Eskalation im Nahen Osten
Die Hintergründe der Gewalt

Am 21. Mai trat eine Waffenruhe zwischen Israel und militanten Palästinensern ein. In den vorangegangenen Tagen war es zu den schwersten Zusammenstößen seit Jahren gekommen. Auslöser waren aktuelle Ereignisse, aber auch Jahrzehnte zurückliegende spielen eine zentrale Rolle.

    Palästinenser beten in Sheik Jarrah, rechts sind Teile von Häusern der israelischen Siedlern zu sehen.
    Palästinenser beten in Sheik Jarrah (Deutschlandradio/Benjamin Hammer)
    Beide Seiten hatten sich elf Tage lang bekämpft. Über 4.300 Raketen feuerten militante Palästinenser laut israelischen Angaben auf das Land. Israel flog unter anderem Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte.
    Die Eskalation ist auf unterschiedliche Ereignisse und Hintergründe zurückzuführen.

    Waffenruhe in Israel und dem Gazastreifen
    Selbst wenn nun die Waffen zwischen Israel und Gaza schweigen sollten: Die Probleme in Ost-Jerusalem sind nicht gelöst. Der grundsätzliche Konflikt um Territorium. Die mögliche Zwangsräumung in Sheikh Jarrah. Zusammenstöße zwischen Palästinensern und israelischen Grenzpolizisten auf dem Tempelberg. Es ist wie häufig im Nahostkonflikt: Gewaltwellen enden, Kernprobleme bleiben bestehen - bis zur nächsten Gewaltwelle. Weil die Lage in Jerusalem so angespannt ist, könnte die schon bald kommen.
    Die "unteilbare Hauptstadt" - Jerusalem und sein Status
    Jerusalem und der Status der Stadt als Ganzes spielen eine zentrale Rolle im gesamten Nahostkonflikt. Der Tempelberg ist für Juden und Muslime gleichermaßen von herausragender Bedeutung. Hier befindet sich die Al-Aqsa-Moschee - für die islamische Welt die drittwichtigste Moschee nach der al-Harām-Moschee in Mekka und der Prophetenmoschee in Medina. Außerdem befindet sich hier der Felsendom, in dessen Zentrum der Fels steht, von dem Mohamed aus seine Himmelfahrt angetreten haben soll.
    Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn trifft zu Beratungern in Berlin ein
    Asselborn: Israelisch-palästinensischer Konflikt muss wieder Priorität haben
    Die internationale Gemeinschaft, aber auch die EU, habe den Fehler gemacht, dass sie der Lage der Palästinenser in den vergangenen Jahren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn im Dlf.
    Für Juden ist der Tempelberg ebenfalls von größter Bedeutung: Der erste Jerusalemer Tempel König Salomos wurde Anfang des 6. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung von den Babyloniern zerstört. Der zweite Tempel entstand nach der Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil. Seit der Zerstörung dieses zweiten Tempels im Jahre 70 durch die Römer ist das Judentum ohne Tempel. Die Klagemauer bildete die westliche Mauer dieses zweiten Tempels
    Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberte Israel den Ostteil der Stadt von Jordanien. Fortan galt dort israelisches Gesetz. 1980 schließlich erklärte das israelische Parlament, die Knesset, das gesamte Stadtgebiet zur untrennbaren Hauptstadt Israels. Der UN-Sicherheitsrat erklärte die Annexion in Resolution 478 für nichtig.
    Israel betrachtet die "Heilige Stadt" als ewig unteilbar. Im sogenannten Jerusalem-Gesetz, das 1980 vom israelischen Parlament verabschiedet wurde, heißt es an zentraler Stelle: "Das vollständige und vereinigte Jerusalem ist die Hauptstadt Israels." Die Palästinenser beharren ihrerseits auf den Ostteil der Stadt, der im Falle der Gründung eines zukünftigen palästinensischen Staates auch Hauptstadt sein soll.
    Karte zeigt Israel, das Westjordanland und die Siedlungsgebiete
    Israel, das Westjordanland und die Siedlungsgebiete (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Tempelberg: Feierlichkeiten zur Annektierung Ost-Jerusalems
    Jährlich am 10. Mai feiert Israel die Aneignung Ost-Jerusalems im Jahr 1967 im Zuge des Sechstagekriegs. Um die sich bereits abzeichnenden Auseinandersetzungen im Vorfeld zu verhindern, hatte die israelische Polizei jüdischen Organisationen Flaggenmärsche auf den Tempelberg verboten. Dennoch versammelten sich dort zahlreiche jüdische Gläubige, was die Aggression der Palästinenser nach sich zog.
    Streit um Zwangsräumungen palästinensischer Familien
    Eine weitere Ursache für die jüngsten Eskalationen fußt auf Ereignissen in Sheikh Jarrah, einem palästinensischen Viertel Jerusalems. Dort war es ebenfalls zu gewaltsamen Auseinandersetzungen unter anderem mit der israelischen Grenzpolizei gekommen.
    Der Hintergrund: Viele Palästinenser mussten im israelisch-arabischen Krieg 1948 ihr Zuhause in Westjerusalem verlassen und nach Ostjerusalem fliehen. Manche flohen nach Gaza oder nach Jordanien und blieben dort nach der Staatsgründung Israels 1948. Jordanien, das damals Ost-Jerusalem und das Westjordanland regierte, siedelte in den 1950er-Jahren einige der palästinensischen Flüchtlinge in Sheikh Jarrah an - gemeinsam mit dem UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNWRA. Im Gegenzug gaben sie ihren Flüchtlingsstatus ab. Israel besetzte Ostjerusalem nach dem Sechs-Tage Krieg und annektierte das Gebiet später. Es erklärte die Stadt zur ungeteilten Hauptstadt des Landes.
    Dr. Khouloud Daibes (Leiterin der Palästinensischen Mission in Deutschland) in der ARD-Talkshow "ANNE WILL" am 30.07.2014 in Berlin Thema der Sendung: Blutiger Nahost-Konflikt - Wer wird für die Eskalation verantwortlich gemacht?
    "Das Kernproblem ist die Besatzung“
    Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern könne nur politisch gelöst werden, sagte Khouloud Daibes, Leiterin der Palästinensischen Mission in Deutschland, im Dlf. Es handele sich bei den Konfliktparteien aber nicht um zwei souveräne Staaten. Die Asymmetrie sei gravierend.
    Laut historischem israelischem Recht können Juden Grundstücke in Jerusalem, die sie oder ihre Vorfahren verloren hatten, zurückerhalten. Palästinensern steht dieses Recht nicht zu. Weil die nationalistische jüdische Organisation Nahalat Shimon Ansprüche angemeldet hat, stehen mehrere arabische Familien nun vor der Zwangsräumung. Nahalat Shimon will das Land von zwei jüdischen Organisationen gekauft haben, die es bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Besitz gehabt haben sollen. Damit die Lage in Sheikh Jarrah nicht weiter eskaliert, ist eine Verhandlung über jene möglichen Zwangsräumungen an Israels Oberstem Gerichtshof kurzfristig abgesagt worden - eine Entscheidung steht also noch aus.
    Nach dem Attentat auf Rabin
    Am 4. November 1995 wurde der damalige israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin ermordet. Der Attentäter: Ein streng gläubiger Jude, der gegen den Friedensplan von Rabin mit den Palästinensern war. Eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt ist heute ferner denn je.
    Die abgesagte palästinensische Parlamentswahl
    Die Hamas war auf dem Weg, sich zu mäßigen. Sogar von einem Abkommen mit Israel war die Rede. Sie versuchte, vom Klischee der raketenschießenden Terroristen wegzukommen. Sie stand auch in Umfragen gar nicht so schlecht da. Doch dann sagte Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas die Wahlen ab. Eine Neuansetzung der palästinensischen Parlamentswahl ist derzeit ungewiss. Also, so scheint es, setzt die Hamas darauf, sich als der eigentlich starke Akteur in der palästinensischen Arena aufzustellen – wie in der Vergangenheit mit Raketenangriffen. Während die palästinensische Autonomiebehörde um Mahmud Abbas als korrupt und ungeliebt gilt, inszeniert sich die Hamas als aufrechte Kämpferin für die palästinensische Sache. Auch wenn das Ganze zu einem Konflikt mit vielen Toten auf beiden Seiten führt.
    Raketenangriffe auf Jerusalem stellen eine besondere Eskalationsstufe dar: Sie werden als Angriff auf das Herz Israels angesehen. Dann fühlt sich Premierminister Benjamin Netanjahu quasi persönlich herausgefordert. Deswegen sprach er auch von einer roten Linie und erwiderte die Raketenangriff seinerseits mit Militärschlägen.

    Blick in die Geschichte

    Der Streit um Jerusalem ist vielschichtig und komplex. Um den Konflikt besser einordnen zu können, ist mindestens ein Blick auf zwei Ereignisse des 20. Jahrhunderts hilfreich.
    Der Krieg von 1948
    Die UNO-Resolution 181 von November 1947 sah eine Teilung des früheren britischen Mandatsgebiets Palästina in einen jüdischen sowie einen arabischen Staat vor. Die Stadt Jerusalem sollte international bleiben. Zwar lehnten die arabischen Staaten den Plan ab, doch die jüdische Selbstverwaltung rief am 14. Mai 1948 den Staat Israel ins Leben. Nach einem abgewehrten Angriff arabischer Staaten am Folgetag eroberte Israel "Gebiete über das ihm zugesprochene Territorium hinaus, darunter West-Jerusalem". Das Westjordanland mit dem Ostteil Jerusalems ging indes an Jordanien.
    Der Sechstagekrieg von 1967
    19 Jahre lang war Ost-Jerusalem unter jordanischer Herrschaft. Im Juni 1967 eroberte Israel infolge des Sechstagekriegs unter anderem die West Bank (Westjordanland) und Ost-Jerusalem, welches es später völkerrechtswidrig annektierte. Bis heute spricht die arabische Welt von einem Angriffskrieg. Israel nennt es hingegen einen Präventivschlag, dem eine massive Bedrohung durch die arabischen Nachbarstaaten vorausgegangen war – nicht zuletzt durch Ägypten.
    Das Ende des Sechstagekriegs
    Am 10. Juni 1967* endete der sogenannte Sechstagekrieg, in dem Israel innerhalb weniger Tage die Armeen aller benachbarten arabischen Staaten besiegte. Doch seine Folgen sind bis heute zu spüren.
    Quellen: bpb.de (Margret Johannsen), Deutschlandfunk, Benjamin Hammer, Tim Aßmann, Kilian Neuwert, dpa, AFP, jma

    *Im Beitrag haben wir eine falsche Jahreszahl korrigiert, welche aus einem Zahlendreher resultierte.