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Putin nach Den Haag?
Der Haftbefehl, der Angriffskrieg und das Völkerrecht

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen – wegen der Deportation ukrainischer Kinder. Der Fall wirft komplexe völkerrechtliche und politische Fragen auf – Ausgang offen.

Von Horst Meier |
Protestaktion gegen Wladimir Putin und Russland gegen Krieg und Einmarsch seiner Truppen in die Ukraine am am Europaplatz in München neben dem Generalskonsulat der Russischen Föderation am 02.03.20222. An einem Holzkreuz haengt ein Portraet von Wladimir Putin und die Forderung:PUTIN VOR GERICHT IN DEN HAAG.
Am 17. März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin (imago images / Sven Simon / Frank Hoermann / SVEN SIMON via www.imago-images.de)
Nach dem russischen Angriff entsandte Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Ermittler in die Ukraine und ließ Beweise sichern. Am 17. März 2023 verkündeten ICC-Richter in Den Haag spektakuläre Haftbefehle. Sie gelten Präsident Wladimir Putin und seiner „Beauftragten für Kinderrechte“, Marija Lwowa-Belowa.
Beide werden für ein Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht: die Deportation zahlreicher ukrainischer Kinder. Der Haftbefehl schränkt Putins Reisefreiheit empfindlich ein und ist ein Meilenstein der internationalen Strafjustiz. Der Fall wirft komplexe juristische und politische Fragen auf. Der Ausgang ist offen. Anlass genug, die Hoffnungen und Enttäuschungen, die das Völkerrecht bietet, zu analysieren.

Der Mann sitzt auf einer einfachen Holzbank, vor ihm auf dem Pult ein Glas Wasser. Nur der Oberkörper ist zu sehen, die Haltung mehr starr als aufrecht, herabhängende Schultern. Über dem kurz­geschorenen Schädel ein Kopfhörer alter Bauart. Der Mann, an die siebzig, kneift die schmalen Lippen zusammen, die Mundwinkel nach unten verzogen. Sein Gesicht, fahl fleckig, wächsern, wirkt angestrengt, als folge er mit Mühe einer Stimme aus dem Kopfhörer. Der Ausdruck, merkwürdig abwesend, zugleich beherrscht und verdrießlich, verrät etwas von dem Staunen, hier sitzen zu müssen, einen Anflug arroganter Empörung. Blaugraue Knopfaugen, der Blick ins Leere. Das Bild ist ganz auf den Mann fokussiert. Nur oben rechts der halbe Torso eines Uniformierten, der weiße Gürtel lässt den Militärpolizisten erkennen. Eindeutig, hier wird die Atmosphäre des Nürnberger Gerichtssaals herauf­beschworen, in dem 1945 der Internationale Militärgerichtshof gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher tagte.
Ja, tatsächlich, da haben wir ihn: Wladimir Putin als Angeklagten im Nürnberg-Stil, in einer graublauen, zu großen Uniformjacke, die an den feisten Göring erinnert. Das Bild, Öl auf Leinwand 2022, stammt von dem finnischen Maler Kaj Stenvall. Es trägt den Titel: „War Hero“ –  Kriegsheld.
Putin in Nürnberg – eine verblüffende Verfremdung, ein unheim­licher Zeitsprung, 78 Jahre zurück – und doch intuitiv überzeugend: Gehört er nicht genau dorthin, in einen solchen Gerichtssaal? Vor ein internationales Strafgericht, das ihn für seinen eklatanten Bruch des Völkerrechts persönlich zur Verantwortung zieht?
In den ersten Tagen der Invasion, als die russische Armee unaufhaltsam schien, wurden in der Ukraine nicht nur Ortsschilder übermalt, sondern auch Wegweiser von großen Autostraßen, sodass an verschiedenen Ausfahrten ein und dieselbe Richtung angezeigt wurde: Den Haag.
Putin, ein totalitärer Herrscher neuer Prägung, der den Überfall in zwei Brandreden rechtfertigte und kurz darauf – als Präsident und Oberbefehlshaber der Armee – den Befehl zum Angriff gab, ist zweifellos die alles beherrschende Figur im russischen Machtapparat. Ohne ihn gäbe es diesen Krieg nicht. Und so wurde bald schon auf Protest­kundgebungen im Westen der Ruf laut „Putin nach Den Haag!“  Nach Den Haag, wo der Internationale Strafgerichtshof tagt, der International Criminal Court.
Aber führen wirklich alle Wege nach Den Haag? Ganz abgesehen davon, dass man seiner erst noch habhaft werden müsste: Gibt das Völkerrecht überhaupt genügend her, um Putin eines Tages auf die Anklagebank zu bringen?
„Das Gefühl, Zeuge von etwas Ungeheuerlichem zu sein, das nicht in unsere Zeit gehört, verstärkt durch das Gefühl der Hilflosigkeit (…), lässt den Ruf nach dem Recht laut werden“, erklärt der Völkerrechtler Gerd Hankel. „Wenn schon nicht militärisch interveniert werden kann, (…) dann soll zumindest das Recht eine Perspektive bieten.“
Im Frühjahr gab es aufsehenerregende Neuigkeiten aus den Niederlanden:
„Heute, am 17. März 2023, hat (…) der Internationale Strafgerichtshof im Zusammenhang mit der Lage in der Ukraine Haftbefehle gegen zwei Personen erlassen: Herrn Wladimir Wladimirowitsch Putin und Frau Marija Aleksejewna Lwowa‑Belowa.“
Die Haftbefehle, die die Richter in Den Haag verkündeten, kamen überraschend und sind spekta­kulär. Denn sie gelten dem Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin sowie seiner sogenannten „Beauftragten für Kinderrechte“, Maria Lwowa-Belowa. Und stützen sich auf die ungesetz­liche Deportation von zahlreichen Kindern, die in Heimen lebten und aus den besetzten Gebieten der Ukraine nach Russland verschleppt worden sein sollen – was ein Kriegsverbrechen darstellt. Zur Verantwortung der Staatsführung erklärten die Richter:
„Es gibt hinreichende Gründe für die Annahme, dass Herr Putin für die genannten Verbrechen individuell strafrechtlich verantwortlich ist, weil er die Handlungen unmittelbar (oder) gemeinsam mit anderen begangen hat (…) und weil er es versäumt hat, seine zivilen und militärischen Untergebenen (…) gemäß der Verantwortung des Vorgesetzten angemessen zu kontrollieren.“
Die Haftbefehle wurden – anders als sonst üblich – öffentlich bekannt­gegeben: Weil, so das Gericht, die mutmaßlichen Verbrechen noch andauern und eine öffentliche Bekanntgabe dazu beitragen könne, die Begehung weiterer Straftaten zu verhindern. Was ist von diesen Haftbefehlen zu halten? Nach heutigem Wissens­stand kann man sagen: Sie erscheinen juristisch plausibel und faktisch hinreichend belegt.
Zur juristischen Ebene: Das humanitäre Völkerrecht kennt Verbrechen gegen Soldaten; es verbietet etwa die Misshandlung oder Tötung von Kriegsgefangenen. Zudem basiert es auf der grundlegenden Unter­scheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten. Und so definiert es verschiedene Kriegs­verbrechen als Gewalt gegen Unbewaffnete, etwa die Misshandlung und Tötung von Zivilisten, Vergewaltigung und Verschleppung, die Zerstörung von Schulen und Krankenhäusern, die Bombardierung von Wohngebieten, Raub und Plünderung. Anders gesagt: Das Völkerrecht sanktioniert die Entgrenzung militärischer Gewalt, die über das im Krieg Notwendige – was ja schon schlimm genug ist! –  hinausgeht. Kurz: Auch im Krieg ist nicht alles erlaubt. Natürlich auch nicht die Verschleppung von Kindern.
Der Internationale Strafgerichtshof ist in diesen Fällen zuständig. Denn die Ukraine ist zwar – ebenso wie Russland – kein Vertragsstaat, sie hat aber die Jurisdiktion des Gerichts nachträglich anerkannt. Es genügt daher, dass die mutmaßlichen Kriegsverbrechen auf dem Territorium der Ukraine verübt werden. Ermittlungen können sich also auch gegen die Angehö­rigen eines Nichtvertragsstaates richten. Das heißt gegen alle Soldaten der russischen Streitkräfte bis hin zu deren Oberbefehlshaber.
Was die Verschleppung von Kindern betrifft, handelt es sich also juristisch eindeutig um ein justiziables Kriegsverbrechen. Die Beweislage hingegen ist nicht so eindeutig. In den Haftbefehlen gegen Putin und seine „Kinder­beauftragte“ ist allgemein von „ungesetzlichen Deportationen“ die Rede. Einzelheiten sind ihnen jedoch nicht zu entnehmen. Denn die Richter sperrten deren Begründung:
„Die Haftbefehle (sind) geheim, um Opfer und Zeugen zu schützen und die weiteren Ermittlungen nicht zu gefährden.“
Genaue Zahlen über den Umfang der Deportationen liegen – jedenfalls zur Zeit – nicht vor. Das ist sicher unbefriedigend. Man kann aber davon ausgehen, dass mindestens einige Hundert bis einige Tausend Kinder verschleppt wurden. Darauf deuten intensive Recherchen von Amnesty International und anderen NGOs hin – zum Beispiel von Oleksandra Matwijtschuk, deren Center for Civil Liberties 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeich­net wurde. Ukrainische Behörden sprechen von mindestens 20.000 identifizierten Fällen.
Auch für zahlreiche andere Verbrechen ist die Beweislage lückenhaft, weil es im Nebel des Krieges extrem schwer ist, die Verdachtsfälle neutral und gründlich zu dokumentieren. Es sind indes verschiedene Teams einer internationalen Ermittlungsgruppe aus über 20 Ländern damit beschäftigt, Augenzeugen zu hören und andere Beweise zu sichern. Auch der Chefankläger des Internationalen Strafgerichts­hofs, Karim Khan, reagierte schnell und brachte Ermittler vor Ort. Diese werden, dafür sorgte Außenministerin Annalena Baerbock, durch deutsche Staatsanwälte und Kriminalbeamtinnen unterstützt.
Wie in solchen Fällen üblich, wird nicht allein um die Tatsachen gestritten, sondern auch um deren Deutung:
„Russland hat einen Bericht der Vereinten Nationen zurückgewiesen, wonach es zahlreiche Kinder in der Ukraine inhaftiert und ihre Rechte verletzt haben soll.“
War im Tagesspiegel vom 28. Juni 2023 zu lesen:
Kremlsprecher Dimitri Peskow (sagte), „die russischen Streitkräfte hätten (lediglich) Maßnahmen zum Schutz der Kinder ergriffen, indem sie diese evakuiert hätten.“
Als im Frühjahr die Haftbefehle bekanntgegeben wurden, fanden sie viel Zustimmung, stießen aber auch auf eine gewisse Skepsis. Zum Beispiel auf den Einwand, der Haftbefehl gegen Putin sei praktisch bedeutungs­los, weil der Russland ohnehin nicht verlassen werde. In der Tat könnte es für ihn auf Reisen ziemlich unangenehm werden: Denn alle 123 Vertragsstaaten des Gerichts sind verpflichtet, den Haftbefehl gegen Putin zu vollstrecken.
Das zeigte sich erstmals anlässlich der Konferenz der sogenannten BRICS-Staaten, die im August in Johannesburg stattfand. Weil Südafrika Mitglied des Inter­nationalen Strafgerichtshofs ist, hatte es im Vorfeld wochenlange Verwicklungen gegeben. So machte der Präsident von Südafrika, Cyril Ramaphosa, in einer Erklärung an den Gerichtshof geltend: Sein Land sei außerstande, den Haft­befehl zu vollziehen, weil eine Staatskrise drohe. Damit spielte er darauf an, dass der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew unverblümt gedroht hatte, die Verhaftung des amtierenden Präsidenten käme einer „Kriegserklärung“ gleich. Schließlich verzichtete Putin auf eine persönliche Teilnahme an der Konferenz.
Soviel zur Reisefreiheit des mutmaßlichen Kriegs­verbrechers. Darüber hinaus ist der Haftbefehl gegen den Präsidenten einer Großmacht ein starkes politisches Signal und trägt zu seiner Isolierung bei. Er ist ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts.
Ein zweiter Einwand gegen die Haftbefehle wiegt ungleich schwerer. Er besagt, dass die Ermittlungen wegen der Deportation von Kindern gar nicht den Kern des Geschehens betreffen. Warum wird nicht der Angriffskrieg als solcher, nämlich das zentrale Verbrechen der Aggression zur Anklage gebracht? In der Tat ist es die nichtprovozierte Invasion, die in der Ukraine bis heute unermessliches Leid verursacht, die Tod und Verderben über Zivilisten bringt – von den gefallenen und versehrten Soldaten, von den Millionen Binnenvertriebenen und Flüchtlingen gar nicht zu reden.
Aber ist der Internationale Strafgerichtshof für die Sanktionierung des russischen Angriffskrieges überhaupt zuständig?
Zunächst zum Tatbestand der Aggression. Nach nahezu einhelliger Auffassung handelt es sich um eine eklatante Verletzung der UN-Charta von 1945. Sie verbietet in Artikel 2 jedwede Androhung oder Anwendung von Gewalt, die gegen die „territoriale Unversehrtheit“ oder „politische Unabhängig­keit“ eines Staates gerichtet ist. Bereits die Präambel der UN-Charta beschwört den Weltfrieden:
„WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN, (SIND) FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat (…).“
Der entscheidende Fortschritt, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Gründung der Vereinten Nationen erzielt wurde, besteht darin, den Einsatz militärischer Gewalt strikt auf die Vertei­digung zu beschränken. Galt es früher als selbstverständlich, dass jeder Staat kraft seiner Souveränität das uneingeschränkte Recht hatte, einem anderen Staat den Krieg zu erklären, so wurde mit dem „Friedensgebot“ der UN-Charta eine epochale Wende vollzogen. Seitdem gilt der Angriffskrieg als Bruch des Völkerrechts schlechthin.
Der Überfall auf die Ukraine, den Putin befahl und bis heute nicht stoppt, ist der klassische Fall eines Angriffskrieges. So hat denn auch die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 2. März 2022 mit einer großen Mehrheit von 141 Staaten die Aggression verurteilt – bei 34 Enthaltungen. Die Liste derer, die mit Russland dagegen stimmten, spricht Bände: Nordkorea, Syrien, Eritrea und Weißrussland.
Resolutionen der Vollversammlung sind jedoch rechtlich nicht bindend. Nur der Sicherheitsrat kann Zwangsmaßnahmen bis hin zu militärischer Gewalt anordnen. Doch hier kam es, wie schon so oft, zu einer Blockade. Weil Russland, zugleich Aggressorstaat und Vetomacht, eine Verurteilung in eigener Sache verhinderte. Das geht auf eine folgen­reiche Konstellation zurück: Die Vereinten Nationen wurden 1945 zwar als eine Organisation souveräner und gleichberechtigter Mitglieder konzi­piert, zugleich aber als eine Weltordnung, die fünf mächtigen Staaten eine dominante Rolle einräumt. Dieses Großmachtmodell kommt im Veto­recht zum Ausdruck. Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheits­rats – neben Russland die USA, Großbritannien, Frankreich und China –verfügen heute allesamt über Atomwaffen. Ohne oder gar gegen sie sind Zwangsmaßnahmen zur Wieder­herstellung des „Weltfriedens“ und der „internationalen Sicherheit“ kaum möglich.
Als der Sicherheitsrat jene Resolution debattierte, die den Angriff auf die Ukraine verurteilte, wandte sich die UN-Botschafterin der USA eindringlich an ihren Kollegen aus Moskau:
„Sie können gegen diese Resolution ein Veto einlegen, aber nicht gegen die Wahrheit!“
Während also die Fakten, was die russische Invasion betrifft, offenkundig sind und der Sicher­heitsrat politisch blockiert ist, gibt es juristische Probleme, den Angriffskrieg vor den Internatio­nalen Strafgerichtshof zu bringen. Russland hatte dessen Statut zunächst gebilligt, 2016 aber – nach der Annexion der Krim zwei Jahre zuvor – seine Unterschrift zurückgezogen und ist somit kein Vertragsstaat. Auch die Ukraine ist das nicht, hat jedoch – wie gesagt – im Nachhinein das Statut anerkannt. Das genügt aber in diesem speziellen Fall nicht, weil das 2017 einge­führte Verbrechen der Aggression verlangt, dass beide Konfliktparteien Vertragsstaaten sind. Demnach können russische Staatsangehörige für dieses Delikt nicht belangt werden: eine folgen­schwere rechtliche Lücke. Der UN-Sicherheitsrat könnte sie zwar schließen, indem er das Gericht in Den Haag für zuständig erklärt. Dies aber kann Russland wiederum durch sein Veto verhindern. Daher ist und bleibt der Internationale Strafgerichts­hof für Putins Angriffskrieg nicht zuständig.
Das ist gerade in diesem Fall enttäuschend, kann aber nach dem Grundprinzip des Völkerrechts nicht anders sein: Die Staaten – ganz gleich, ob demokratisch oder autokratisch verfasst – müssen jeder Einschränkung ihrer Souveränität ausdrücklich zustimmen. Wenn in letzter Zeit beklagt wird, dass Russland das Statut des Gerichtshofs nicht ratifiziert hat, sollte man wissen, dass auch die USA, Israel und China dies nicht getan haben. Das verweist auf ein charakteristisches Merkmal der „regel­basierten“ Weltordnung, das man beklagen kann, aber nüchtern zur Kenntnis nehmen sollte: Alles Völkerrecht ist nur so stark wie jene Staaten, die die Macht und auch den Willen haben, es durchzusetzen.
Zeit für eine Rückblende: Die ganze Idee eines Völkerstrafrechts geht zurück auf das sogenannte „Erbe von Nürnberg“ – eine vielbeschworene Formel, deren Inhalt oft still­schweigend vorausgesetzt wird. Was aber versteht man unter diesem Erbe? Zuallererst und im Kern dies: Dass Verbrechen nicht unbestraft bleiben dürfen, nur weil sie im großen Stil begangen werden, unter Teilnahme von Polizei oder Militär und unter dem Deckmantel einer unmenschlichen Rechtsordnung. Kurz: Regierungskriminalität soll bestraft werden – womit die gesamte Befehlskette bis hinauf zur obersten Führung in den Fokus gerät. Dementsprechend erklärte der Internatio­nale Militärgerichtshof gegen die „Hauptkriegs­verbrecher“ 1945 in seinem Nürnberger Urteil:
„Verbrechen gegen das Völkerrecht werden von Menschen und nicht von abstrakten Wesen begangen, und nur durch Bestrafung jener Einzel­personen, die solche Verbrechen begehen, kann den Bestimmungen des Völkerrechts Geltung verschafft werden.“
Mit der Verurteilung führender Politiker und hoher Militärs wurde in Nürnberg ein bis dahin beispielloser und weitreichender Präzedenzfall geschaffen. Er besagt: Auch Personen, die hohe Ämter bekleideten, können zur Rechenschaft gezogen werden. Dies war nicht zuletzt ein Bruch mit dem gewohnheitsrechtlichen Grundsatz, dass Staatsober­häupter vor späterer Strafverfolgung geschützt sind.
Jahrelang hatte man in verschiedenen Gremien der Vereinten Nationen über die Idee eines Völkerstrafrechts beraten: Die Verhandlungen waren kompliziert und blieben zunächst erfolglos. Bis in den 1990er Jahren zwei Ereignisse die Entwicklung beschleunigten: der Völkermord in Ruanda und der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, insbesondere das Massaker von Srebrenica. Die Öffentlichkeit war schockiert, das „Weltgewissen“ schlug heftig – und so bekam das Unternehmen „Völkerstrafrecht“ neuen Schub.
Zur Ahndung der Verbrechen in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien wurden vom Sicher­heitsrat der Vereinten Nationen sogenannte Ad hoc-Tribunale eingerichtet. Sie waren notgedrungen Provisorien. Mit den daraufhin Fahrt aufnehmenden Beratungen für einen Internationalen Strafgerichtshof wollte man dagegen eine dauerhafte Institution schaffen. Ein ständiges Weltstraf­gericht, das den Verdacht der anlassbezogenen Vorauswahl entkräftete: durch weltweite Ermittlungen und Prozesse.
„Von Nürnberg nach Den Haag“ – mit dieser Formel wird ein bedeutender Fortschritt des Völkerstrafrechts auf den Punkt gebracht. Der Internationale Strafgerichtshof, der seit 2002 in Den Haag tagt, wurde auf Grundlage des Statuts von Rom eingerichtet. Inzwischen haben es 123 Staaten ratifiziert. Das Römische Statut ist ein völkerrechtlicher Vertrag, das Gericht mithin eine eigen­ständige Institution jener Staaten, die sich ihm bisher anschlossen. Damit ist der Strafgerichtshof, entgegen einer verbreiteten Annahme, formell kein Organ der Vereinten Nationen. Das ändert freilich nicht das Geringste an der völker­rechtlichen Qualität und Verbindlichkeit seiner Arbeit.
Das Gericht ist zuständig für schwerste Verletzungen des Völkerrechts, die Trias lautet: klassische Kriegsverbrechen gegen Soldaten und Zivilisten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit als systematische Gewalt gegen Zivilisten und verschiedene Formen des Völkermords – später ergänzt um das Verbrechen des Angriffskrieges.
Gemäß dem Römischen Statut ist der Internationale Gerichtshof nur zuständig, wenn die Justiz des betreffenden Landes untätig bleibt. In Deutschland gibt es seit 2002 ein Völker­strafgesetz­buch, das sich eng an das Statut anlehnt. Nach dem sogenannten Weltrechtsprinzip ist kein Inlandsbezug nötig – eben weil schwerste Menschenrechtsverbrechen nicht länger als innere Angele­genheiten von Terrorstaaten betrachtet werden. Daher konnte etwa in Koblenz ein syrischer Verhörspezialist zu „lebens­länglich“ verurteilt werden, weil er in einem Gefängnis des Geheim­dienstes politische Gefangene hatte foltern und umbringen lassen. Zugunsten von Staats­oberhäuptern gilt vor den Gerichten der National­staaten allerdings das alte Prinzip der Immunität. Es bietet sich daher an, in einzelnen Ländern subalterne Handlanger anzuklagen, in Den Haag dagegen die Führungsspitzen.
Was den Fall Putin und den Internationalen Strafgerichtshof betrifft, ist Artikel 27 des Römischen Statuts einschlägig:
„Immunitäten (…), die nach innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“
Das besagt klipp und klar: Kein Staatsamt, ob nieder oder hoch, schützt vor Strafe. Das Römische Statut schließt aber nicht nur die amtsbezogene Immunität aus, sondern auch die persönliche Immunität von Staatsoberhäuptern. Es folgt damit der Einsicht, dass das alte Verständnis von Immunität mit der Nürnberger Idee eines Völkerstraf­rechts unvereinbar ist. Aber gilt das auch für den amtierenden Präsidenten eines Staates, der das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs gar nicht ratifizierte? In einem Standardwerk heißt es:
„Es spricht mittlerweile Vieles dafür, einen Satz des Völker­gewohnheitsrechts anzunehmen, wonach die statusbezogene [persönliche] Immunität vor internationalen Strafgerichten vollständig beiseitegeschoben wird.“
Der Haftbefehl des Internationalen Straf­gerichtshofs gegen Präsident Putin ist daher nur folgerichtig. Was man von der billigen Retourkutsche aus Russland nicht gerade sagen kann: Der Machthaber, offenbar nervös, ließ nicht nur Richterinnen des Den Haager Strafgerichts auf eine Fahndungsliste setzen, sondern auch dessen Präsidenten und dessen Chefankläger – ohne jede Begründung.
Wer Antworten auf die Frage sucht, wie die für Angriffskrieg und Kriegsverbrechen mutmaßlich Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden könnten, der findet zwar brauchbare Mittel und Wege, stößt aber bald auf allerhand Schwächen und Wider­sprüche des Völkerrechts. Es spricht von „Weltfrieden“ und weckt hochfliegende Hoffnungen, es bereitet aber auch herbe Enttäuschungen. Denn es ist hochkomplex und zeigt sich, wenn es darauf ankommt, mitunter „durchsetzungsschwach“, wie Kritiker sagen. Das ist freilich kein Grund, einem vermeint­lich aufgeklärten Zynismus zu verfallen, der die inter­nationalen Bezie­hungen auf blanke Macht reduziert. Das heutige Völkerrecht ist weder beliebig noch „zahnlos“. Es reflektiert allerdings die globalen Machtverhältnisse, wie sie sich am Ende des Zweiten Welt­kriegs heraus­gebildet hatten. Vom Großmachtmodell der fünf Veto­mächte war schon die Rede; eine Reform des Sicher­heitsrats, die das Vetorecht einschränkt, wäre gewiss notwendig. Doch das ist Zukunfts­musik. Und weil es nun einmal keinen omnipotenten „Weltstaat“ gibt, bleibt das Völkerrecht darauf angewiesen, dass starke Mächte es von Fall zu Fall durchsetzen. Punktuelle Gerechtigkeit der Vereinten Nationen ist besser als gar keine.
Dies gilt auch für den Internationalen Strafgerichtshof, der im Laufe von 20 Jahren seiner ambitionierten Aufgabe als „Welt­strafgericht“ nur ansatzweise gerecht werden konnte. Anfang Mai diesen Jahres besuchte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj Den Haag, wo er unter anderem beim Gericht empfangen wurde. „Ohne Gerechtigkeit ist kein Friede möglich“, sagte Selenskyj und erklärte, es brauche eine „Zuständigkeit für das Verbrechen der Aggression“. Wenn diese nicht beim Strafgerichtshof in Den Haag liege, dann müsse ein besonderes Tribunal geschaffen werden. Als Vorbild nannte der ukrainische Präsident die Nürnberger Prozesse.
„Ein dauerhafter Frieden ist nur möglich, wenn wir die Aggressoren auch zur Verantwortung ziehen",
betonte Selenskyj. Seine Forderung ist verständlich – und wurde auch schon von der deutschen Außenministerin Baerbock ins Spiel gebracht –, schließlich ist der Angriffskrieg das Kernverbrechen.
Drei Gründe sprechen allerdings gegen ein Sondertribunal: Erstens wurde der Gerichtshof ja gerade als ständige Institution konzipiert, er sollte die Praxis der Ad hoc-Tribunale beenden. Zweitens hat der Gerichtshof mit dem Haftbefehl gegen Putin eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er imstande ist, Kriegs­verbrechen zu verfolgen. Zumal dieser Haftbefehl, je nach Stand der Ermittlungen, auf andere Verbrechen bis hin zum Völkermord erweitert werden kann. Und drittens müsste ein Sonder­tribunal, weil der Sicherheitsrat blockiert ist, durch die UN-Vollversamm­lung eingesetzt werden. Es gilt aber als unwahrschein­lich, dass dem heute so viele Staaten zustimmen würden wie 2022 der Verurteilung des russischen Angriffs. Statt ein schwach legitimiertes Tribunal zu schaffen, wäre es besser, das bestehende Gericht zu stärken.
Putin nach Den Haag? Am Ende muss nüchtern die Frage gestellt werden, welchen Realitäts­bezug der Haftbefehl gegen Präsident Putin eigentlich hat. Während der brutale Angriffskrieg bald schon zwei Jahre wütet, bleibt der Sicherheitsrat blockiert. Der Internationale Strafgerichts­hof kann seine Haftbefehle nicht selbst vollstrecken. Und ein Sturz des Putin-Regimes – womöglich durch eine zweite russische, eine demokra­tische Revolution –, ist nicht abzusehen. So erscheint es nicht gerade wahrscheinlich, dass dieser Mann eines schönen Tages in Den Haag vorgeführt wird. Aber: Solche Verbrechen verjähren nicht. Ermittler in Sachen Völkerstrafrecht haben einen langen Atem. Und verweisen darauf, kaum jemand habe sich damals vorstellen können, dass Serbiens Ex-Präsident Milošević eines Tages in Den Haag auf der Anklagebank sitzen würde.
So oder so: Der Fall Putin ist die „eigentliche Bewährungsprobe“ für den Internationalen Strafgerichtshof. Das Verfahren könnte einen „Präzedenzfall“ schaffen, ja zu einem „Fanal“ werden, hofft der Völkerrechtler Gerd Hankel:
„(Dann könnte man sagen), dass der traurige Anlass genutzt worden ist, um (das Gericht) zu einer für die Verbrecher dieser Welt bedrohlichen Institution zu machen.
Der finnische Maler Kaj Stenvall widmete dem Kriegsherrn Wladimir Putin zwei weitere Gemälde, und zwar dem künftigen Angeklagten. Das eine zeigt ihn in einer gläsernen Box, vorgebeugt stehend, als wolle er gerade Platz nehmen. Es trägt den Titel „Willkommen in Den Haag“. Das andere zeigt Putin ebendort sitzend, dunkelblaues Jackett, rote Krawatte achtlos gelockert. Das Gesicht weiß-rötlich gefleckt, schmale Lippen. Vor ihm ein Bildschirm und ein schlankes Mikrofon. Die Ohren bedeckt ein flacher Kopfhörer. Rechts oben im Bild, ähnlich wie in dem Nürnberg-Gemälde, die Schulter eines Polizeibewachers. Putins Augen sind blaugrau, sein Blick unstet. Die Physiognomie der Macht, in sich zusammengesunken, wirkt fahrig und nervös, im Gesicht ein eingefrorenes Lächeln: Der Präsident tut sich sichtlich schwer in seiner neuen Rolle. Diesem Gemälde gab Kaj Stenvall den Titel „Ich habe einen Traum und eine Vision“.
Nürnberg war nicht umsonst. Diese Hoffnung ist der fein­gewobene rote Faden, der die Idee eines modernen Völkerstrafrechts durchzieht. Wird sich die internationale Rechtsordnung, herausgefordert durch den russischen Angriffskrieg, bewähren? Vermag sie das Prinzip „Friede durch Recht“ zu behaupten? Und ist der Internationale Strafgerichtshof imstande, die Verbrechen, die mit dieser Aggression einhergehen, wirksam zu sanktionieren?
Die Zelle, die für den Untersuchungs­häftling Wladimir Putin reserviert ist, steht offen; sein Platz auf der Anklagebank ist leer. – Noch.