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ESM-Serie
Griechenland: Kaum besser als ein Schwellenland

Dass Griechenland den Rettungsschirm verlasse, sei "in erster Linie ein politischer Befreiungsschlag", sagte der Ökonom Alexander Kritikos im Dlf. Noch immer stehe das Land nicht wirklich gut da. Strukturreformen seien liegen gelassen worden – auch weil die Troika zu nachlässig gewesen sei.

Alexander Kritikos im Gespräch mit Silke Hahne |
    Eine Flagge der Europäischen Union weht im Vordergrund der Akropolis
    Griechenland verlässt den europäischen Schutzschirm, doch die Probleme bleiben (picture alliance / dpa)
    Silke Hahne: Nach beinahe zehn Jahren unter dem sogenannten Rettungsschirm ESM -Europäischer Stabilitätsmechanismus - muss sich Griechenland ab Montag sein Geld wieder selbstständig an den Kapitalmärkten beschaffen. Die Regierung und die Geldgeber sind zuversichtlich, dass es klappt. Die Haushaltszahlen stimmen ja. Wir wollen aber anlässlich dieses Datums schauen, wie sieht es darüber hinaus aus? Was hat sich an der Struktur der griechischen Wirtschaft verändert? Kann das Land aus sich heraus nachhaltig, gesund wachsen? Darüber spreche ich mit Alexander Kritikos vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Wir haben in dieser Woche auch die anderen Kunden des ESM beleuchtet, die sich früher von den internationalen Hilfen lösen konnten. Wieso ist Griechenland das nicht gelungen?
    Alexander Kritikos: Ich denke, zwei Gründe sprechen dafür. Zum einen war die Krise und die Schwierigkeiten, mit denen Griechenland in diesen acht Jahren zu kämpfen hatte, doch noch sehr viel tiefgreifender als in Spanien, Portugal oder Irland. Das andere ist allerdings sicherlich auch zu sehen, nämlich dass die griechischen Regierungen, nicht nur die derzeitige, sondern auch die vorherigen, weit weniger kooperativ mit den Gläubigern agiert haben und auch sehr viel weniger eigene Vorschläge gemacht haben, wie man schnell aus der Krise kommen kann. Das sind so aus meiner Sicht die zwei wichtigsten Gründe, warum Griechenland auch heute noch nicht wirklich gut dasteht.
    Griechenland steht "nicht sehr viel" über Schwellenländern
    Hahne: Sie haben in einer Studie die Bedingungen für die Privatwirtschaft untersucht, politische Stabilität, ein funktionierendes Rechtssystem und eine Verwaltung, effiziente Regulierung, etwa von Kapitalmärkten, und auch das Steuersystem. Bei der Lektüre der Studie, da kann man sich eigentlich kaum des Eindrucks erwehren, dass Griechenland eher auf einer Stufe mit Schwellenländern als mit anderen europäischen Wirtschaftsnationen steht, oder ist das übertrieben?
    Kritikos: Ich würde sagen, das ist ein bisschen übertrieben, aber das Gefühl schleicht sich sicherlich hier und da rein. Die wichtigsten Punkte, die Sie genannt haben, sind tatsächlich die negativen Punkte, die Griechenland ausmacht. Trotz allem gibt es im Vergleich zu Schwellenländern wirtschaftlich doch eine Struktur, die etwas gehobener ist. Insofern, würde ich sagen, kann man Griechenland zwischen den mitteleuropäischen Nationen einordnen und den Schwellenländern. Es steht darüber, aber nicht sehr viel.
    Hahne: Und auch von den Wachstumszahlen her kann man ja eigentlich nicht sagen, dass es so dynamisch wachsen würde wie ein Schwellenland, oder?
    Kritikos: Das ist richtig. Im Gegenteil, Griechenland ist ja in den letzten zehn Jahren im Bruttoinlandsprodukt um 27 Prozent abgestürzt. Man sieht jetzt seit zwei Jahren so etwas wie eine Seitwärtsbewegung, das heißt sehr schwache Wachstumszahlen, und Griechenland müsste, um aus dieser Krise herauszukommen, um insbesondere seine hohe Arbeitslosigkeit abzubauen, sehr viel stärker wachsen. Ich denke, fünf Prozent müsste man eigentlich angehen, und fünf Prozent wären auch realistisch, wenn Griechenland die seit acht Jahren geforderten Reformen, die sie liegen hat lassen, den Teil, den es liegen hat lassen, angehen würde.
    Austritt aus ESM ist vor allem "politischer Befreiungsschlag"
    Hahne: Ist denn dieser Schritt heraus aus dem Rettungsschirm, aus dem Hilfsprogramm, ein Befreiungsschlag, der solche Kräfte entfesseln könnte?
    Kritikos: Ich fürchte eher nicht. Die griechische Regierung hat ein starkes Bestreben gehabt, sagen zu können, dass sie in der Zukunft nicht mehr unter der Knute - so bezeichnet man das hier in Griechenland -, unter der Knute der Gläubiger stehen wird, und insofern war das in erster Linie eigentlich ein politischer Befreiungsschlag. Wirtschaftlich hat das Land nicht unbedingt etwas davon. Im Gegenteil: Durch den Austritt aus dem Rettungsschirm verlieren zum Beispiel die Möglichkeit, billig an Geld ranzukommen und damit relativ günstig Kredite weiterzugeben. Man könnte natürlich nun sagen, trotz allem ist der Versuch, nun an den Märkten wieder Staatsanleihen begeben zu können, so etwas wie ein Signal in Richtung Investoren, dass das Gröbste, was zumindest die Staatsverschuldung angeht, hinter sich gelassen wurde, aber das reicht nicht, um Investoren nach Griechenland zu ziehen. Es bedarf dafür vieler Strukturreformen, die gerade für Investoren von zentraler Bedeutung sind.
    Troika hat griechischen Nationalstolz verletzt
    Hahne: Diese Strukturreform hat die Troika ja von Griechenland auch gefordert, bloß nicht so konsequent verfolgt, hatte man gelegentlich den Eindruck, wie die Einhaltung von Haushaltsvorgaben. Wieso wurde auf diese Umsetzung nicht genauso gedrungen wie auf die Sanierung des Haushalts seitens der Troika?
    Kritikos: Ja, das ist eine gute Frage. In der Tat war man hier letztlich zu nachsichtig. Auf der einen Seite hatte man sicherlich bei der Troika das Gefühl, wenn man jetzt noch weiter Druck ausübt, dass dann Griechenland sozusagen langsam doch an den Rand des Ruins kommt. Auf der anderen Seite fürchte ich auch, dass der Umgang zwischen Troika und griechischen Regierungen nicht immer der bestmögliche war, um tatsächlich eine maximale Umsetzung von Reformen realisieren zu können. Also die Troika ist teilweise da schon auch sehr von oben herab aufgetreten und hat den berüchtigten griechischen Nationalstolz auch eher verletzt als zu versuchen, da kooperativ miteinander Lösungen zu finden, aber es gab sicherlich von griechischer Seite auch massive Interessen, diesen Teil der Strukturreformen liegenzulassen. Man hat Interesse gehabt, von Seiten der Bürokratie, möglichst viel bürokratischen Aufwand am Leben zu erhalten. Man hat Interesse gehabt, von Seiten derjenigen Unternehmen, die in den Akten sind, das Bürokratiemonster am Leben zu erhalten, denn das ist natürlich auch ein gewisser Vorteil für solche Unternehmen, die bereits am Markt sind, denn die wissen einfach, dass sie auf die Weise sich ihre gewissermaßen lokale Monopolstellung erhalten können, weil einfach bei hohem Bürokratieaufwand sehr viel weniger neue Unternehmen in die Märkte eintreten, sehr viel weniger Wettbewerb in griechischen Märkten vorhanden ist. Insofern gibt es eine unheilige Allianz auf griechischer Seite, die versucht hat, diesen Teil der Strukturreform zu verschleppen, und es gab nicht unbedingt die bestmögliche Antwort vonseiten der Troika in Kooperation mit der griechischen Regierung, das dann doch zu realisieren.
    Chance verpasst für Einführung eines modernen Sozialsystems
    Hahne: Denn ein nachhaltiges Wachstum wäre ja vielleicht für den Haushalt am Ende doch noch besser als die kurzfristige Einhaltung von Sparvorgaben, oder nicht?
    Kritikos: Mit Sicherheit. Hätte man drei, vier Jahre fünf Prozent Wirtschaftswachstum, würde allein schon die Relation zwischen Bruttoinlandsprodukt und Staatsverschuldung eine ganz andere sein. Man würde auf die Weise auch einfacher an Steuereinnahmen kommen, als das derzeit der Fall ist. Derzeit muss man, um die berühmten Primärüberschüsse, die Griechenland jetzt erzielt hat in den letzten zwei Jahren, die konnte man nur realisieren, weil man die Steuerschraube eigentlich weit über das hinaus überdreht hat, was ein wirtschaftlich prosperierendes Land vertragen kann.
    Hahne: Und man hat auch das Sozialsystem geschröpft, also auch auf Kosten der vielen Griechen ohne Arbeit.
    Kritikos: Ja, ich würde es sogar so formulieren: Man hat das alte implizite Sozialsystem aufgegeben, aber man hat kein modernes Sozialsystem eingeführt. Das gab es in Griechenland letztlich nie. Man hat das in dieser Zeit jetzt auch verpasst, tatsächlich ein soziales Sicherungssystem einzuziehen, wie wir das eigentlich in Europa gewohnt sind und wie wir das eigentlich auch innerhalb der EU überall anstreben sollten bei einer …
    Hahne: Kann man sagen, dass die Griechen quasi alle Nachteile eines neoliberalen Arbeitsmarktes spüren, aber nicht die Vorteile, weil die Wachstumskräfte nicht entfesselt wurden?
    Kritikos: So ist es. Man hat einen Teil der Märkte dereguliert, eben die Arbeitsmärkte, hat es aber verpasst, alle anderen Teile der Wirtschaft so zu deregulieren, dass diese Arbeitsmarktderegulierungen tatsächlich positive Kraft entfalten konnten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.