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"Es kann sehr leicht zu einer politischen Machtfrage werden"

Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler hat sich gegen den Versuch ausgesprochen, historische Gedächtnispflege mit Geboten und Verboten zu betreiben. Es bestehe die Gefahr einer zunehmenden Gängelung der öffentlichen und historischen Diskussion über die Vergangenheit. Der Versuch, die gegenwärtigen Vorstellungen von politischer Korrektheit in die Vergangenheit zurückzuprojizieren, könne nicht gelingen.

Heinrich August Winkler im Gespräch mit Beatrix Novy |
    Beatrix Novy: Nicht alle haben sich dran gehalten, aber offiziell ist auch in Italien das Ausstellen faschistischer Insignien oder zum Beispiel Mussolini-Büsten verboten. Das kann in Deutschland niemanden wundern. Verwundert hat es allerdings, dass in Frankreich gesetzlich verordnet wurde, werden sollte, die positive Rolle des Kolonialismus in den Geschichtsbüchern darzustellen oder als ein Autor verklagt wurde wegen einer angeblich beschönigenden Darstellung der Sklaverei. Denn auch zu deren Darstellung gibt es bereits ein Gesetz. Nun hat sich vor Kurzem eine Initiative aus Historikern zusammengeschlossen, die sich der unkontrollierten Vermehrung solcher Verbotsgesetze entgegenstellt. Die sollen nun auch noch europaweit zur Geltung gelangen, der Appell von Blois, der in der Zeitung "Le Monde" erschien, wilde Geschichtswissenschaft von solcher Parteinahme und festen Wahrheiten, Freiheiten. Einer der deutschen Unterzeichner ist der Berliner Historiker Heinrich August Winkler. Ihn habe ich zunächst gefragt, die Erinnerung an die NS-Gräuel hierzulande muss lebendig bleiben. Auch anderen ist das zuzugestehen. Gibt es aber Gedächtnispflege ohne Gebote und Verbote?

    Heinrich August Winkler: In der Tat, das ist die entscheidende Frage. Und die französischen Kollegen haben mit Blick auf das, was in Frankreich in den letzten Jahren geschehen ist, die große Sorge, dass der Gesetzgeber immer mehr die Rolle des Geschichtsinterpreten übernimmt. Da waren zum Beispiel Gesetze, die das Gedächtnis des Völkermords an den Armeniern in der Weise pflegen wollen, dass die Leugnung dieses Völkermordes unter Strafandrohung gestellt wird. Nun muss ich hinzufügen, in der Türkei darf man nicht offen über diesen Völkermord reden und da wird die offene Diskussion allein schon mit Strafen verfolgt. Die Algerien-Franzosen haben eine positive Würdigung des Kolonialismus durchsetzen wollen und sind nur an einem Veto des damaligen Staatspräsidenten Chirac gescheitert. Die französischen Historiker, die diesen Appell anstoßen, sehen die Gefahr einer zunehmenden Gängelung der öffentlichen Diskussion und zumal der historischen Diskussion über die Vergangenheit und den Versuch, die gegenwärtigen Vorstellungen von politischer Korrektheit in die Vergangenheit zurückzuprojizieren, sodass man dem 12. Jahrhundert, weil man ein Blick auf die Kreuzzüge vorwerfen kann, noch nicht die Moralvorstellungen der Gegenwart beachtet zu haben. Und das in der Tat bedeutet, eine Einengung des freien Diskurses über Geschichte.

    Novy: Natürlich fängt es an, absurd zu werden, wenn eine Sache, sagen wir, mehr als 200 Jahre zurückliegt in einer Zeit, die ganz andere Mentalitäten ausgebildet hat. Aber wenn Deutschland mit dem Paragraph 130 verbieten kann, Nazi-Untaten zu leugnen oder zu verharmlosen, wieso sollen dann andere Völker nicht auch Regelungen empfindlicher Fragen treffen, die sie betreffen?
    Winkler: Es kann sehr leicht zu einer politischen Machtfrage werden, ob eine Lobby stark genug ist, ihr Gedenkanliegen durchzusetzen. Dass man den Holocaust leugnet, empfinden wir mit Recht als einen ungeheuren Skandal. Die Frage ist übrigens, ob der politische Skandal wirklich nur mit der Leugnung des Holocaust verbunden ist oder ob es nicht gefährlicher sein kann, den Holocaust historisch zu relativieren. Das aber lässt sich nicht verbieten. Da muss die Gesellschaft reagieren. Das kann man doch nicht durch Strafgesetze aus der Welt schaffen wollen, diese Diskussion muss in aller Offenheit und Schärfe geführt werden und das ist auch geschehen. Wir sollten es nicht dem Strafgesetzbuch überlassen, auf derartige Fehldeutungen, Missdeutungen und verantwortungslose Geschichtsklitterungen zu reagieren. Dieses muss durch die Gesellschaft, es muss durch die Wissenschaft erfolgen.

    Novy: Nun ist eine europaweite Vereinheitlichung solcher Erinnerungsgesetze geplant, von denen es ja schon mehrere gibt und weitere sind geplant in einzelnen Ländern. Wie soll eine solche Vereinheitlichung denn vor sich gehen? Alle nehmen in ihre je eigene Rechtsprechung, die jeweiligen Erinnerungsgesetze der anderen auf oder wie?

    Winkler: Genau da zeigt sich die Absurdität dieses Ansatzes mit Vorstellung von politischer Korrektheit, ein gemeinsames Geschichtsbild erzwingen zu wollen. Wir erleben es ja auch in den letzten Jahren, dass die neuen Mitglieder der Europäischen Union sehr nachvollziehbar daran erinnern, dass sie eine zweite Diktaturvergangenheit nach 1945 erlebt haben. Sie fordern, dass man die Verbrechen des Stalinismus genauso ernst nimmt und gegebenenfalls auch deren Leugnung ahndet, wie das in westlichen Ländern etwa in Deutschland und Österreich oder in Frankreich mit Blick auf den Holocaust geschieht. Hier entstehen Machtkämpfe aus dem Ansatz heraus, dass Dinge nicht ungleich behandelt werden, die entfernt miteinander vergleichbar sind. Es muss dann irgendwann auch der Grundsatz gelten, bis hier und nicht weiter. Denn ist die Sorge einer Endliberalisierung der öffentlichen Diskussion durch Vorgaben des Gesetzgebers, der nicht dazu berufen ist, die Geschichte zu deuten.

    Novy: Im Namen der Freiheit der Geschichtswissenschaft gegen eine falsch verstandene Moralisierung der Geschichte. Dank an Heinrich August Winkler.