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"Es soll schon so eine Art von Fortsetzung von 'Neue Leben' sein"

Es sei die Suche nach der Erzählform, die das Schreiben so schwierig mache, sagt Ingo Schulze. Mirko Schwanitz hat den preisgekrönten Schriftsteller für die 15. Folge unserer Werkstattporträts in seinem neuen Heim mit Blick auf den Lietzensee besucht.

Von Mirko Schwanitz |
    Nach dem Umzug riecht es noch nach Farbe, Grafiken und Bilder warten darauf, an die kahlen Wände gehängt zu werden. Ingo Schulze am Ende eines Umzuges, staunt immer wieder über den Blick aus dem Fenster seines neuen Arbeitszimmers:
    "Das ist der Lietzensee und das ist schön. Nachts ist alles dunkel und der Funkturm ist mal grün, mal rot, mal gelb, mal blau beleuchtet, hat fast etwas vom Blick über den Central Park zur Spitze des Empire-States, ist aber schöner eigentlich – eigentlich ist es schöner… Das ist das Arbeitszimmer, mit einem Stuhl und einem Pult, das man verstellen kann. Ich hatte bisher nie so ein Arbeitszimmer, saß immer an einem Tisch. Und jetzt bin ich von Büchern umgeben, überall klappt immer noch mal ein Buch um. Das Geräusch einer neu eingeräumten Bibliothek, macht manchmal 'klack' manchmal 'wupps'."

    In diesem Zimmer also soll Ingo Schulzes neuer Roman entstehen. Ich stelle ihn mir vor, wie er am neuen Pult sitzt oder liegt und zu schreiben beginnt.

    Ingo Schulze liest:

    "Sozusagen Gold! Kann man doch sagen, oder?"+
    "Wenn Sie so wollen…"
    "Aus Scheiße Gold, am Ende – Gold!"
    "Naja", sagte Türmer und bewegte seine rechte Hand vor den Augen, erkannte aber nichts, keine Kontur, kein tieferes Dunkel. Er zuckte zurück, als sein Daumen die Nasenspitze streifte. Sein Gegenüber schniefte. Er schniefte vor jedem Satz.
    "Wenn das stimmt, was Sie sagen, hieße das – das wäre sozusagen Eldorado. Und Sie hätten es entdeckt!"
    "Das hat nichts mit entdecken zu tun."
    "Doch, doch, natürlich, wieso nicht? Die Spanier, Portugiesen, Franzosen, sogar Humboldt, die waren doch alle…, die standen doch drauf mit ihren Stiefeln, mit Stiefel, Schwert und Kreuz, und jetzt kommen Sie..."
    "Ich bin kein Experte", sagte Türmer und rutschte mit dem Rücken an der Blechwand in die Hocke.


    Schulze setzt sich auf den neuen Stuhl, lässt ihn nach hinten klappen, zieht das Pult herab, ein wenig sieht er jetzt aus wie ein Astronaut ohne Anzug, bereits zum Start in seine Fantasien, den Funkturm hat er ja vor sich. Nein, Schulze ist keiner, dem moderne Möbel oder neue Technik Angst machen. Ihm erschließt sie nur neue Möglichkeiten, verhilft zu ganz neuen Erkenntnissen:

    "Ich merkte als die E-Mail noch neu war, das mir Menschen schrieben, die mir vorher nie geschrieben haben und die schrieben enorm gut. Also ich empfand das als regelrechte Offenbarung Emails zu lesen. Das ist natürlich etwas, was sowohl unser Sprachverhalten formt, auch das man plötzlich sehr viel mehr geübt darin ist, sich schriftlich auszudrücken, als das vielleicht vor 20 Jahren noch der Fall war. Aber mir war es natürlich wichtig, als ich 'Handy' zum Titel eines Erzählbandes wählte, dass Technik etwas ist, ohne die wir heute nicht mehr existieren können. Dass es aber nicht nur etwas ist, das uns Möglichkeiten eröffnet, sondern dass es uns als Menschen natürlich völlig verändert."

    Schulze war immer ein präziser Beobachter dieser Veränderungen des Menschen, egal ob sie nun durch technische Errungenschaften oder gesellschaftliche Umbrüche hervorgerufen werden - schon als er in "33 Momenten des Glücks", seinem ersten Kurzerzählungsband, Menschen in St. Petersburg beobachtete oder später in den "Simplen Storys" das Verhalten von Leuten in einer Kleinstadt mitten im ostdeutschen Umbruch literarisch sezierte. Den Erfolg seiner Bücher hat er auch seiner Arbeitsweise zu verdanken, die ohne Tagebücher, Stapeln von Notizbüchern und aufwendigen Recherchen auskommt. Aber das ist etwas, über das er nicht so gerne spricht.

    Ingo Schulze liest:
    "Kein Wunder, dass aus Ihnen nichts herauszuholen ist, kein Wunder! Sie schweigen wie ein Grab!"
    "Das ist kein Geheimnis, es ist nur…"
    "Wo, wo sind Sie denn? Hallo?"
    "Au!", schrie Türmer und schlug nach dem Bein, das gegen sein linkes Knie gestoßen war. Über ihm knallte etwas auf das Blech. Sein Rücken federte vor. Jetzt saß er auf dem Boden des Fahrstuhls.
    "Wo sind Sie?"
    "Hier", sagte Türmer leise. Er tastete nach links, nach seiner ledernen Umhängetasche und nahm sie auf den Schoß.


    Unter den deutschen Autoren ist Schulze ein Unikum, nie darauf aus, einen eigenen Ton zu finden. Bereits die "33 Augenblicke des Glücks" ließen seine künftige Arbeitsweise erahnen. Da ist einer, der lieber mit den Stilen andere experimentiert:

    "Ich hätte, glaube ich die '33 Augenblicke des Glücks' nicht schreiben können, ohne Vladimir Sorokin gelesen zu haben und dann Alfred Döblin - er setzt eigentlich immer wieder neu an, das man immer den Stil aus dem Stoff kommen lassen muss und das fand ich für mich angemessen. Und in aller Regel ist das Angemessene dann auch das Neue, auch wenn es oft eine schon bekannte Erzählform, Erzähltradition ist, aber angewandt auf etwas gerade Gegenwärtiges ist es eben dann doch etwas Neues, auch wenn's auf den ersten Blick nicht so aussieht."

    Immer ist es genau die Suche nach jener Erzählform, die das Schreiben so schwierig mache, sagt Schulze. Es ist ein Gefühl, als ob man von heute auf morgen ein völliger Idiot geworden sei.

    Ingo Schulze liest:

    "Was machen Sie denn die ganze Zeit?!", rief er nach einem Stoß gegen die Schulter und schützte sein Gesicht mit dem rechten Unterarm.
    "Oh, pardon, pardon entschuldigen Sie". Die Wand gegenüber hallte.
    "Wenn Sie in ihrer Ecke und ich in meiner…"
    "Riechen Sie was, riechen Sie Gas?"
    "Wie kommen Sie denn darauf?"
    "Hier fliegt immer mal ein Haus in die Luft. Das liegt am Gas."
    "Ich rieche nichts."
    "Ich auch nicht, aber hier kann man nie wissen."
    "Hocken Sie sich doch hin."
    "Bloß nicht! Nicht setzen."
    "Wer weiß, wie lange…"
    "Sag nicht so was. – Oh, es tut mir leid."
    "Was suchen Sie denn?"


    Drei Jahre hat Schulze nach der richtigen Form für seinen Roman "Neue Leben" gesucht. Drei Jahre! - ohne wirklich einen Anfang zu finden:

    "Das ist zum Verrücktwerden. Ich hatte das große Problem, dass alles, was ich über die DDR schrieb, wurde so pseudo-dissidentisch. Also nichts leichter als das, jetzt noch einmal kritisch über die DDR zu schreiben. Das habe ich immer irgendwie verachtet, weil es war so eine Seligsprechung des Jetzigen und kam dann eigentlich auf den Dreh, dass ich zeige, wie jemand versucht, über die DDR zu schreiben. 17:50 Das ist bei mir eher so ein Ausprobieren, so wie man beim Radio nach der richtigen Wellenlänge dann sucht."

    Am Ende war die längst totgesagte Form des Briefromans die richtige Wellenlänge, die für Schulze einzig mögliche Form, von den Umbrüchen in der DDR zu erzählen:

    "Es soll schon so eine Art von Fortsetzung von "Neue Leben" sein. Ich habe mit so viel Personal im Juli 90 aufgehört, dass ich da schon gern weitermachen würde. Aber das wird formal etwas ganz anderes werden."

    Seit "Neue Leben" hat Schulze bereits fünf neue Bücher veröffentlicht. Doch hier in diesem Arbeitszimmer mit Blick auf den Funkturm, der nachts rot, grün, gelb und blau schimmert, scheinen sie plötzlich nur die Vorbereitung zu sein für das, was nun folgen könnte – die Auseinandersetzung mit einem Geheimnis, das eigentlich keines ist.

    Ingo Schulze liest:

    " … wir sprachen davon, dass es kein Geheimnis ist."
    "Kein Geheimnis?"
    "Jaja, kein Geheimnis. Deine Entdeckung sei kein Geheimnis, sondern was anderes."
    "Ich sagte nur, es sei nicht bekannt, viel zu wenig bekannt. Dabei…"
    "Scht!"
    "Dabei…"
    "Still! Hörst Du!?" Plötzlich hämmerte er gegen die Fahrstuhltür, brüllte, Portugiesisch, zwei, drei Worte, wieder und wieder.
    "Ich bitte Sie", rief Türmer. Er hielt die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Fäuste geballt, den Kopf dahinter geduckt wie ein Boxer.
    Endlich Stille, Schniefen, erneut Geschrei und mit der flachen Hand gegen die Tür, schließlich Schluchzen.
    "Lassen Sie doch…Beruhigen Sie sich!", sagte Türmer und richtete sich im Sitzen auf. "Nun fassen Sie sich doch!", sagte Türmer.
    "Meinst Du, die holen uns raus, bevor das Ding hier abgeht?!"
    "Hier geht nichts ab", sagte Türmer. Lehnte man den Kopf gegen die Tür, war ein Lichtstreifen zu sehen, dünner als ein Fädchen. Das Schniefen war näher gekommen. Über seinem Kopf tastete eine Hand.


    Was wird das werden? Eine Geschichte über eine "seltene Erde", die nichts mit jenen Substanzen zu tun hat, die für die Herstellung von Handys benötigt werden? Ein Roman darüber, was die Eroberung des amerikanischen Kontinents mit den überdimensionierten Kläranlagen in Ostdeutschland zu tun hat? Man darf also gespannt sein. Und ja, wir könnten Enrico Türmer wiedertreffen, der stecken bleibt in einem Hotel-Fahrstuhl im brasilianischen Manaus.