Juliane Reil: Noch knapp drei Monate sind es bis zum 18. Mai, dann wird der Eurovision Song Contest in Tel Aviv ausgetragen. Im letzten Jahr hatte die Sängerin Netta mit dem Song "Toy" das Rennen gemacht und für ihr Heimatland Israel gewonnen. Der deutsche Kandidat Michael Schulte erreichte damals mit der melancholischen Pop-Ballade "You Let Me Walk Alone" überraschend Platz vier. Eigentlich steht der Eurovision Song Contest in dem Ruf, ein harmloser Musikwettbewerb zu sein - in diesem Jahr scheint er aber zum Politikum zu werden. Darüber spreche ich jetzt mit dem ESC-Kenner und Journalisten Jan Feddersen. Hallo.
Jan Feddersen: Hallo, Frau Reil.
Reil: Heute Abend ist der deutsche Vorentscheid; sieben Kandidaten stehen zur Auswahl, die relativ unbekannt sind und unter einem gewissen Druck stehen - letztes Jahr und auch 2010, als Lena Meyer-Landrut gewannen, waren gute Jahre. Davor und dazwischen waren die Kandidaten eher blass und landeten auf den letzten Plätzen. Wem trauen Sie es heute Abend zu, sich durchzusetzen?
Feddersen: Ich will mich da wirklich nicht festlegen. Ich würde denken, im vorigen Jahr wusste ich relativ früh, dass es Michael Schulte werden würde. Das war der Ehrgeizigste, der - man könnte sagen - seinen Erfolgshunger hinter einem wirklich ausgesprochen sympathischen Lächeln verbergen konnte. Da kann ich dieses Jahr keine Prognose abgeben - würde aber denken, dass es wieder ein junger Mann werden könnte.
Reil: Linus Bruns zum Beispiel, der jetzt noch ein bisschen als Justin-Bieber-Verschnitt gehandelt wird.
Feddersen: Na ja, was heißt Verschnitt? Ist Justin Bieber nicht vielleicht ein Linus-Bruhn-Verschnitt? Also das ist immer so eine Frage des Wordings. Ich würde sagen, dieser junge Mann kommt ausgesprochen gut in Kameras an und bei den Zuschauern, das ist ein freundliches, junges Menschlein aus Deutschland, der allerdings auch sehr ehrgeizig ist.
Reil: Das hört sich für mich aber so an, "ein freundliches, junges Menschlein", dass Ihnen da was fehlt.
Feddersen: Also das, was fehlt kann man vorher eigentlich gar nicht bestimmen - oder man kann das nicht als Prognose markieren. Nämlich: Wie jemand auf der Bühne in drei Minuten ein Momentum entfaltet - dieses Momentum bedeutet, dass man eben in den drei Minuten, auf die es dann wirklich ankommt - das Erlebnis hatten wir ja letztes Jahr auch mit der Israelin Netta -, dass man dann am allerstärksten in der Ausstrahlung ist, und dass man das Gefühl hat, dieses Mikrofon gehört körperlich zu einem selber, und man macht sein Publikum spontan zu seinen lagerfeiernden Geschwistern.
Reil: Hat eine andere deutsche Kandidatin da vielleicht gewisse Vorteile, weil sie schon Erfahrung hat - Lilly Among Clouds, eine junge Künstlerin aus Süddeutschland, die schon ihr Debüt veröffentlicht hat, auf großen Festivals wie dem South-by-Southwest-Festival in den USA gespielt hat?
Feddersen: Es ist immer von Vorteil, wenn man schon mal irgendwie ein Mikrofon in der Hand hatte, oder wenn man vor Publikum gesungen hat. Aber dieses Ding namens Eurovision Song Contest und selbst die Vorentscheidung, das ist so groß, das ahnen die alles gar nicht, was da in den nächsten Wochen - also wer auch immer gewinnt - auf diese Personen zukommen könnte. Das ist, man könnte sagen, bigger than life. Das ist so viel Belagerung, das ist so viel Medialisierung, das ist so viel Popgeschäft! Meiner Erfahrung nach, was ich über all die Jahre gesehen habe, ist auch, dass große Acts - also mit sehr erfahrenen Leuten ... Olli Dittrich, Jane Comerford, 2006, in Athen, Texas Lightning - die wirkten auf der Bühne plötzlich ängstlich und damit wirkten sie klein.
"Tel Aviv ist einfach die coolere Stadt"
Reil: Bigger than life und Medialisierung sind eigentlich auch ganz gute Stichworte in Hinblick auf den Austragungsort in Israel. Da gab es ja einen Streit. Jerusalem war im Gespräch, das wollte gerne Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, aber Jerusalem natürlich aus politischen Gründen. Heikel, Zankapfel im Nahostkonflikt. Letztendlich hat sich da in Tel Aviv durchgesetzt. Schade, dass für den ESC, für PR-Effekte von Politikern herhalten zu müssen?
Feddersen: Nein, das ist eigentlich in den meisten europäischen Ländern überhaupt keine große Frage gewesen - und schon gar nicht in Israel. Die Wahl fiel auf Tel Aviv, weil es dort bessere Produktionsbedingungen gibt. Anders als vor 20 Jahren, als der ESC zuletzt in Israel war und damit auch in Jerusalem, muss man diesmal mit 10.000 bis 15.000 Fans, Journalisten, Eurovisionstouristen rechnen. Da kriegt man in Jerusalem überhaupt nicht so gut untergebracht. Und dann hat man immer das Sabbat-Problem - also was heißt "Problem", das ist einfach ein normaler freier Tag in Israel am Freitag, wenn bei der Eurovision voll gearbeitet wird, und das kriegt man in Tel Aviv besser geregelt. Das Politische selber ist auf eine gewisse Art ein westeuropäischer Wahn - dass der sich da jetzt groß in Israel spiegeln würde, das ist es nicht. Tel Aviv ist einfach die coolere Stadt.
Wir haben noch länger mit Jan Feddersen gesprochen -
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Reil: Viele Kulturschaffende, die haben ja sich gerade erst in der vergangenen Woche gegen die Ausrichtung des ESC in Israel ausgesprochen. Als Grund für den Boykottaufruf nannten sie Menschenrechtsverletzungen des Landes gegen Palästinenser. Was denken Sie, welche Wirkung hat die BDS-Kampagne auf den ESC und die Stimmung drumherum?
Feddersen: Also, es sind nicht viele es, sind einige Popkünstler. Manche von denen haben auch bitter gefehlt 2009, als die Eurovisionskarawane in Moskau zu Gast war, und man hatte da tatsächlich mit dem menschenrechtlich fragwürdigsten ESC aller Zeiten zu tun. Wir werden das in Israel erleben, dass die BDS-Bewegung in Israel selber an einer multikulturellen Gesellschaft scheitert, in der überwiegend jüdische Bürger und Bürgerinnen leben, aber eben auch viele christliche, viele säkulare, viele arabische Bürger vor allen Dingen. Diese BDS-Kampagne nutzt eigentlich die Geschichte mit dem Eurovision Song Contest jetzt für eigene promotionelle und - wie ich finde - politisch höchst fragwürdige Zwecke.
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