ruffato sagt auch, die Raubtier-Mentalität in den Köpfen, die man heute noch in Brasilien feststellen kann, "kommen, nehmen, abhauen", die sei seit der Kolonialzeit fest verankert in den Köpfen, wie zum Beispiel auch die Korruption. Findet dieser Zusammenhang seinen Niederschlag in der brasilianischen Literatur?
Strausfeld: Teilweise. Die jungen Autoren gehen schon sehr kritisch mit der Gesellschaft um, in der sie leben. Das ist sicherlich als erstes die Violentia, die in den Großstädten, in den Metropolen sichtbar wird. Das hat Paulo Lins exemplarisch dargestellt in seinem autobiographischen Roman "Die Stadt Gottes", die ja auch erfolgreich verfilmt worden ist. Aber das, was an Gewalt sich in den Städten aufgebaut hat, beruht ja darauf, dass viele Dinge einfach nicht funktionieren. Und ich glaube, was noch nicht richtig aufgearbeitet oder literarisch verarbeitet worden ist: Was bedeutet es eigentlich für ein Land, wenn drei Jahrhunderte lang Sklaverei geherrscht hat? Die Sklaverei ist in Brasilien erst 1888 abgeschafft worden offiziell, und das heißt ja nicht, dass sie dann am nächsten Tag eins zu eins umgesetzt worden wäre. Die Spätfolgen, das hat sich ja weiter durch die Gesellschaft gezogen. Und ich denke, wer es vielleicht am deutlichsten beschrieben hat, ist Jorge Amado, der große Volksschriftsteller aus Salvador da Bahia, also aus der Gegend des Landes, die ganz besonders von der afro-brasilianischen Kultur geprägt ist. Er hat aufgezeigt, wie man dort miteinander umgeht und wie die Weißen zum Beispiel immer sagen, oh, wir sind ganz weiß, und dann plötzlich stellt sich heraus, der Urenkel hat auf einmal krause Locken. Ja, das kann es ja alles geben und das gibt es auch, und das schildert er in diesem Roman "Werkstatt der Wunder" sehr, sehr einprägsam. Also es ist etwas in diesem Punkte literarisch geschehen.
Fischer: Ich glaube, wir tun niemandem Unrecht, wenn wir den Buchmessen-Auftritt Brasiliens hier als schlicht bezeichnen. Ich bin Fahrrad gefahren wie ein brasilianischer Blumenhändler und konnte damit sozusagen die Geschichte Brasiliens mir auf einem kleinen Screen anschauen. Es gibt stilisierte Baumstämme mit Hängematten dazwischen, um auch dem glückhaften Erleben von Literatur unter der Sonne Brasiliens ein bisschen Rechnung zu tragen. Wir können diese ganze Literaturgeschichte leider nicht nacherzählen, Michi Strausfeld. Nur so viel: Sie hat mit dem magischen Realismus, den wir aus Lateinamerika kennen, nicht so viel zu tun, wie man denkt?
Strausfeld: Nein. Das ist leider etwas, was in deutschen Leserköpfen und auch in deutschen Feuilletons immer wieder gesagt wird: Wo ist der magische Realismus von Brasilien? – Sie hatten keinen magischen Realismus.
Fischer: Was hatten sie dann?
Strausfeld: Sie hatten anderes, eben schwarzafrikanische afro-brasilianische Kultur, und sie haben eine ganz eigene Entwicklung gehabt und insofern auch große Namen, an die man sich vielleicht erinnert. Es ist wirklich kein magischer Realismus. Sie wollen auch nichts damit zu tun haben.
Fischer: Aber es gibt Gründungsmythen, literarisch aufgearbeitet?
Strausfeld: Es gibt Gründungsmythen, natürlich. Es gibt ein wichtiges Werk von Euclides da Cunha über den Krieg im Sertaó. Das ist ein ganz wichtiges Erlebnis gewesen, eine reale Begebenheit, die dann literarisch aufgearbeitet worden ist in einem beeindruckenden Epos. Aber wiederum ist es eigentlich eher ein Tatsachenbericht und ganz sicherlich nicht magischer Realismus. Man tut der Literatur Unrecht, wenn man sie versucht, in diese Schublade zu stecken, und die Autoren wollen ganz und gar nichts davon wissen.
Fischer: Mindestens über zwei Autoren – das ist ein bisschen ein Kuriosum dieser Brasilianer – habe ich gelesen, sie hätten die brasilianische Literatur revolutioniert. Eine davon ist Clarice Lispector, die zur Avantgarde der 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehört. Der zweite ist der schon genannte Luiz Ruffato, der mit "Es waren viele Pferde" einen Roman aus der Gegenwart, aber so sehr filmschnittartig erzählt. Vielleicht aus Ihrer, durchaus gerne auch subjektiven Sicht: Was müssen wir lesen von diesen Brasilianern?
Strausfeld: Clarice Lispector ist sicherlich eine gute Empfehlung. Sie ist eine außergewöhnlich literarische Gestalt im brasilianischen Kontext und ihre Bücher …
Fischer: …, weil auch jüdisch-europäischer Herkunft?
Strausfeld: Jüdisch-europäisch, aber sie kam mit zwei Jahren nach Brasilien, sie hat sich immer ganz als Brasilianerin gefühlt. Aber sie hatte eine eigene Sensibilität, und das findet man in ihren Büchern wieder und das ist, glaube ich, sehr gelungen.
Luiz Ruffato ist jetzt einer von den ganz jungen Autoren beziehungsweise einer von denen, die erst nach 2000 angefangen haben zu publizieren, und "Es waren viele Pferde" ist einfach ein Tag in Sao Paulo, 24 Stunden in Sao Paulo, und er führt in 69 ganz kurzen Texten einen Querschnitt durch diesen Moloch vor, der literarisch rasant ist und der uns vielleicht alle zum Nachdenken einlädt, weil auch da wieder die Hauptthemen die Gewalt, die Drogen, Prostitution, die verlassenen Kinder sind. Alles kommt in diesen sketschmäßig erzählten kurzen Texten zur Sprache und der Leser hat irgendwie das Gefühl, wie ist es ihm denn, wie wird es ihm weitergehen, was wird aus ihm werden. Also man identifiziert sich sehr schnell mit diesen kurzen Figuren und ich glaube, es ist ein wirklich großartiges Buch.
Fischer: Danke, Michi Strausfeld, fürs kommen und für diesen kurzen Überblick über die neuere brasilianische Literatur.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Luiz Ruffato: "Als ein Merkmal brasilianischer Toleranz wird stets die sogenannte Rassendemokratie angeführt – ein Mythos. Der Mythos wird verbreitet, es habe keine Vernichtung gegeben, sondern eine Assimilation der Ureinwohner. Dennoch handelt es sich dabei um einen Euphemismus, der lediglich dazu dient, eine unleugbare Tatsache zu vertuschen. Wenn wir heute ein Land von Mestizen sind, so ist dies Resultat einer gewaltsamen Kreuzung zwischen europäischen Männern mit indianischen und afrikanischen Frauen. Genauer gesagt: Assimilation geschah über die Vergewaltigung von Ureinwohnerinnen und Afrikanerinnen durch weiße Kolonisatoren."
Fischer: Die brasilianische Identität, sagt Ruffato, gründet auf einem Akt der Gewalt. Er wollte provozieren, sagen brasilianische Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die dabei waren. Aber, Michi Strausfeld, was aber doch hängen bleibt, gerade weil wir es in den vergangenen Tagen so oft gelesen haben: Diesen "melting pot" Brasilien als positive Imagination gibt es eigentlich so nicht, dafür viel Egoismus und Gewalt?
Michi Strausfeld: Ich glaube, was Luiz Ruffato da gesagt hat, dass die brasilianische Gesellschaft, wie sie sich heute präsentiert, in ihren verschiedenen Rassenmischungen in der Tat auf der Vergewaltigung der Frauen beruht hat, denn die weißen Männer lebten im Herrenhaus, wie Gilberto Freyre schon in den 30er-Jahren geschildert hat, und dann gingen sie Nachts in die Büsche zu den Sklavenhütten und haben jede Menge Nachkommen gezeugt. Das ist eine Sache. Dass die immer freiwillig vor sich gegangen sind, diese Beischläfersachen, das kann ich mir schwer vorstellen. Die Indio-Frauen oder die Indios überhaupt sind weitgehend ausgerottet worden. Es gibt heute noch vier Millionen Indios in einem Land von 190 Millionen. Das waren aber die Menschen, die dort gelebt haben, und insofern hat er, glaube ich, recht.
Fischer: Ruffato sagt auch, die Raubtier-Mentalität in den Köpfen, die man heute noch in Brasilien feststellen kann, "kommen, nehmen, abhauen", die sei seit der Kolonialzeit fest verankert in den Köpfen, wie zum Beispiel auch die Korruption. Findet dieser Zusammenhang seinen Niederschlag in der brasilianischen Literatur?
Strausfeld: Teilweise. Die jungen Autoren gehen schon sehr kritisch mit der Gesellschaft um, in der sie leben. Das ist sicherlich als erstes die Violentia, die in den Großstädten, in den Metropolen sichtbar wird. Das hat Paulo Lins exemplarisch dargestellt in seinem autobiographischen Roman "Die Stadt Gottes", die ja auch erfolgreich verfilmt worden ist. Aber das, was an Gewalt sich in den Städten aufgebaut hat, beruht ja darauf, dass viele Dinge einfach nicht funktionieren. Und ich glaube, was noch nicht richtig aufgearbeitet oder literarisch verarbeitet worden ist: Was bedeutet es eigentlich für ein Land, wenn drei Jahrhunderte lang Sklaverei geherrscht hat? Die Sklaverei ist in Brasilien erst 1888 abgeschafft worden offiziell, und das heißt ja nicht, dass sie dann am nächsten Tag eins zu eins umgesetzt worden wäre. Die Spätfolgen, das hat sich ja weiter durch die Gesellschaft gezogen. Und ich denke, wer es vielleicht am deutlichsten beschrieben hat, ist Jorge Amado, der große Volksschriftsteller aus Salvador da Bahia, also aus der Gegend des Landes, die ganz besonders von der afro-brasilianischen Kultur geprägt ist. Er hat aufgezeigt, wie man dort miteinander umgeht und wie die Weißen zum Beispiel immer sagen, oh, wir sind ganz weiß, und dann plötzlich stellt sich heraus, der Urenkel hat auf einmal krause Locken. Ja, das kann es ja alles geben und das gibt es auch, und das schildert er in diesem Roman "Werkstatt der Wunder" sehr, sehr einprägsam. Also es ist etwas in diesem Punkte literarisch geschehen.
Fischer: Ich glaube, wir tun niemandem Unrecht, wenn wir den Buchmessen-Auftritt Brasiliens hier als schlicht bezeichnen. Ich bin Fahrrad gefahren wie ein brasilianischer Blumenhändler und konnte damit sozusagen die Geschichte Brasiliens mir auf einem kleinen Screen anschauen. Es gibt stilisierte Baumstämme mit Hängematten dazwischen, um auch dem glückhaften Erleben von Literatur unter der Sonne Brasiliens ein bisschen Rechnung zu tragen. Wir können diese ganze Literaturgeschichte leider nicht nacherzählen, Michi Strausfeld. Nur so viel: Sie hat mit dem magischen Realismus, den wir aus Lateinamerika kennen, nicht so viel zu tun, wie man denkt?
Strausfeld: Nein. Das ist leider etwas, was in deutschen Leserköpfen und auch in deutschen Feuilletons immer wieder gesagt wird: Wo ist der magische Realismus von Brasilien? – Sie hatten keinen magischen Realismus.
Fischer: Was hatten sie dann?
Strausfeld: Sie hatten anderes, eben schwarzafrikanische afro-brasilianische Kultur, und sie haben eine ganz eigene Entwicklung gehabt und insofern auch große Namen, an die man sich vielleicht erinnert. Es ist wirklich kein magischer Realismus. Sie wollen auch nichts damit zu tun haben.
Fischer: Aber es gibt Gründungsmythen, literarisch aufgearbeitet?
Strausfeld: Es gibt Gründungsmythen, natürlich. Es gibt ein wichtiges Werk von Euclides da Cunha über den Krieg im Sertaó. Das ist ein ganz wichtiges Erlebnis gewesen, eine reale Begebenheit, die dann literarisch aufgearbeitet worden ist in einem beeindruckenden Epos. Aber wiederum ist es eigentlich eher ein Tatsachenbericht und ganz sicherlich nicht magischer Realismus. Man tut der Literatur Unrecht, wenn man sie versucht, in diese Schublade zu stecken, und die Autoren wollen ganz und gar nichts davon wissen.
Fischer: Mindestens über zwei Autoren – das ist ein bisschen ein Kuriosum dieser Brasilianer – habe ich gelesen, sie hätten die brasilianische Literatur revolutioniert. Eine davon ist Clarice Lispector, die zur Avantgarde der 40er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehört. Der zweite ist der schon genannte Luiz Ruffato, der mit "Es waren viele Pferde" einen Roman aus der Gegenwart, aber so sehr filmschnittartig erzählt. Vielleicht aus Ihrer, durchaus gerne auch subjektiven Sicht: Was müssen wir lesen von diesen Brasilianern?
Strausfeld: Clarice Lispector ist sicherlich eine gute Empfehlung. Sie ist eine außergewöhnlich literarische Gestalt im brasilianischen Kontext und ihre Bücher …
Fischer: …, weil auch jüdisch-europäischer Herkunft?
Strausfeld: Jüdisch-europäisch, aber sie kam mit zwei Jahren nach Brasilien, sie hat sich immer ganz als Brasilianerin gefühlt. Aber sie hatte eine eigene Sensibilität, und das findet man in ihren Büchern wieder und das ist, glaube ich, sehr gelungen.
Luiz Ruffato ist jetzt einer von den ganz jungen Autoren beziehungsweise einer von denen, die erst nach 2000 angefangen haben zu publizieren, und "Es waren viele Pferde" ist einfach ein Tag in Sao Paulo, 24 Stunden in Sao Paulo, und er führt in 69 ganz kurzen Texten einen Querschnitt durch diesen Moloch vor, der literarisch rasant ist und der uns vielleicht alle zum Nachdenken einlädt, weil auch da wieder die Hauptthemen die Gewalt, die Drogen, Prostitution, die verlassenen Kinder sind. Alles kommt in diesen sketschmäßig erzählten kurzen Texten zur Sprache und der Leser hat irgendwie das Gefühl, wie ist es ihm denn, wie wird es ihm weitergehen, was wird aus ihm werden. Also man identifiziert sich sehr schnell mit diesen kurzen Figuren und ich glaube, es ist ein wirklich großartiges Buch.
Fischer: Danke, Michi Strausfeld, fürs kommen und für diesen kurzen Überblick über die neuere brasilianische Literatur.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.