Frank Capellan: Manuela Schwesig, fast zwei Monate lang ist nun um einen Kompromiss zur Neuberechnung des Hartz-IV-Satzes gerungen worden, ohne Erfolg. Das Verfassungsgericht hatte ja eine Frist bis zum 1. Januar gesetzt. Wie ist es eigentlich möglich, dass sich die Politik – so hat es den Anschein – so wenig für Vorgaben aus Karlsruhe interessiert?
Manuela Schwesig: Das liegt daran, dass die Bundesregierung, die Bundesministerin Frau von der Leyen, ein Jahr Zeit hatte, ein Gesetz zu machen, aber alleine zehn Monate gebraucht hat davon, überhaupt um einen Vorschlag vorzulegen und dann die allerletzte Frist genutzt hat im Bundesrat, den Vorschlag einzubringen und aber eigentlich wusste, dass sie dort gar keine Mehrheiten hat für ihren Vorschlag. Und das war absehbar schon im letzten Jahr. Wir haben immer davor gewarnt, dass sie dann mit dem Verfahren sogar noch in dieses Jahr kommen.
Capellan: Man befindet sich aber jetzt in einem verfassungswidrigen Raum.
Schwesig: Der Rahmen ist verfassungswidrig, deswegen hat die SPD im letzten Jahr in der Dezembersitzung im Bundesrat beantragt, dass schon mal die fünf Euro Regelsatzerhöhung und auch das Bildungspaket, die Leistung aus dem Bildungspaket, ausgezahlt werden, denn die Höhe von diesen Leistungen ist ja unstrittig. Es geht nur darum: Wie soll es umgesetzt werden – und gibt es vielleicht noch mehr an Leistungen?
Capellan: Warum ist es dazu nicht gekommen? Das war auch von der Arbeitsministerin, Frau Ursula von der Leyen, Ende des Jahres zunächst noch zu hören gewesen, dass man die fünf Euro erst einmal auszahlt und dann weiter verhandelt. Woran ist das gescheitert?
Schwesig: Frau von der Leyen hatte lange angekündigt, dass sie es auszahlt. Und sie hat dann kurz vor dem Jahresende einen Rückzieher gemacht, weil sie die Hartz IV-Empfänger, vor allem die Kinder, benutzen will, uns unter Druck zu setzen nach dem Motto: Ihr müsst jetzt zustimmen, sonst kriegen die ihre fünf Euro und ihr Bildungspaket nicht. Und das geht natürlich nicht, dass man die Kinder und die Erwachsenen da in Geiselhaft nimmt dafür, dass wir unter Druck gesetzt werden, schnell zuzustimmen.
Capellan: Wäre es denn Ihrer Ansicht nach möglich, erst einmal zu zahlen? Denn da gibt es ja auch die Argumentation von Juristen, die sagen: Nach dem Sozialgesetzbuch geht das nicht, da muss erst ein Gesetz vorhanden sein, bevor ich Leistungen auszahlen kann.
Schwesig: Es gibt, wie fast zu jeder Frage in Deutschland, unterschiedliche juristische Bewertungen. Wenn ich etwas möchte und Juristen mir bestätigen, dass das geht, dann mache ich das auch. Und Frau von der Leyen hat es ja über Monate hinweg auch versprochen. Und wir machen so etwas Ähnliches bei anderen Gesetzen, zum Beispiel, wenn die Beamten mehr Geld bekommen, dann passiert es auch schon gleich dann, wenn sich die Tarifpartner im öffentlichen Dienst geeinigt haben, und das Gesetz wird meistens später beschlossen. Ich frage mich eigentlich, warum das bei Beamten möglich ist, aber nicht bei Hartz IV-Kindern.
Capellan: Nun ist die erste Verhandlungsrunde gescheitert. Der Bundesrat hat allerdings am vergangenen Freitag beschlossen, dass ein neues Vermittlungsverfahren angestrengt wird, dass wieder verhandelt wird. Waren Sie erst mal erleichtert, oder hätten Sie vielleicht doch gern eine Abstimmungsniederlage der schwarz-gelben Bundesregierung gesehen?
Schwesig: Ich habe sehr dafür geworben, und wir haben uns in der SPD bewusst dafür entschieden, dass wir nicht zu dieser Abstimmungsniederlage der Bundesregierung kommen, denn klar: Eigentlich denkt man, die müssen es auch mal sehen, dass es so nicht geht. Aber es kann jetzt nicht um diese Machtspielchen gehen, sondern es muss darum gehen, dass wir weiter im Gespräch sind und eine Lösung finden. Man hört es ja und erfährt es aus Gesprächen, dass die Leute dieses Hin und Her nicht mehr verstehen. Und deswegen finde ich es unverantwortlich, dass überhaupt wir diese Tage jetzt verschwendet haben, weil wir wieder an dem Punkt sind, dass wir weiterreden. Das ist das, was wir Dienstagnacht auch wollten und was Frau von der Leyen und die Kanzlerin verhindert haben.
Capellan: Können Sie es denn als Politikerin noch erklären, wie es möglich ist, dass man sich bei der Bankenrettung – das Argument wird jetzt immer wieder gebracht – innerhalb von wenigen Tagen einigen kann, und bei der Sicherung des Existenzminimums für Arbeitslose reicht ein ganzes Jahr nicht aus, um sich zu verständigen.
Schwesig: Die Erklärung liegt darin, dass wir Parteien haben, die verschiedene Werte haben. Und offensichtlich ist es der CDU und FDP mehr Wert, sich schnell um Bankenrettung zu kümmern als um diese Frage von Sätzen für Kinder. Hier wird um jeden Euro gerungen, und ich kann total verstehen, dass die Leute darüber frustriert sind, denn darüber bin ich selber frustriert.
Capellan: Wie geht es nun weiter? Worüber wird denn gesprochen, wird dann wirklich nur noch diskutiert über den Regelsatz? Wir müssen noch mal erläutern: Die Bundesregierung hat ja angeboten, den Hartz IV-Satz um monatlich fünf Euro – von 359 auf 364 Euro – zu erhöhen. Soll nur darüber gesprochen werden, oder auch weiterhin über das, was Sie ja in der ersten Runde in die Verhandlung gebracht haben, nämlich über Equal Pay – gleicher Lohn für gleiche Arbeit – oder über den Mindestlohn beispielsweise?
Schwesig: Die Debatte in der Länderkammer hat ganz klar gezeigt, dass sich die Ministerpräsidenten darauf verständigt haben, dass wir über das, was bereits schon auf dem Tisch liegt an Vorschlägen und Kompromissen, auch reden, und dass wir die harten Punkte, die noch offen waren, dringend miteinander klären müssen. Dazu gehört in allererster Linie die Frage des Bildungspaketes. Wenn wir wollen, dass die Kommunen das Bildungspaket für Kinder umsetzen, was ich richtig finde, dass man Geld an Kitas, an Ganztagsschulen, bei Vereinen andocken kann, dann müssen die Kommunen dafür auch ordentlich ausfinanziert werden. Denn wir Bürger erleben vor Ort, dass unsere Kommunen kaum noch Geld haben, dann steigen die Gebühren für Straßenreinigung, Grundsteuer, die Schwimmbäder werden geschlossen. Und deswegen können wir nichts an die Kommunen geben, was sie eigentlich nicht mehr finanzieren können. Punkt zwei ist, was mir sehr am Herzen liegt, dass wir doch noch mal über die Frage "Einsatz von Jugend-Sozialarbeitern" sprechen. Denn das ist auch wichtig, dass wir Kinder und Jugendliche vor Ort unterstützen mit Personen. Es geht nicht nur ums Geld, es geht auch um die Menschen, die da sind, sich neben den Eltern um Kinder und Jugendliche zu kümmern – zum Beispiel Schul-Sozialarbeiter. Dann ist natürlich der schwierigste Punkt, die Frage des Regelsatzes. Und hier müssen die Menschen einfach sich vorstellen, dass Politiker, gerade von SPD und Grüne, sehr sensibel sind bei dem Thema, weil wir schon einmal eine Klatsche vom Bundesverfassungsgericht bekommen haben. Die Politik – Rot-Grün im Bundestag und damals Schwarz-Gelb im Bundesrat – hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, was verfassungswidrig ist. Und deswegen sagen heute Politiker von SPD und Grüne: Wir wollen sicher sein, dass uns das nicht noch mal passiert, weil das auch zur Politikverdrossenheit führen würde. Und Fachexperten sagen uns, dass es an der einen oder anderen Stelle Korrekturen geben muss, sonst kommen wir nicht voran.
Capellan: Ist es denn denkbar, dass man sich vonseiten der SPD darauf einlässt, man lässt es bei der Erhöhung um fünf Euro des monatlichen Regelsatzes und verhandelt nur über mögliche Zuschläge? Denn das ist ja jetzt auch in der Diskussion – Zuschläge, Sonderzuschläge für den Kauf einer Waschmaschine oder eines Kühlschrankes oder auch einen Zuschlag für die Monatskarte für Bus oder Bahn. Denn es ist ja in der Tat so, dass insbesondere die FDP darauf beharrt: fünf Euro – und nicht mehr!
Schwesig: Aber genau das ist das Problem. Es kann nicht sein, dass jetzt wieder ein Verhandlungspartner kommt und jetzt schon wieder sagt: Das ist ein Tabu, das gibt es nicht. Und an der Stelle muss ich appellieren an die FDP. Die FDP war bisher in den Verhandlungen ein totaler Klotz am Bein, weil sie immer gesagt hat, was alles nicht geht und nie gesagt hat, was geht. Sie wollen keine Schul-Sozialarbeiter, sie wollen den Regelsatz nicht erhöhen, sie wollen auch über andere Leistungen nicht diskutieren, wie zum Beispiel über den Mindestlohn und Equal pay. Und so geht es einfach nicht.
Capellan: Das heißt also, Sie bestehen darauf, es müssen am Ende mehr als fünf Euro dabei rauskommen?
Schwesig: Wir haben auch Vorschläge unterbreitet, die nicht zwingend zu einer Erhöhung führen. Worum es uns geht ist, dass wir verschiedene Berechnungsmethoden haben, wo uns Experten sagen: Das ist wahrscheinlich, wenn man es so oder so macht, nicht verfassungsgemäß. Und darüber wollen wir mit der anderen Seite reden. Bisher waren da wirklich die Ohren zu. Die haben gesagt, wir reden nicht über den Regelsatz. Und basta.
Capellan: Aber Sie haben darüber geredet, Sie haben elf Euro mehr gefordert. Wie kam diese Zahl zustande, elf Euro mehr im Monat?
Schwesig: Es gibt zum Beispiel einen Kritikpunkt, den Verfassungsexperten vortragen. Die sagen, in dem Regelsatz sind Aufstocker enthalten. Das sind Menschen, die Hartz IV beziehen, aber auch noch ein bisschen hinzuverdienen. Und es kann nicht sein, dass die eigentlich selber von Hartz IV leben müssen und die als Maßstab dafür nehmen, ob eigentlich Hartz IV ausreicht. Wenn man die rausnimmt, dann würde das eine Regelsatzerhöhung um noch mal sechs Euro bedeuten, also plus elf Euro.
Capellan: Noch mal nachgefragt: Sie bestehen nicht auf den elf Euro, die in der ersten Runde genannt wurden?
Schwesig: Uns geht es nicht um so und so viel Euro oder so und so viel Euro. Es ging immer darum, dass wir gesagt haben: Ihr müsst an der Berechnungsmethode etwas korrigieren oder Waren, die Ihr herausgenommen habt, nicht gut genug berücksichtigt habt, die Mobilität besser berücksichtigen. Wir hatten ja in den Endverhandlungen einen Vorschlag, der gar nicht zur Regelsatzerhöhung geführt hätte. Aber der war der Bundesregierung auch wieder nicht recht, weil die Bundesregierung die Verhandlungen abbrechen wollte.
Capellan: Warum ist es so schwierig, diesen Satz zu berechnen. Es wird immer wieder auf Vorgaben verwiesen, die das Statistische Bundesamt gibt. Ich erinnere mich an Andrea Nahles, die SPD-Generalsekretärin. Die hat am 24. September 2010 wörtlich gesagt: "Nach unseren Berechnungen muss der Regelsatz über 400 Euro liegen, alles andere ist künstlich heruntergerechnet." Jetzt sind Sie bei 370 Euro, sagen aber gerade, es geht nicht unbedingt um diese elf Euro mehr, vielleicht kann man auch an anderer Stelle mehr geben. Warum ist es so schwierig, da eine feste Größe zu bekommen? Was braucht ein Hartz IV-Empfänger monatlich zum Leben?
Schwesig: Die Fachexperten sagen, dass an verschiedenen Stellen nach unten geschraubt worden ist, und wenn man alle Stellen wieder korrigiert, würde man wahrscheinlich wirklich weit über 400 Euro kommen, so wie es ja auch die Sozialverbände berechnet haben. Und um der Bundesregierung entgegen zu kommen, weil sie der Meinung ist, diese Korrekturen braucht man alle nicht, das ist letztendlich ein Juristenstreit, haben wir gesagt: Gut, dann müsst Ihr aber, um uns entgegen zu kommen, wenigstens eine Teilkorrektur machen. Und das wird jetzt auch Aufgabe sein der nächsten Tage, sich noch mal Gedanken darüber zu machen, wie man zusammenkommt. Und das Problem in den Verhandlungen bisher war, dass der Regelsatz zu einem Tabu erklärt worden ist, von der FDP vor allem, aber auch von Frau von der Leyen. Und ich bin froh, dass Ministerpräsident Seehofer zum Beispiel sagt: Es darf kein Tabu sein.
Capellan: Erinnern wir uns noch mal und führen uns noch mal vor Augen, was das Verfassungsgericht zur Vorgabe gemacht hat. Es ging nicht um die Höhe des Regelsatzes, es ging darum, dass die Errechnung des Bedarfes transparent für jedermann ersichtlich sein soll. Dann frage ich Sie nun: Was hat der Mindestlohn, was hat gleicher Lohn für gleiche Arbeit mit dieser Vorgabe zu tun?
Schwesig: Im Mittelpunkt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts steht, dass die Menschenwürde geachtet werden muss, das menschenwürdige Existenzminimum. Und dazu gehört auch: Wenn Menschen arbeiten, dass sie davon leben können und ohne Sozialleistungen klarkommen. Und alle denken ja, so tut auch die Bundesregierung, dass die Leute, die von Hartz IV leben müssen, nur faul auf dem Sofa zu Hause sitzen. Aber so ist es gar nicht. Erstens gibt es viele, die kaum Chancen auf Arbeit haben und viele, die auch chronisch krank sind und auf diese Leistungen angewiesen sind. Aber es gibt auch sehr viele, mittlerweile 1.4 Millionen Deutsche, die arbeiten gehen, davon 250.000 Vollzeit, und so niedrige Löhne bekommen, dass sie davon nicht leben können und zusätzlich Hartz IV brauchen. Und wir sagen: Darauf ist die Antwort der Mindestlohn, um die Menschen aus Hartz IV zu holen, weil es eine Frage der Gerechtigkeit ist, dass man von seiner Arbeit leben kann. Und wir würden elf Milliarden Steuergelder sparen, die doch besser in Bildung aufgehoben sind.
Capellan: Nun sagt allerdings die Gegenseite, wenn Sie sich auf die fünf Euro eingelassen hätten, dann hätten Sie das auch bekommen können. War man wirklich so weit bei den Verhandlungen? Dann hätten Sie auch einen Mindestlohn bekommen können und auch Zugeständnisse beim Equal Pay.
Schwesig: Es gab keine Zugeständnisse beim Equal Pay. Equal Pay heißt ja: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Und das ist vor allem für die Leiharbeit und Zeitarbeitsfragen ganz wichtig. Wir haben eine Million Menschen, die in dieser Branche arbeiten und erleben, dass sie eben viel weniger Geld und oftmals für mehr Stunden in Betrieben arbeiten müssen als die Festangestellten. Und diese Möglichkeiten, da in den Löhnen runter zu gehen, nutzen teilweise Unternehmen immer mehr aus. Da wollen wir einen Riegel vorschieben. Das macht aber nur Sinn, wenn man früh damit anfängt. Die Bundesregierung schlägt vor, vor allem die FDP, ab neun Monaten. Aber die meisten Zeitarbeiter sind gar nicht so lange in einem Betrieb. So wäre das eine Regelung, die vielleicht nach außen sehr gut aussieht, aber in Wahrheit den Menschen nicht hilft. Und wir wollen natürlich Politik machen, dass den Menschen geholfen wird. Und hier gibt es überhaupt gar kein Angebot der anderen Seite, der Bundesregierung. Es scheint mir ein Punkt zu sein, wo es sehr schwer ist, zusammen zu kommen.
Capellan: Ist denn denkbar, dass Sie genau diesen Punkt ausklammern, dass man eben wirklich nur über Regelsatz und Sonderbedarf redet und nicht über Equal Pay?
Schwesig: Wir haben zwei Alternativangebote der Bundesregierung gemacht. Wir haben gesagt, entweder kriegen wir eine gute Lösung hin beim Equal Pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sind denen weit entgegen gekommen und haben gesagt, wenn wir das nicht hinkriegen, weil wir nicht Scheinlösungen wollen, dann brauchen wir wenigstens mehr Zugeständnisse bei den Mindestlöhnen, dass wir wirklich bei der Frage Mindestlöhne vorankommen.
Capellan: Verstehe ich das richtig, dass Sie sagen, wenn man beim Equal Pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Festangestellte und Leiharbeiter, wenn man da nicht weiter kommt, dann wollen Sie wenigstens Ergebnisse beim Mindestlohn, in der Weiterbildungsbranche, beim Wachdienst? Damit könnten Sie sich dann zufriedengeben und das andere ausklammern?
Schwesig: Es ist immer eine Bewertung des Gesamtergebnisses. Wenn das jetzt wirklich dazu führt, dass wir beim Equal Pay keine gute Lösung hinbekommen, für die wir natürlich kämpfen, dann macht es keinen Sinn, irgendwelche Scheinlösungen – nur damit man so tun kann, als ob man irgendwie was vorzuweisen hat – zu vereinbaren. Und deswegen ist unser Angebot, wenn wir bei Equal Pay nicht zusammen kommen, dass sich dann viel mehr bei den Mindestlöhnen tun muss.
Capellan: Was macht Sie so sicher, dass man – es stehen jetzt einige Landtagswahlen bevor, in Hamburg, in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz bis Ende März – dass man vorher zu einer Einigung kommt?
Schwesig: Ich weiß, dass sich das alles sehr komplex anhört und hier viele Themen im Gespräch sind, die aber zusammengehören. Es ist keine Frage, dass man mit Mindestlohn für gute Arbeit sorgt, für ein gutes Einkommen, dass man mit Bildung für mehr Gerechtigkeit bei Kindern sorgt und mit dem Regelsatz für eine Existenz. Wir reden ja hier nicht von viel Geld, sondern davon, dass wirklich die Menschen sich wenigstens das Minimalste leisten können. Deswegen gehört das für uns zusammen. Ich verstehe aber schon, dass man den Eindruck hat, mein Gott, wie wollen die sich alle da eigentlich einigen? Und es stimmt ja auch, wir verhandeln ja mit drei Partnern, der CSU, der FDP und CDU, die immer sehr unterschiedliche Auffassungen haben. Ich glaube aber, dass der Druck auf alle Seiten sehr, sehr groß ist, denn alle müssen verstanden haben, dass die Menschen das zu recht nicht mehr verstehen, warum wir nicht zusammen kommen. Und ich kann nur warnen, dass jetzt taktische Spielchen stattfinden, so wie sie von Herrn Lindner angekündigt worden sind nach dem Motto: Wir haben ja noch Zeit bis März. Es geht nicht darum, irgendwelche Wahlen zu überstehen, es geht darum, jetzt schnell und zügig zu einem ordentlichen Ergebnis zu kommen.
Capellan: Wird denn nicht der Druck auf die SPD mit jedem Tag größer als der auf Union und FDP? Denn die SPD hat sicherlich in ihren Reihen, in den Reihen der SPD-Wähler, doch mehr Bezieher von Hartz IV Leistungen, die ja jetzt auch mal Leistungen sehen möchten und ungeduldig werden könnten. Die Union und FDP – so könnte man meinen – können dieses Problem aussitzen bis nach den Wahlen und die Schuld am Scheitern der SPD zuweisen.
Schwesig: Ich habe den Eindruck, dass das Gegenteil der Fall ist. Das sieht man ja auch an den Umfragen, dass die Mehrheit der Menschen uns unterstützt bei der Forderung nach Mindestlöhnen, aber auch nach fairen Regelsätzen. Und ich glaube, dass keiner mehr der Gewinner ist, wenn sich das noch weiter hinzieht. Deswegen war ich auch sehr entsetzt über den Abbruch der Verhandlungen. Wir haben wertvolle Tage verloren.
Die Strategie der Bundesregierung ist ja durchschaubar. Sie hat die Verhandlungen abgebrochen und hat gehofft, zum Bundesrat noch Länder einkaufen zu können. Sie hat massiven Druck auf das Saarland zum Beispiel ausgeübt, dass das Saarland hier umkippt, dass die Grünen aus dem Saarland umkippen. Und anstatt die Zeit zu nutzen, Länder einzukaufen, was sowieso schon unwürdig ist, hätten sie lieber mit uns reden sollen. Wir waren kurz vor einer Einigung. Es wird keine Gewinner mehr bei diesem Thema geben. Wenn wir wollen, dass jemand gewinnt, dann sind es die Menschen. Und die können gewinnen, indem wir uns jetzt ordentlich einigen.
Capellan: Nun war aber – das werden Sie wahrscheinlich auch zugeben müssen – das Angebot für die Länder und für die Kommunen doch recht verlockend. Der Bund hat sich bereit erklärt, die Grundsicherung für bedürftige Rentner zu übernehmen, wollte auch bei der Finanzierung der Unterhaltskosten entgegenkommen. War das nicht ein Angebot, was viele Länder und Gemeinden doch ganz gerne dankbar angenommen hätten?
Schwesig: Hier gibt es sehr unterschiedliche Stimmen aus den Kommunen. Zum Beispiel sagt der Deutsche Städte- und Gemeindetag, dass noch vieles bei der Finanzierung des Bildungspaketes unklar ist. Ich finde es richtig, dass wir die Grundsicherung im Alter auf den Bund übertragen und die Kommunen entlasten. Aber die Wahrheit ist, hier liegen auf einmal auf dem Tisch zwölf Milliarden Euro, aber für diese zwölf Milliarden Euro für die Kommunen sollen gleichzeitig Kommunen auch auf Forderungen in Höhe von neun Milliarden verzichten, und das Bildungspaket ist mit drei Milliarden über diesen langen Zeitraum unterfinanziert.
Sie sehen also, es ist am Ende ein Nullsummenspiel. Trotzdem muss man sehen, ob man diesen Weg geht. Was ich nur damit sagen will ist, so einfach, so toll, dass jetzt die Milliarden vom Himmel regnen auf die Kommunen, so ist es nicht. Mir wäre es wichtig, dass wir darüber reden, dass das Bildungspaket anständig finanziert wird, damit die Kommunen da nicht auf Kosten sitzen bleiben, weil dann führt es dazu, dass die Kinder doch nicht ihre Leistungen kriegen.
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Manuela Schwesig, der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD. Lassen Sie uns noch ein wenig über Ihren doch kometenhaften Aufstieg in Ihrer Partei sprechen. Sie sind mit 34 Jahren Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern geworden. Frank-Walter Steinmeier, der SPD-Kanzlerkandidat, hat Sie im Wahlkampf 2009 in sein Team geholt. Weiblich, jung, attraktiv, modern, aus dem Osten – das waren die Attribute, die gezogen haben, mit denen die SPD nicht so reichlich gesegnet ist. Da wurden und werden große Hoffnungen in Sie gesetzt. Fühlen Sie sich eigentlich als Quotenfrau?
Schwesig: Nein.
Capellan: Warum nicht?
Schwesig: Warum sollte ich?
Capellan: Das fehlt der SPD, eine junge, aufstrebende Frau aus dem Osten.
Schwesig: Ich glaube, dass wir viele gute Frauen und auch Männer in der SPD haben. Ich selbst bin in meine Verantwortung gekommen dadurch, dass ich mich in meinem Land doch engagiert habe für die Sozialthemen. Und mich hat lange bewegt, dass es gerade beim Thema 'Förderung von Kindern' nicht vorangeht. Ich finde es einen unzumutbaren Zustand in Deutschland, dass die Kinder in unserem Land bei der "Tafel" essen, Lebensmittel, die irgendwelche anderen nicht mehr aufgebraucht haben. Und das ist für mich der Antrieb, mich da einzusetzen. Und natürlich ist es für die SPD wichtig, dass Personen da sind, die die Politik glaubwürdig vertreten. Aber da bin ich nicht alleine.
Capellan: Aber trotzdem fordern Sie eine gesetzliche Quote, die mehr Frauen den Aufstieg in Führungspositionen verschafft. Warum?
Schwesig: Wir haben den Zustand in Deutschland, dass wir die bestausgebildetsten Frauen haben der jüngeren Generation und trotzdem kaum Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft. Die sind da völlig unterrepräsentiert. Und viele andere Länder um uns herum – Norwegen, aber jetzt auch Frankreich will den Schritt gehen – haben eine Quote eingeführt in Aufsichtsräten und Vorständen von großen Wirtschaftsunternehmen. Und ich bin für diese Quote, weil mir auch gerade viele Frauen sagen, die seit Langem Führungspositionen innehaben, ich wollte die Quote selber nie, aber wir wissen, dass es ohne die Quote nicht geht, etwas in Deutschland zu bewegen.
Capellan: Ich weiß, Sie ärgern sich, wenn Sie von einem Mann gefragt werden: Wie schaffen Sie das eigentlich, alles unter einen Hut zu bringen, Mutter zu sein eines vierjährigen Sohnes, Ministerin und jetzt Verhandlungsführerin bei einer so wichtigen Sache wie den Hartz IV Gesprächen. Warum ärgern Sie sich darüber?
Schwesig: Weil ich mir sicher bin, dass diese Frage nie gestellt worden wäre, wenn mein Mann Minister ist. Dann würde nie jemand fragen: Wie machen Sie das mit Ihrem Sohn? Auf der anderen Seite finde ich die Frage auch berechtigt, weil es natürlich viele umtreibt. Wie kriegt man Vereinbarkeit Beruf und Familie hin? Das ist ein Problem, das Frauen bewegt, das auch zunehmend die Männer bewegt. Das ist der Spagat, den ich mache, den machen viele Frauen in Deutschland, ob ich nun als Ministerin oder die Verkäuferin, die vielleicht sogar noch alleinerziehend ist und sich Gedanken machen muss, wie schaffe ich das mit den Ladenöffnungszeiten, habe ich einen Kita-Platz oder habe ich keinen? Ich habe das große Glück, dass mein Sohn in eine Ganztagskita geht, so wie alle anderen Kinder in Mecklenburg-Vorpommern auch, dass mein Mann und ich uns wirklich die Erziehungsarbeit und auch den Haushalt partnerschaftlich teilen – also, ich rede nicht nur über partnerschaftliche Erziehungsarbeit, wir machen das auch – und mir natürlich die beiden den Rücken stärken. Aber ich gebe auch zu, gerade nach diesem Verhandlungsmarathon diese Woche bin ich sehr froh, wenn ich wieder mal bei meinen beiden Jungs sein kann.
Capellan: Sie sind erst mit 29 Jahren in die SPD eingetreten, zu einem Zeitpunkt, als viele ausgetreten sind, auch wegen der Agenda-Politik von Gerhard Schröder. Warum sind Sie damals eingetreten?
Schwesig: Für mich war die Motivation, etwas zu bewegen. Als Jugendliche war ich schon in einem Verein für Kinder, ich habe deutsch-polnische Ferienlager organisiert, habe ein Kinder- und Jugendtelefon gegründet. Und als ich dann nach Schwerin zog, war es mir einfach wichtig, mich vor Ort zu engagieren. Und ich hatte über die SPD die Möglichkeit, Kommunalpolitik zu machen, also im Stadtparlament dafür zu kämpfen, dass eine Kita gebaut wird, dass das Theater nicht geschlossen wird. Und das hat mir Spaß gemacht und darüber bin ich wieder an die Sozialthemen herangekommen über die Politik. Und ich glaube, das ist eigentlich das Angebot, das Parteien machen müssen. Wenn, dann wollen junge Menschen sich engagieren und mitmachen. Sie wollen nicht in irgendwelchen muffigen Hinterstuben sitzen. Und ich hatte dieses Angebot und diese Chance und deswegen hat es mir auch Spaß gemacht in der SPD. Und die Grundwerte der SPD, Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit, sind die Werte, mit denen ich auch in meiner Familie aufgewachsen bin. Und deswegen kam für mich auch nur die Partei infrage.
Capellan: Als Frau aus dem Osten haben Sie ja auch Erfahrung im Umgang mit der Linkspartei. Glauben Sie, dass das Verhältnis zwischen SPD und Linkspartei geklärt ist?
Schwesig: Das ist immer die Frage des Blickwinkels. Ich persönlich gehe damit sehr gelassen um und finde nicht, dass die SPD ihre Position, ihre Werte an anderen Parteien ausrichten sollte, auch nicht nach der Linkspartei, sondern im Grunde nach dem, was wir für richtig halten, was uns die Menschen sagen, was die erwarten. Und wir haben in Mecklenburg-Vorpommern vor Ort mit vernünftigen Leuten aus der Linkspartei viele Jahre gut regiert. Jetzt sehe ich eher mit Erstaunen, dass die Linkspartei sich sehr zurück entwickelt. Wenn man Herrn Ernst sieht, der mit dem Porsche durch Deutschland fährt und irgendwelche Sprüche kloppt, oder Frau Lötzsch, die auf dem Weg zum Kommunismus ist, dann frage ich mich eigentlich, ob die nicht mittlerweile den Blick dafür verloren haben, was den Menschen unter den Nägeln brennt. Und ich bin mir sicher, bei allem Streit um diese Hartz-IV-Reform, aber das Thema Bildung, Mindestlohn, das sind die Themen, die auch die Menschen in Deutschland bewegen.
Capellan: Das sagt auch die Linkspartei. Warum haben Sie es zugelassen, dass die Linkspartei bei den Verhandlungen um Hartz IV ausgebootet wurde?
Schwesig: Die Partei wurde nicht ausgebootet. Sie war ja auch in der Arbeitsgruppe dabei.
Capellan: Nicht in den Spitzengesprächen.
Schwesig: Aber die Linkspartei sagt ja selber, das muss alles weg, sagt aber auch nicht, was stattdessen kommt. Und ich bin mir sicher, dass die Linkspartei nicht wirklich das Interesse hat zu einem Kompromiss, weil ihnen ja alles nicht passt. Und man muss jetzt der Realität ins Auge sehen. Wir müssen aufeinander zu. Und ein Kompromiss bedeutet, dass man auch in den eigenen Vorstellungen Abstriche machen muss. Das ist schwer und man kann es tun, um letztendlich was auf den Weg zu bringen, aber man muss zusehen, dass man dabei nicht die eigene Glaubwürdigkeit verliert.
Capellan: Sie sind Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Auch dort wird in diesem Jahr gewählt am 4. September. Sie streben ein Landtagsmandat an. Wo sehen Sie Ihre Zukunft, in Mecklenburg-Vorpommern oder im Bund?
Schwesig: Ich habe mich entschieden, in 2011 für die Landtagswahl zu kandidieren, auch für das Mandat. Und ich bin gerne Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, weil ich da dicht an den Menschen bin. Und wenn ich über mein Ehrenamt "Parteivize der SPD" auch die Möglichkeit habe, in der Bundespolitik mitzumischen, sodass vor Ort was Gutes ankommt, dann ist das für mich jetzt so genau die richtige Kombination.
Capellan: Manuela Schwesig, vielen Dank für das Gespräch. Danke.
Schwesig: Ich danke Ihnen.
Manuela Schwesig: Das liegt daran, dass die Bundesregierung, die Bundesministerin Frau von der Leyen, ein Jahr Zeit hatte, ein Gesetz zu machen, aber alleine zehn Monate gebraucht hat davon, überhaupt um einen Vorschlag vorzulegen und dann die allerletzte Frist genutzt hat im Bundesrat, den Vorschlag einzubringen und aber eigentlich wusste, dass sie dort gar keine Mehrheiten hat für ihren Vorschlag. Und das war absehbar schon im letzten Jahr. Wir haben immer davor gewarnt, dass sie dann mit dem Verfahren sogar noch in dieses Jahr kommen.
Capellan: Man befindet sich aber jetzt in einem verfassungswidrigen Raum.
Schwesig: Der Rahmen ist verfassungswidrig, deswegen hat die SPD im letzten Jahr in der Dezembersitzung im Bundesrat beantragt, dass schon mal die fünf Euro Regelsatzerhöhung und auch das Bildungspaket, die Leistung aus dem Bildungspaket, ausgezahlt werden, denn die Höhe von diesen Leistungen ist ja unstrittig. Es geht nur darum: Wie soll es umgesetzt werden – und gibt es vielleicht noch mehr an Leistungen?
Capellan: Warum ist es dazu nicht gekommen? Das war auch von der Arbeitsministerin, Frau Ursula von der Leyen, Ende des Jahres zunächst noch zu hören gewesen, dass man die fünf Euro erst einmal auszahlt und dann weiter verhandelt. Woran ist das gescheitert?
Schwesig: Frau von der Leyen hatte lange angekündigt, dass sie es auszahlt. Und sie hat dann kurz vor dem Jahresende einen Rückzieher gemacht, weil sie die Hartz IV-Empfänger, vor allem die Kinder, benutzen will, uns unter Druck zu setzen nach dem Motto: Ihr müsst jetzt zustimmen, sonst kriegen die ihre fünf Euro und ihr Bildungspaket nicht. Und das geht natürlich nicht, dass man die Kinder und die Erwachsenen da in Geiselhaft nimmt dafür, dass wir unter Druck gesetzt werden, schnell zuzustimmen.
Capellan: Wäre es denn Ihrer Ansicht nach möglich, erst einmal zu zahlen? Denn da gibt es ja auch die Argumentation von Juristen, die sagen: Nach dem Sozialgesetzbuch geht das nicht, da muss erst ein Gesetz vorhanden sein, bevor ich Leistungen auszahlen kann.
Schwesig: Es gibt, wie fast zu jeder Frage in Deutschland, unterschiedliche juristische Bewertungen. Wenn ich etwas möchte und Juristen mir bestätigen, dass das geht, dann mache ich das auch. Und Frau von der Leyen hat es ja über Monate hinweg auch versprochen. Und wir machen so etwas Ähnliches bei anderen Gesetzen, zum Beispiel, wenn die Beamten mehr Geld bekommen, dann passiert es auch schon gleich dann, wenn sich die Tarifpartner im öffentlichen Dienst geeinigt haben, und das Gesetz wird meistens später beschlossen. Ich frage mich eigentlich, warum das bei Beamten möglich ist, aber nicht bei Hartz IV-Kindern.
Capellan: Nun ist die erste Verhandlungsrunde gescheitert. Der Bundesrat hat allerdings am vergangenen Freitag beschlossen, dass ein neues Vermittlungsverfahren angestrengt wird, dass wieder verhandelt wird. Waren Sie erst mal erleichtert, oder hätten Sie vielleicht doch gern eine Abstimmungsniederlage der schwarz-gelben Bundesregierung gesehen?
Schwesig: Ich habe sehr dafür geworben, und wir haben uns in der SPD bewusst dafür entschieden, dass wir nicht zu dieser Abstimmungsniederlage der Bundesregierung kommen, denn klar: Eigentlich denkt man, die müssen es auch mal sehen, dass es so nicht geht. Aber es kann jetzt nicht um diese Machtspielchen gehen, sondern es muss darum gehen, dass wir weiter im Gespräch sind und eine Lösung finden. Man hört es ja und erfährt es aus Gesprächen, dass die Leute dieses Hin und Her nicht mehr verstehen. Und deswegen finde ich es unverantwortlich, dass überhaupt wir diese Tage jetzt verschwendet haben, weil wir wieder an dem Punkt sind, dass wir weiterreden. Das ist das, was wir Dienstagnacht auch wollten und was Frau von der Leyen und die Kanzlerin verhindert haben.
Capellan: Können Sie es denn als Politikerin noch erklären, wie es möglich ist, dass man sich bei der Bankenrettung – das Argument wird jetzt immer wieder gebracht – innerhalb von wenigen Tagen einigen kann, und bei der Sicherung des Existenzminimums für Arbeitslose reicht ein ganzes Jahr nicht aus, um sich zu verständigen.
Schwesig: Die Erklärung liegt darin, dass wir Parteien haben, die verschiedene Werte haben. Und offensichtlich ist es der CDU und FDP mehr Wert, sich schnell um Bankenrettung zu kümmern als um diese Frage von Sätzen für Kinder. Hier wird um jeden Euro gerungen, und ich kann total verstehen, dass die Leute darüber frustriert sind, denn darüber bin ich selber frustriert.
Capellan: Wie geht es nun weiter? Worüber wird denn gesprochen, wird dann wirklich nur noch diskutiert über den Regelsatz? Wir müssen noch mal erläutern: Die Bundesregierung hat ja angeboten, den Hartz IV-Satz um monatlich fünf Euro – von 359 auf 364 Euro – zu erhöhen. Soll nur darüber gesprochen werden, oder auch weiterhin über das, was Sie ja in der ersten Runde in die Verhandlung gebracht haben, nämlich über Equal Pay – gleicher Lohn für gleiche Arbeit – oder über den Mindestlohn beispielsweise?
Schwesig: Die Debatte in der Länderkammer hat ganz klar gezeigt, dass sich die Ministerpräsidenten darauf verständigt haben, dass wir über das, was bereits schon auf dem Tisch liegt an Vorschlägen und Kompromissen, auch reden, und dass wir die harten Punkte, die noch offen waren, dringend miteinander klären müssen. Dazu gehört in allererster Linie die Frage des Bildungspaketes. Wenn wir wollen, dass die Kommunen das Bildungspaket für Kinder umsetzen, was ich richtig finde, dass man Geld an Kitas, an Ganztagsschulen, bei Vereinen andocken kann, dann müssen die Kommunen dafür auch ordentlich ausfinanziert werden. Denn wir Bürger erleben vor Ort, dass unsere Kommunen kaum noch Geld haben, dann steigen die Gebühren für Straßenreinigung, Grundsteuer, die Schwimmbäder werden geschlossen. Und deswegen können wir nichts an die Kommunen geben, was sie eigentlich nicht mehr finanzieren können. Punkt zwei ist, was mir sehr am Herzen liegt, dass wir doch noch mal über die Frage "Einsatz von Jugend-Sozialarbeitern" sprechen. Denn das ist auch wichtig, dass wir Kinder und Jugendliche vor Ort unterstützen mit Personen. Es geht nicht nur ums Geld, es geht auch um die Menschen, die da sind, sich neben den Eltern um Kinder und Jugendliche zu kümmern – zum Beispiel Schul-Sozialarbeiter. Dann ist natürlich der schwierigste Punkt, die Frage des Regelsatzes. Und hier müssen die Menschen einfach sich vorstellen, dass Politiker, gerade von SPD und Grüne, sehr sensibel sind bei dem Thema, weil wir schon einmal eine Klatsche vom Bundesverfassungsgericht bekommen haben. Die Politik – Rot-Grün im Bundestag und damals Schwarz-Gelb im Bundesrat – hat ein Gesetz auf den Weg gebracht, was verfassungswidrig ist. Und deswegen sagen heute Politiker von SPD und Grüne: Wir wollen sicher sein, dass uns das nicht noch mal passiert, weil das auch zur Politikverdrossenheit führen würde. Und Fachexperten sagen uns, dass es an der einen oder anderen Stelle Korrekturen geben muss, sonst kommen wir nicht voran.
Capellan: Ist es denn denkbar, dass man sich vonseiten der SPD darauf einlässt, man lässt es bei der Erhöhung um fünf Euro des monatlichen Regelsatzes und verhandelt nur über mögliche Zuschläge? Denn das ist ja jetzt auch in der Diskussion – Zuschläge, Sonderzuschläge für den Kauf einer Waschmaschine oder eines Kühlschrankes oder auch einen Zuschlag für die Monatskarte für Bus oder Bahn. Denn es ist ja in der Tat so, dass insbesondere die FDP darauf beharrt: fünf Euro – und nicht mehr!
Schwesig: Aber genau das ist das Problem. Es kann nicht sein, dass jetzt wieder ein Verhandlungspartner kommt und jetzt schon wieder sagt: Das ist ein Tabu, das gibt es nicht. Und an der Stelle muss ich appellieren an die FDP. Die FDP war bisher in den Verhandlungen ein totaler Klotz am Bein, weil sie immer gesagt hat, was alles nicht geht und nie gesagt hat, was geht. Sie wollen keine Schul-Sozialarbeiter, sie wollen den Regelsatz nicht erhöhen, sie wollen auch über andere Leistungen nicht diskutieren, wie zum Beispiel über den Mindestlohn und Equal pay. Und so geht es einfach nicht.
Capellan: Das heißt also, Sie bestehen darauf, es müssen am Ende mehr als fünf Euro dabei rauskommen?
Schwesig: Wir haben auch Vorschläge unterbreitet, die nicht zwingend zu einer Erhöhung führen. Worum es uns geht ist, dass wir verschiedene Berechnungsmethoden haben, wo uns Experten sagen: Das ist wahrscheinlich, wenn man es so oder so macht, nicht verfassungsgemäß. Und darüber wollen wir mit der anderen Seite reden. Bisher waren da wirklich die Ohren zu. Die haben gesagt, wir reden nicht über den Regelsatz. Und basta.
Capellan: Aber Sie haben darüber geredet, Sie haben elf Euro mehr gefordert. Wie kam diese Zahl zustande, elf Euro mehr im Monat?
Schwesig: Es gibt zum Beispiel einen Kritikpunkt, den Verfassungsexperten vortragen. Die sagen, in dem Regelsatz sind Aufstocker enthalten. Das sind Menschen, die Hartz IV beziehen, aber auch noch ein bisschen hinzuverdienen. Und es kann nicht sein, dass die eigentlich selber von Hartz IV leben müssen und die als Maßstab dafür nehmen, ob eigentlich Hartz IV ausreicht. Wenn man die rausnimmt, dann würde das eine Regelsatzerhöhung um noch mal sechs Euro bedeuten, also plus elf Euro.
Capellan: Noch mal nachgefragt: Sie bestehen nicht auf den elf Euro, die in der ersten Runde genannt wurden?
Schwesig: Uns geht es nicht um so und so viel Euro oder so und so viel Euro. Es ging immer darum, dass wir gesagt haben: Ihr müsst an der Berechnungsmethode etwas korrigieren oder Waren, die Ihr herausgenommen habt, nicht gut genug berücksichtigt habt, die Mobilität besser berücksichtigen. Wir hatten ja in den Endverhandlungen einen Vorschlag, der gar nicht zur Regelsatzerhöhung geführt hätte. Aber der war der Bundesregierung auch wieder nicht recht, weil die Bundesregierung die Verhandlungen abbrechen wollte.
Capellan: Warum ist es so schwierig, diesen Satz zu berechnen. Es wird immer wieder auf Vorgaben verwiesen, die das Statistische Bundesamt gibt. Ich erinnere mich an Andrea Nahles, die SPD-Generalsekretärin. Die hat am 24. September 2010 wörtlich gesagt: "Nach unseren Berechnungen muss der Regelsatz über 400 Euro liegen, alles andere ist künstlich heruntergerechnet." Jetzt sind Sie bei 370 Euro, sagen aber gerade, es geht nicht unbedingt um diese elf Euro mehr, vielleicht kann man auch an anderer Stelle mehr geben. Warum ist es so schwierig, da eine feste Größe zu bekommen? Was braucht ein Hartz IV-Empfänger monatlich zum Leben?
Schwesig: Die Fachexperten sagen, dass an verschiedenen Stellen nach unten geschraubt worden ist, und wenn man alle Stellen wieder korrigiert, würde man wahrscheinlich wirklich weit über 400 Euro kommen, so wie es ja auch die Sozialverbände berechnet haben. Und um der Bundesregierung entgegen zu kommen, weil sie der Meinung ist, diese Korrekturen braucht man alle nicht, das ist letztendlich ein Juristenstreit, haben wir gesagt: Gut, dann müsst Ihr aber, um uns entgegen zu kommen, wenigstens eine Teilkorrektur machen. Und das wird jetzt auch Aufgabe sein der nächsten Tage, sich noch mal Gedanken darüber zu machen, wie man zusammenkommt. Und das Problem in den Verhandlungen bisher war, dass der Regelsatz zu einem Tabu erklärt worden ist, von der FDP vor allem, aber auch von Frau von der Leyen. Und ich bin froh, dass Ministerpräsident Seehofer zum Beispiel sagt: Es darf kein Tabu sein.
Capellan: Erinnern wir uns noch mal und führen uns noch mal vor Augen, was das Verfassungsgericht zur Vorgabe gemacht hat. Es ging nicht um die Höhe des Regelsatzes, es ging darum, dass die Errechnung des Bedarfes transparent für jedermann ersichtlich sein soll. Dann frage ich Sie nun: Was hat der Mindestlohn, was hat gleicher Lohn für gleiche Arbeit mit dieser Vorgabe zu tun?
Schwesig: Im Mittelpunkt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts steht, dass die Menschenwürde geachtet werden muss, das menschenwürdige Existenzminimum. Und dazu gehört auch: Wenn Menschen arbeiten, dass sie davon leben können und ohne Sozialleistungen klarkommen. Und alle denken ja, so tut auch die Bundesregierung, dass die Leute, die von Hartz IV leben müssen, nur faul auf dem Sofa zu Hause sitzen. Aber so ist es gar nicht. Erstens gibt es viele, die kaum Chancen auf Arbeit haben und viele, die auch chronisch krank sind und auf diese Leistungen angewiesen sind. Aber es gibt auch sehr viele, mittlerweile 1.4 Millionen Deutsche, die arbeiten gehen, davon 250.000 Vollzeit, und so niedrige Löhne bekommen, dass sie davon nicht leben können und zusätzlich Hartz IV brauchen. Und wir sagen: Darauf ist die Antwort der Mindestlohn, um die Menschen aus Hartz IV zu holen, weil es eine Frage der Gerechtigkeit ist, dass man von seiner Arbeit leben kann. Und wir würden elf Milliarden Steuergelder sparen, die doch besser in Bildung aufgehoben sind.
Capellan: Nun sagt allerdings die Gegenseite, wenn Sie sich auf die fünf Euro eingelassen hätten, dann hätten Sie das auch bekommen können. War man wirklich so weit bei den Verhandlungen? Dann hätten Sie auch einen Mindestlohn bekommen können und auch Zugeständnisse beim Equal Pay.
Schwesig: Es gab keine Zugeständnisse beim Equal Pay. Equal Pay heißt ja: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Und das ist vor allem für die Leiharbeit und Zeitarbeitsfragen ganz wichtig. Wir haben eine Million Menschen, die in dieser Branche arbeiten und erleben, dass sie eben viel weniger Geld und oftmals für mehr Stunden in Betrieben arbeiten müssen als die Festangestellten. Und diese Möglichkeiten, da in den Löhnen runter zu gehen, nutzen teilweise Unternehmen immer mehr aus. Da wollen wir einen Riegel vorschieben. Das macht aber nur Sinn, wenn man früh damit anfängt. Die Bundesregierung schlägt vor, vor allem die FDP, ab neun Monaten. Aber die meisten Zeitarbeiter sind gar nicht so lange in einem Betrieb. So wäre das eine Regelung, die vielleicht nach außen sehr gut aussieht, aber in Wahrheit den Menschen nicht hilft. Und wir wollen natürlich Politik machen, dass den Menschen geholfen wird. Und hier gibt es überhaupt gar kein Angebot der anderen Seite, der Bundesregierung. Es scheint mir ein Punkt zu sein, wo es sehr schwer ist, zusammen zu kommen.
Capellan: Ist denn denkbar, dass Sie genau diesen Punkt ausklammern, dass man eben wirklich nur über Regelsatz und Sonderbedarf redet und nicht über Equal Pay?
Schwesig: Wir haben zwei Alternativangebote der Bundesregierung gemacht. Wir haben gesagt, entweder kriegen wir eine gute Lösung hin beim Equal Pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, sind denen weit entgegen gekommen und haben gesagt, wenn wir das nicht hinkriegen, weil wir nicht Scheinlösungen wollen, dann brauchen wir wenigstens mehr Zugeständnisse bei den Mindestlöhnen, dass wir wirklich bei der Frage Mindestlöhne vorankommen.
Capellan: Verstehe ich das richtig, dass Sie sagen, wenn man beim Equal Pay, gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Festangestellte und Leiharbeiter, wenn man da nicht weiter kommt, dann wollen Sie wenigstens Ergebnisse beim Mindestlohn, in der Weiterbildungsbranche, beim Wachdienst? Damit könnten Sie sich dann zufriedengeben und das andere ausklammern?
Schwesig: Es ist immer eine Bewertung des Gesamtergebnisses. Wenn das jetzt wirklich dazu führt, dass wir beim Equal Pay keine gute Lösung hinbekommen, für die wir natürlich kämpfen, dann macht es keinen Sinn, irgendwelche Scheinlösungen – nur damit man so tun kann, als ob man irgendwie was vorzuweisen hat – zu vereinbaren. Und deswegen ist unser Angebot, wenn wir bei Equal Pay nicht zusammen kommen, dass sich dann viel mehr bei den Mindestlöhnen tun muss.
Capellan: Was macht Sie so sicher, dass man – es stehen jetzt einige Landtagswahlen bevor, in Hamburg, in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz bis Ende März – dass man vorher zu einer Einigung kommt?
Schwesig: Ich weiß, dass sich das alles sehr komplex anhört und hier viele Themen im Gespräch sind, die aber zusammengehören. Es ist keine Frage, dass man mit Mindestlohn für gute Arbeit sorgt, für ein gutes Einkommen, dass man mit Bildung für mehr Gerechtigkeit bei Kindern sorgt und mit dem Regelsatz für eine Existenz. Wir reden ja hier nicht von viel Geld, sondern davon, dass wirklich die Menschen sich wenigstens das Minimalste leisten können. Deswegen gehört das für uns zusammen. Ich verstehe aber schon, dass man den Eindruck hat, mein Gott, wie wollen die sich alle da eigentlich einigen? Und es stimmt ja auch, wir verhandeln ja mit drei Partnern, der CSU, der FDP und CDU, die immer sehr unterschiedliche Auffassungen haben. Ich glaube aber, dass der Druck auf alle Seiten sehr, sehr groß ist, denn alle müssen verstanden haben, dass die Menschen das zu recht nicht mehr verstehen, warum wir nicht zusammen kommen. Und ich kann nur warnen, dass jetzt taktische Spielchen stattfinden, so wie sie von Herrn Lindner angekündigt worden sind nach dem Motto: Wir haben ja noch Zeit bis März. Es geht nicht darum, irgendwelche Wahlen zu überstehen, es geht darum, jetzt schnell und zügig zu einem ordentlichen Ergebnis zu kommen.
Capellan: Wird denn nicht der Druck auf die SPD mit jedem Tag größer als der auf Union und FDP? Denn die SPD hat sicherlich in ihren Reihen, in den Reihen der SPD-Wähler, doch mehr Bezieher von Hartz IV Leistungen, die ja jetzt auch mal Leistungen sehen möchten und ungeduldig werden könnten. Die Union und FDP – so könnte man meinen – können dieses Problem aussitzen bis nach den Wahlen und die Schuld am Scheitern der SPD zuweisen.
Schwesig: Ich habe den Eindruck, dass das Gegenteil der Fall ist. Das sieht man ja auch an den Umfragen, dass die Mehrheit der Menschen uns unterstützt bei der Forderung nach Mindestlöhnen, aber auch nach fairen Regelsätzen. Und ich glaube, dass keiner mehr der Gewinner ist, wenn sich das noch weiter hinzieht. Deswegen war ich auch sehr entsetzt über den Abbruch der Verhandlungen. Wir haben wertvolle Tage verloren.
Die Strategie der Bundesregierung ist ja durchschaubar. Sie hat die Verhandlungen abgebrochen und hat gehofft, zum Bundesrat noch Länder einkaufen zu können. Sie hat massiven Druck auf das Saarland zum Beispiel ausgeübt, dass das Saarland hier umkippt, dass die Grünen aus dem Saarland umkippen. Und anstatt die Zeit zu nutzen, Länder einzukaufen, was sowieso schon unwürdig ist, hätten sie lieber mit uns reden sollen. Wir waren kurz vor einer Einigung. Es wird keine Gewinner mehr bei diesem Thema geben. Wenn wir wollen, dass jemand gewinnt, dann sind es die Menschen. Und die können gewinnen, indem wir uns jetzt ordentlich einigen.
Capellan: Nun war aber – das werden Sie wahrscheinlich auch zugeben müssen – das Angebot für die Länder und für die Kommunen doch recht verlockend. Der Bund hat sich bereit erklärt, die Grundsicherung für bedürftige Rentner zu übernehmen, wollte auch bei der Finanzierung der Unterhaltskosten entgegenkommen. War das nicht ein Angebot, was viele Länder und Gemeinden doch ganz gerne dankbar angenommen hätten?
Schwesig: Hier gibt es sehr unterschiedliche Stimmen aus den Kommunen. Zum Beispiel sagt der Deutsche Städte- und Gemeindetag, dass noch vieles bei der Finanzierung des Bildungspaketes unklar ist. Ich finde es richtig, dass wir die Grundsicherung im Alter auf den Bund übertragen und die Kommunen entlasten. Aber die Wahrheit ist, hier liegen auf einmal auf dem Tisch zwölf Milliarden Euro, aber für diese zwölf Milliarden Euro für die Kommunen sollen gleichzeitig Kommunen auch auf Forderungen in Höhe von neun Milliarden verzichten, und das Bildungspaket ist mit drei Milliarden über diesen langen Zeitraum unterfinanziert.
Sie sehen also, es ist am Ende ein Nullsummenspiel. Trotzdem muss man sehen, ob man diesen Weg geht. Was ich nur damit sagen will ist, so einfach, so toll, dass jetzt die Milliarden vom Himmel regnen auf die Kommunen, so ist es nicht. Mir wäre es wichtig, dass wir darüber reden, dass das Bildungspaket anständig finanziert wird, damit die Kommunen da nicht auf Kosten sitzen bleiben, weil dann führt es dazu, dass die Kinder doch nicht ihre Leistungen kriegen.
Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Manuela Schwesig, der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD. Lassen Sie uns noch ein wenig über Ihren doch kometenhaften Aufstieg in Ihrer Partei sprechen. Sie sind mit 34 Jahren Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern geworden. Frank-Walter Steinmeier, der SPD-Kanzlerkandidat, hat Sie im Wahlkampf 2009 in sein Team geholt. Weiblich, jung, attraktiv, modern, aus dem Osten – das waren die Attribute, die gezogen haben, mit denen die SPD nicht so reichlich gesegnet ist. Da wurden und werden große Hoffnungen in Sie gesetzt. Fühlen Sie sich eigentlich als Quotenfrau?
Schwesig: Nein.
Capellan: Warum nicht?
Schwesig: Warum sollte ich?
Capellan: Das fehlt der SPD, eine junge, aufstrebende Frau aus dem Osten.
Schwesig: Ich glaube, dass wir viele gute Frauen und auch Männer in der SPD haben. Ich selbst bin in meine Verantwortung gekommen dadurch, dass ich mich in meinem Land doch engagiert habe für die Sozialthemen. Und mich hat lange bewegt, dass es gerade beim Thema 'Förderung von Kindern' nicht vorangeht. Ich finde es einen unzumutbaren Zustand in Deutschland, dass die Kinder in unserem Land bei der "Tafel" essen, Lebensmittel, die irgendwelche anderen nicht mehr aufgebraucht haben. Und das ist für mich der Antrieb, mich da einzusetzen. Und natürlich ist es für die SPD wichtig, dass Personen da sind, die die Politik glaubwürdig vertreten. Aber da bin ich nicht alleine.
Capellan: Aber trotzdem fordern Sie eine gesetzliche Quote, die mehr Frauen den Aufstieg in Führungspositionen verschafft. Warum?
Schwesig: Wir haben den Zustand in Deutschland, dass wir die bestausgebildetsten Frauen haben der jüngeren Generation und trotzdem kaum Frauen in Führungspositionen in der Wirtschaft. Die sind da völlig unterrepräsentiert. Und viele andere Länder um uns herum – Norwegen, aber jetzt auch Frankreich will den Schritt gehen – haben eine Quote eingeführt in Aufsichtsräten und Vorständen von großen Wirtschaftsunternehmen. Und ich bin für diese Quote, weil mir auch gerade viele Frauen sagen, die seit Langem Führungspositionen innehaben, ich wollte die Quote selber nie, aber wir wissen, dass es ohne die Quote nicht geht, etwas in Deutschland zu bewegen.
Capellan: Ich weiß, Sie ärgern sich, wenn Sie von einem Mann gefragt werden: Wie schaffen Sie das eigentlich, alles unter einen Hut zu bringen, Mutter zu sein eines vierjährigen Sohnes, Ministerin und jetzt Verhandlungsführerin bei einer so wichtigen Sache wie den Hartz IV Gesprächen. Warum ärgern Sie sich darüber?
Schwesig: Weil ich mir sicher bin, dass diese Frage nie gestellt worden wäre, wenn mein Mann Minister ist. Dann würde nie jemand fragen: Wie machen Sie das mit Ihrem Sohn? Auf der anderen Seite finde ich die Frage auch berechtigt, weil es natürlich viele umtreibt. Wie kriegt man Vereinbarkeit Beruf und Familie hin? Das ist ein Problem, das Frauen bewegt, das auch zunehmend die Männer bewegt. Das ist der Spagat, den ich mache, den machen viele Frauen in Deutschland, ob ich nun als Ministerin oder die Verkäuferin, die vielleicht sogar noch alleinerziehend ist und sich Gedanken machen muss, wie schaffe ich das mit den Ladenöffnungszeiten, habe ich einen Kita-Platz oder habe ich keinen? Ich habe das große Glück, dass mein Sohn in eine Ganztagskita geht, so wie alle anderen Kinder in Mecklenburg-Vorpommern auch, dass mein Mann und ich uns wirklich die Erziehungsarbeit und auch den Haushalt partnerschaftlich teilen – also, ich rede nicht nur über partnerschaftliche Erziehungsarbeit, wir machen das auch – und mir natürlich die beiden den Rücken stärken. Aber ich gebe auch zu, gerade nach diesem Verhandlungsmarathon diese Woche bin ich sehr froh, wenn ich wieder mal bei meinen beiden Jungs sein kann.
Capellan: Sie sind erst mit 29 Jahren in die SPD eingetreten, zu einem Zeitpunkt, als viele ausgetreten sind, auch wegen der Agenda-Politik von Gerhard Schröder. Warum sind Sie damals eingetreten?
Schwesig: Für mich war die Motivation, etwas zu bewegen. Als Jugendliche war ich schon in einem Verein für Kinder, ich habe deutsch-polnische Ferienlager organisiert, habe ein Kinder- und Jugendtelefon gegründet. Und als ich dann nach Schwerin zog, war es mir einfach wichtig, mich vor Ort zu engagieren. Und ich hatte über die SPD die Möglichkeit, Kommunalpolitik zu machen, also im Stadtparlament dafür zu kämpfen, dass eine Kita gebaut wird, dass das Theater nicht geschlossen wird. Und das hat mir Spaß gemacht und darüber bin ich wieder an die Sozialthemen herangekommen über die Politik. Und ich glaube, das ist eigentlich das Angebot, das Parteien machen müssen. Wenn, dann wollen junge Menschen sich engagieren und mitmachen. Sie wollen nicht in irgendwelchen muffigen Hinterstuben sitzen. Und ich hatte dieses Angebot und diese Chance und deswegen hat es mir auch Spaß gemacht in der SPD. Und die Grundwerte der SPD, Solidarität, Freiheit und Gerechtigkeit, sind die Werte, mit denen ich auch in meiner Familie aufgewachsen bin. Und deswegen kam für mich auch nur die Partei infrage.
Capellan: Als Frau aus dem Osten haben Sie ja auch Erfahrung im Umgang mit der Linkspartei. Glauben Sie, dass das Verhältnis zwischen SPD und Linkspartei geklärt ist?
Schwesig: Das ist immer die Frage des Blickwinkels. Ich persönlich gehe damit sehr gelassen um und finde nicht, dass die SPD ihre Position, ihre Werte an anderen Parteien ausrichten sollte, auch nicht nach der Linkspartei, sondern im Grunde nach dem, was wir für richtig halten, was uns die Menschen sagen, was die erwarten. Und wir haben in Mecklenburg-Vorpommern vor Ort mit vernünftigen Leuten aus der Linkspartei viele Jahre gut regiert. Jetzt sehe ich eher mit Erstaunen, dass die Linkspartei sich sehr zurück entwickelt. Wenn man Herrn Ernst sieht, der mit dem Porsche durch Deutschland fährt und irgendwelche Sprüche kloppt, oder Frau Lötzsch, die auf dem Weg zum Kommunismus ist, dann frage ich mich eigentlich, ob die nicht mittlerweile den Blick dafür verloren haben, was den Menschen unter den Nägeln brennt. Und ich bin mir sicher, bei allem Streit um diese Hartz-IV-Reform, aber das Thema Bildung, Mindestlohn, das sind die Themen, die auch die Menschen in Deutschland bewegen.
Capellan: Das sagt auch die Linkspartei. Warum haben Sie es zugelassen, dass die Linkspartei bei den Verhandlungen um Hartz IV ausgebootet wurde?
Schwesig: Die Partei wurde nicht ausgebootet. Sie war ja auch in der Arbeitsgruppe dabei.
Capellan: Nicht in den Spitzengesprächen.
Schwesig: Aber die Linkspartei sagt ja selber, das muss alles weg, sagt aber auch nicht, was stattdessen kommt. Und ich bin mir sicher, dass die Linkspartei nicht wirklich das Interesse hat zu einem Kompromiss, weil ihnen ja alles nicht passt. Und man muss jetzt der Realität ins Auge sehen. Wir müssen aufeinander zu. Und ein Kompromiss bedeutet, dass man auch in den eigenen Vorstellungen Abstriche machen muss. Das ist schwer und man kann es tun, um letztendlich was auf den Weg zu bringen, aber man muss zusehen, dass man dabei nicht die eigene Glaubwürdigkeit verliert.
Capellan: Sie sind Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern. Auch dort wird in diesem Jahr gewählt am 4. September. Sie streben ein Landtagsmandat an. Wo sehen Sie Ihre Zukunft, in Mecklenburg-Vorpommern oder im Bund?
Schwesig: Ich habe mich entschieden, in 2011 für die Landtagswahl zu kandidieren, auch für das Mandat. Und ich bin gerne Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, weil ich da dicht an den Menschen bin. Und wenn ich über mein Ehrenamt "Parteivize der SPD" auch die Möglichkeit habe, in der Bundespolitik mitzumischen, sodass vor Ort was Gutes ankommt, dann ist das für mich jetzt so genau die richtige Kombination.
Capellan: Manuela Schwesig, vielen Dank für das Gespräch. Danke.
Schwesig: Ich danke Ihnen.