Machu Picchu und Bucket List
Vom Drang, Erlebnisse zu sammeln

Seitdem sie denken kann, träumt Johanna Rubinroth davon, „auf Elefantensafari” zu gehen. Einmal Elefanten in fast freier Wildbahn sehen! Was steckt hinter der offenbar unstillbaren Sehnsucht, Erlebnisse zu sammeln oder Erfahrungen zu steigern?

Von Johanna Rubinroth |
Gesamtansicht der alten Inka-Ruinen von Machu Picchu im Urubamba-Tal, nördlich der Andenstadt Cusco in Peru. Auf dem Berg grasst ein Lama.
Nur echt mit Lama: Die Ruinensiedlung Machu Picchu steht auf so mancher Bucket List. (picture alliance / Anadolu / Diego Radames)
Irgendwann war es so weit - eine Gelegenheit mit erträglichen ökologischen Gewissensbissen. Während der Guide nach der Sichtung des 21. Elefanten dazu über gegangen war, die Elefanten mit uns gemeinsam zu zählen, fing ich an, mich zu fragen: Worum geht es eigentlich, mit diesem Drang etwas zu „sehen”, „gesehen zu haben”?
Eiffelturm, Taj Mahal, Venedig … von Entdeckerlust kann dort, an Orten, die millionenfach besucht werden, nicht mehr die Rede sein. Doch wollen wir es selbst auch gesehen und erlebt haben - unsere kleine persönliche Eroberung. Wir jagen nach dem Erlebnis, der Trophäe auf der Netzhaut, beziehungsweise dem hundertmillionsten Foto der Freiheitsstatue, das bei den einen zwischen den eigenen Tausenden Fotos verschwindet, bei den anderen Likes und Kommentare in den sozialen Medien einbringt.
Das Teilen von Erfahrungen stärkt die soziale Identität! Ist es das? Das Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit - das wir suchen? Oder sind es emotionale Höhepunkte, die wir sammeln, einen aus Erlebnissen bestehenden Schatz, der zur persönlichen Erfüllung beitragen soll? Suchen wir nach bedeutsamen Momenten, die uns das Gefühl geben, dass unser Leben einen Sinn und Zweck hat? Oder geht es am Ende doch darum, uns selbst zu inszenieren? Oder bloß nichts zu verpassen?

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Unser Erleben scheint eine merkwürdige Logik der Steigerung zu umwehen, als gelte es, in der Gesellschaft der Singularitäten die singulärste Person zu sein. Einen besonders hohen Berg erklimmen! Ein Segen vom Papst, eine Umarmung von Amma! Machu Picchu! Der berühmte Fallschirmsprung! Persönliche Meilensteine. Religiöse Erfüllung. Touristisches Must-see.
Wie viele Erzählungen basieren auf diesem einen Bedürfnis, dem tiefen Wunsch, einmal das Meer oder Paris gesehen zu haben. Zum Mond zu reisen - oldschool, der Mars wird jetzt angepeilt. Hauptsache etwas, das vor mir noch niemand gesehen hat. Vielleicht lockt uns in Zukunft die Simulationstechnologie mit noch nie da gewesenen Gefühlen, mit dem Erleben einer Farbe außerhalb des Regenbogenspektrums. Das Seltene zelebrieren, zu der einen Handvoll Auserwählter zählen. Und erst wenn der letzte Punkt auf der „Bucket List” abgehakt ist, dürfen wir beruhigt und erfüllt sterben.
Johanna Rubinroth
Johanna Rubinroth ist 1983 als Schulkind von Polen nach Westberlin emigriert, wo sie ihr Abitur absolvierte. Sie schloss die Drehbuchakademie der DFFB ab. Rubinroth lebt und arbeitet als Autorin in Berlin. Zu ihren jüngsten Werken gehören: „BLIND DATE IN DELHI“, „Mein eigensinniges Gehirn“ und „Das Patent“.

Seit ich denken kann, träumte ich davon, „auf Elefanten-Safari“ zu gehen. Als es dann irgendwann soweit war - eine Gelegenheit mit erträglichen ökologischen Gewissensbissen, erwischte ich mich dabei, wie ich Stunden damit verbrachte, die bevorstehende Erfahrung zu organisieren, strategisch zu planen, die richtige Unterkunft zu eruieren, wasserdichte Leech-Socks aus Kunststoff gegen die Blutegel für die anschließende Wanderung durch den Dschungel zu besorgen… Plötzlich hielt ich inne: Warum will ich das so sehr? Warum wollen wir Menschen überhaupt so sehr bestimmte Erfahrungen machen und sammeln, Dinge sehen, erleben, gesehen und erlebt haben? Warum sind wir bereit, dafür auch noch eine Menge Zeit und Geld zu investieren?
Treibt uns ein verkümmertes Derivat des frühen menschlichen Instinkts, Wissen über die Umwelt erlangen zu müssen um zu überleben?
Erwachen in uns uralte Reflexe, wenn wir uns durch die Online-Angebote kluger Marketing-Strategen der Erlebnisökonomie scrollen?
Moment, Entschuldigung - Erforschen? Entdecken? Abenteuer?
Sich als Touristinnen und Touristen in einem hochgestellten Jeep durch ein kontrolliertes Stück Land mit GPS-überwachten Elefanten fahren lassen – von „Entdeckerlust“ und „Abenteuer“ kann hier wohl nicht mehr die Rede sein.
Oder doch? Nur weil etwas irgendwann schon entdeckt wurde, bleibt es für uns ja „unentdeckt“ bis zu dem Moment, in dem wir es selbst erleben. Auch wenn wir als Zwanzigtausendste an diesem Tag in der Schlange stehen, um die Mona Lisa anzuschauen. Oder keuchend mit 4.000 anderen den Machu-Picchu erklimmen.
Ja, denn eines der grundlegendsten Bedürfnisse des Menschen ist wohl das Streben nach Abenteuer und Entdeckung. Diese tief in uns angelegte, manchmal schlummernde, manchmal wilde Sehnsucht danach, etwas zu erleben: Etwas, das außerhalb des sonstigen Alltags liegt, etwas, das… zum Beispiel - exotisch ist. Exotisch - also aus einem fernen Land, fremdartig und mit einer gewissen Magie behaftet.
Tropische Dschungel, orientalische Städte, Paläste, der Elefant - in seiner natürlichen Umgebung wohlgemerkt (nicht im Zoo also) - andere Länder, fremde Sitten - raus aus den Gewohnheiten, raus aus dem erschlossenen Alltag! Sind es nur Träume „auszubrechen“ - somit gewöhnlicher Eskapismus?
Ein Wildschwein im heimischen Wald zu sichten, hätte nicht den Zauber für mich - wiederum - wenn ich morgen Wildschwein-Safaris durch den Berliner Grunewald oder den Bayerischen Wald organisierte, könnten diese vielleicht durchaus zu einem must‑see für Gäste aus China, Indien und Amerika werden - weil es dann exotisch wäre. Könnte das Wildschwein zur „number 6“ der „big 5“ avancieren?
Die Welt bietet so viel Fremdartiges und Besonderes, das es zu erfahren, zu erobern, beziehungsweise einfach nur zu sehen gibt: Der Dschungel in Mexiko, die Niagara‑Wasserfälle, eine Fata Morgana in der Sahara, der Grand Canyon, die chinesische Mauer, New York, Paris - große Bilder, die große Sehnsüchte hervorrufen.
Diese angeborene Tendenz, neue ungewohnte Stimuli zu erkunden, die Welt um uns herum zu ertasten, zu erfühlen, zu erschmecken, hat doch schon im Säuglingsalter begonnen: Was ist hinter dem Wickeltisch? Wie schmeckt Spülmittel? Oder wie fühlt sich weiche Butter an? – Während die neuen Gebiete beim Kleinkind die Küche und das Badezimmer sind, wird es später die Straße hinter dem Sandkasten, im Teenageralter die Clubs. Für den erwachsenen Menschen ist es folgerichtig, wenn ihn ferne Länder, Berge und Urwälder, die da irgendwo hinter der eigenen Heimat gelegen sind, locken. Wir wollen alles um uns herum kennenlernen, uns einverleiben - unseren Horizont und unser Verständnis von der Welt erweitern.
Ohne diese Neugier, diesen Drang nach Wissen: Was ist das, dort, hinter dem Horizont? - würden wir immer noch denken, Blitz und Donner seien die Strafe böser Geister. Andererseits… der Regenwald wäre vielleicht noch intakt. Aber - der Mensch ist neugierig und will seine Umgebung erforschen.
Die tiefste Stelle im Meer, das „Challengertief“, der Mond und das All, wurden bereits erreicht. Der Mars und die Venus werden nun angepeilt. Und was ist bloß dahinter - hinter dem Ende der Galaxie? Teilchenbeschleuniger werden gebaut, um nach innen zu schauen, Atome zu zerlegen und die Existenz von Protonen, Neutronen und Quarks zu erkunden. Ja - die Exploration geht in alle Richtungen.
Zurück auf die Erde.
Der erste Elefant kommt. Große Aufregung. Respektvolles Schweigen. Majestätisch schreitet das Tier vor uns. Ein Wonneschauer jagt den nächsten.
Wollen wir Dinge in Wirklichkeit nicht um ihrer selbst willen erleben, sondern weil uns die Gefühle reizen, die damit einhergehen? Wird die neue Erfahrung von uns angestrebt, weil wir uns den Flow-Zustand erhoffen, Euphorie und Erfüllung? Gefühle, die uns komplett einnehmen? Nichts nervt, nichts lenkt ab - ich bin ganz im Moment, ganz da, alle Sinne geschärft, eins mit der Natur, mit mir und der Umwelt.
Und so sammeln wir die vielen kleinen erlebten Trophäen: Eine Sonnenfinsternis, die Polarlichter, einen lunaren Regenbogen.
Möglicherweise wäre unsere Sehnsucht nach Erlebnissen weniger stark, wenn wir nicht immer noch glauben würden, wir könnten unsere Erlebnisse stapeln und horten, in einem „Palast der Erinnerungen“, wie der Philosoph Augustinus es nannte.
Auch wenn dieses Bild von der modernen Forschung kritisiert wird - wir sammeln und kollektivieren unsere emotionalen Höhepunkte, die zusammen einen Schatz bilden - unseren ganz persönlichen, privaten Schatz, den uns niemand nehmen kann - nie!
Wir können die Augen schließen und sehen immer noch: Kyoto in Kirschblüte, das Taj Mahal bei Sonnenaufgang, Kappadokien vom Heißluftballon aus, das lila Blütenmeer der Lüneburger Heide - alles natürlich in Relation zu unseren sozial‑ökonomischen Ressourcen und Möglichkeiten.
Die Schönheit der Fauna kann ein überwältigendes Erlebnis sein: Ein Feld voller Flamingos, ein Wal, hüpfende Delphine bei Sonnenaufgang im Golf von Mexiko. Oder auch… eine badende Elefantenfamilie samt Babys. Wie wunderschön. Und ich bin dabei! Ganz nah, ganz authentisch! So muss es doch im Garten Eden ausgesehen haben! Und das Erlebnis soll jetzt gleich einfach so vorbei sein und wirklich nur in meinem Kopf und in meiner Erinnerung existieren - und von Tag zu Tag verblassen?
Nein! Niemals! Ich will diesen Moment halten, behalten, mitnehmen! Für immer. Er gehört doch mir, dieser Moment!? Schon sehe ich meine Hand das Handy greifen, auf die Kamerafunktion tippen. Statt weiter den Flow zu genießen, suche ich den idealen Bildausschnitt, um das, was ich sehe, festzuhalten.
Natürlich ärgere ich mich, weil das, was ich sehe, viel schöner ist als das, was ich durch die Linse erblicke.
Trotzdem kann ich das Handy nicht weglegen, ich bin angefixt, es klebt an meiner Hand und ich hinter der Linse. Egal ob es tausende gute, sehr gute, professionelle Fotos von Elefanten gibt, wahrscheinlich auch von genau diesen Elefanten, wahrscheinlich sogar davon, wie sie baden…
Vertraue ich meiner Erinnerung nicht? Warum müssen wir ikonische Orte und Momente unbedingt selbst fotografieren?
Der Eiffelturm, der Big Ben, das Empire State Building werden zu den meistfotografierten Objekten der Welt gezählt… Der Louvre belegt den vierten Platz. In New York kommt übrigens das Guggenheim Museum zuerst und nicht, wie von vielen angenommen, die Freiheitsstatue. Die Mona Lisa steht, auch wenn sie hängt, bis zu 25.000 mal täglich Modell.
Wider besseres Wissen verführt uns dieses elektrisierende „Klick“, das uns glauben lässt, den Moment nicht nur festzuhalten, sondern zu besitzen - erobert zu haben.
Eine Eroberung, die es eventuell in ein Erinnerungsalbum schafft, meist aber doch im Datenabfall der eigenen Tausenden Fotos der Cloud-Deponie landet.
Wenn sich all diese Bilder mit einem Mal zu echten Fotos - wie früher auf Papier - materialisieren würden, müssten wir qualvoll unter den Massen ersticken.
Vielleicht landet die Eroberung aber auch im Familienchat oder auf social media? Schon von klein auf haben wir den Impuls, diese kindliche Freude zu teilen, uns mit‑zu‑teilen: „Mama, guck mal! Ein Krokodil! Ein Schmetterling! Eine Frau ohne Arm!“ Und schon wird das Erlebnis auf dem Foto zum „Kommunikationsmittel“:
Wir erhalten positive Rückmeldungen, tauschen uns aus, unterhalten uns, fühlen uns verstanden - sind mitten in einer sozialen Interaktion.
Erlebnisse sind aber auch wichtig, um „dabei“ gewesen zu sein. Wir können mitmeckern über den Uringestank bei den Pyramiden und uns über unser Unbehagen und die innere Spannung austauschen, die aus dem Bewusstsein resultiert, Teil einer asymmetrischen Beziehung zu sein, die durch wirtschaftliche und soziale Unterschiede geprägt ist. Für diesen einen Moment lang synchronisieren sich unsere Spiegelneuronen und wir schwelgen gemeinsam in dem Erlebten, wir vergleichen, wir haben uns etwas zu erzählen, wir connecten. Möglicherweise geschieht sogar ein „bonding moment“. Ein Moment, der uns nachhaltig verbindet. In der großen, unübersichtlichen Welt - ein wohliges Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit.
Innerhalb der peer-groups verständigen wir uns darauf, welche Erfahrungen als erstrebenswert angesehen werden. Yoga mit Ziegenbabys - in der Schweiz übrigens seit kurzem verboten -, ein Fußballspiel, der Besuch einer Sex-Party oder der eines Vulkans.
Auch Menschen können zu einem must-see werden. Einen Star oder eine berühmte Persönlichkeit der Politik zu treffen, ist für viele ein angestrebtes Ziel.
Obwohl es uns die bewunderte Person tatsächlich keinen Deut näher bringt, berührt es uns schon, an dem Ort gewesen zu sein, wo seinerzeit einmal jemand Besonderes gewesen ist.
Die atemberaubende Schlucht von Ronda in Spanien wirbt nicht nur damit, dass Madonna hier ihren Musik-Clip gedreht hat. Auch Michelle Obama war schon mal da!
In dem Café in Tanger zu sitzen, wo Jane und Paul Bowles ihre Zeit verbracht haben, sich auf die Spuren von Hildegard von Bingen zu begeben, im Hotel zu schlafen, in dem Jackie Onassis übernachtet hat… So stark kann der Zauber sein, der sogar noch posthum von ikonischen Persönlichkeiten ausgeht.
In einer Welt, in der wir ständig mit den Erfahrungen und Leistungen anderer konfrontiert werden, fallen wir leicht dem Konformitätsdruck zum Opfer.
Hinzu noch eine Prise „Fomo“ - fear of missing out - der Angst, etwas Wichtiges zu verpassen - und schon entspinnen sich Wettbewerbe. Bloß nicht langweilig sein! Wer hat das größere Abenteuer erlebt, wer kann mit den meisten must-sees auftrumpfen?
Die menschlichen Bedürfnisse hat der Psychologe Abraham Maslow in einer Pyramide zusammengefasst. Danach bilden physiologische Bedürfnisse die Basis, es folgen die nach Sicherheit und die sozialen. An zweithöchster Stelle stehen Anerkennung und Wertschätzung. Puren Rahm davon, in Form von Herzen und bewundernden Kommentaren, können wir bei Instagram abschöpfen. An die 80 Millionen Bilder werden weltweit täglich hochgeladen. Austausch - ja, vielleicht aber auch nur eine große weltweite Angeberplattform, in der das kindliche Prahlen auf erwachsener Ebene weitergeführt wird. Oder ein Display der Enttäuschungen, wenn in der Stunde, in der wir heute länger geschlafen haben, die meisten schon Bedeutendes erlebt haben.
Wie würden wohl die Antworten ausfallen, wenn eingefleischte Instagram-User die Frage gestellt bekämen: Würdest du einen Yacht-Trip entlang der Côte-d-Azur geschenkt bekommen wollen, wenn du nichts davon posten dürftest?
Der Guide beginnt das Auto umzuparken. Zufrieden, uns einen Vorteil verschafft zu haben, ruft er uns zu, jetzt hätten wir den idealen Winkel für ein Selfie mit dem Elefanten.
Wow! Ich kann nicht nur mein Erleben dokumentieren, ich kann mich mitverewigen, indem ich mein Selfie mit dem Elefanten in die sozialen Medien stelle, mich samt meiner persönlichen Erlebnisse einem breiten Publikum präsentiere und mir so ein Stück meiner Identität schaffe! Ob ich diejenige bin, die mit dem homosexuellen indischen Maharadscha gespeist hat, oder mit der Obdachlosen in New York Kombucha unter der Brücke getrunken hat: Ich wähle aus, was ich erlebe, und bestimme, wer ich bin, beziehungsweise sein möchte, beziehungsweise wie ich gesehen werden möchte…
Die Praxis, unsere Erlebnisse zu posten und zu teilen, als Selfie oder ohne uns - hat zur Folge, dass sich nicht nur eine Menge Menschen auf Instagram für ihr nächstes Reiseziel inspirieren lassen, es befeuert auch den Trend, die Destinationen nach „Instagramability“ zu buchen.
Sechs von zehn Menschen sollen schon einmal ein Reiseziel gewählt haben, nur um ein Foto auf ihrem Social-Media-Kanal teilen zu können. Die Umweltsauerei des Fluges wird in Kauf genommen. Der Infinity Pool in Singapur und die Felsen der Halong-Bucht in Vietnam, wo ein James Bond-Film gedreht wurde, sind Protagonisten unzähliger Insta-Shootings.
Von den fast acht Milliarden Menschen auf der Welt nutzen 5,4 Milliarden das Internet.
Wir leben, außer an den digitalen Detox-Tagen, mit einer ständigen visuellen und narrativen Präsenz medialer Darstellungen erstrebenswerter Erfahrungen.
Und obwohl wir uns der Tatsache vollkommen bewusst sind, dass bestimmte Erlebnisse idealisiert werden, schreit in uns eine Stimme:
Da will ich hin! Das gehört dazu! So will ich sein!
So sehr prägen diese Bilder unsere Vorstellungen von wünschenswerten, wertvollen, bedeutsamen Erfahrungen, Abenteuern und Reisen.
Die Folge: Immer mehr Menschen wollen immer mehr erleben - vor allem - immer mehr Menschen wollen das Gleiche erleben!
Das führt natürlich zu noch mehr Müllbergen, Menschenschlangen, die sich gegenseitig das ideale Foto verstellen, zu steigenden Mieten, Luft- und Wasserverschmutzung sowie massiver Schädigung von Flora und Fauna.
Aus dem Bewusstsein heraus, dass wir die Welt unwiederbringlich kaputt machen, hat sich eine neue Sehnsucht entwickelt: Der Wunsch, etwas noch einmal zu sehen, solange es noch da ist - der sogenannte „Last-Chance-Tourismus“. Schnell in die Arktis fahren und die Eiskappen anschauen, solange sie noch nicht ganz weggeschmolzen sind, schnell schnorcheln auf den Malediven, solange noch Korallen da sind. Und zu den Seychellen, bevor der steigende Meeresspiegel sie verschwinden lässt.
Unnötig zu erwähnen, wie sehr dieser Trend wiederum die Zerstörung ankurbelt…
Wir pilgern in die zoologischen Gärten, um letzte Vertreter fast ausgestorbener Tierarten noch erleben zu dürfen. Und freuen uns klammheimlich, „die letzten“ gewesen zu sein.
Besonders eindrücklich prägen uns Erfahrungen, für die wir unsere kulturelle Prägung kurzzeitig hinter uns lassen und andere Perspektiven einnehmen. Einmal auf einem indonesischen Begräbnis lachen oder mit einer asiatischen Familie Hundefleisch essen.
Für einen Moment, wenn die geröstete Heuschrecke zwischen unseren Zähnen knackt, und wir ein noch pochendes Schlangenherz herunterwürgen, waren wir nicht der Bauer, der nicht frisst, was er nicht kennt. Nein - wir waren offen, mutig - haben unseren Horizont erweitert!
Obwohl den meisten die Absurdität solcher Aktionen bewusst ist: Reisen in einer Rakete für zehn Minuten ins All werden nicht nur von hyperreichen Menschen gebucht. Es gibt auch diejenigen, die sehr lange darauf sparen, um die Schwerelosigkeit einmal erlebt zu haben. So tief beeindrucken uns die Erfahrungen, für die wir kurzzeitig unsere eigenen Grenzen oder gar die der geglaubten menschlichen Möglichkeiten überwinden.
Der Tesla-Chef Elon Musk will mit seiner Firma SpaceX den Weltraumtourismus etablieren. Der US-amerikanische Milliardär Jared Isaacman hat erst kürzlich als erster Privatmensch einen Weltraumspaziergang absolviert.
Für manche Gehirne, die rastlos auf der Suche nach dem ultimativen Kick sind, werden Erlebnisse überhaupt erst interessant, wenn sie gleichzeitig die Nerven kitzeln und das Adrenalin hochschießen lassen. Horror-Filme, Escape-Spiele, Looping auf der Achter- oder eine Fahrt mit der Geisterbahn. Charlotte Roche ist bis nach Russland gefahren, um mit Titanhaken im Rücken von einer Brücke zu springen.
Gefährlich scheinende Aktivitäten - der berühmte Fallschirmsprung, Bungee‑Jumping wirken zwar halsbrecherisch, zählen statistisch jedoch zu sehr sicheren Unternehmungen. Sie werden zur Lustmaximierung, aber auch als Methode zur Überwindung eigener Ängste - vor allem der Höhenangst - praktiziert.
Und obwohl es exakte Vorschriften zur Zubereitung von Fugu, dem giftigen japanischen Kugelfisch gibt - sprich: Fugu zu essen sehr teuer, aber ziemlich ungefährlich ist - erzeugt der Gedanke bei vielen Menschen eine Art Gänsehaut und Respekt und sorgt nicht nur für einen unvergesslichen Moment, sondern beschert uns hinterher ein gutes Gefühl: Ich habe mich getraut, ich habe meine eigene Grenze ausgetestet und sogar überschritten - ich kann mir auf die Schulter klopfen, wissend, eine Herausforderung gemeistert, bewältigt zu haben!
Je mehr Herausforderungen wir bewältigen, desto größer das Gefühl, unser Potenzial entfaltet zu haben, über uns hinaus gewachsen zu sein. In der Summe erhalten wir also den Zustand von Erfüllung und Zufriedenheit.
Aber Halt! Erfüllung? Really? Warum sollten Sekunden-Kicks uns glücklich machen? Das ist doch nicht nachhaltig! Nein, es geht im Leben nicht darum, molekularen Stickstoff zu essen und sich aus fliegenden Hubschraubern zu stürzen!
Das wusste schon Epikur - denn wenn er über das Glück philosophierte, tat er das zusammen mit seinen Freunden in der friedlichen Atmosphäre seines Gartens.
Und doch lechzt unser Gehirn nach neuen Erfahrungen.
Inzwischen ist der Guide dazu übergegangen, die Elefanten zu zählen, 21, 22, 23… - wir zählen mit… 33, 34… er weiß, wie er uns beschäftigt halten kann, damit bloß keine Langeweile aufkommt.
Manche Belohnungssysteme wachen überhaupt erst auf, wenn es wirklich riskant wird. Bis vor kurzem soll es so genannte „Brave-City-Touren” in die Ukraine gegeben haben, bei denen in Städten wie Butscha und Charkiw nicht nur beschossene Gebäude und zerstörte Militärausrüstung besichtigt werden konnten, sondern auch mit dem Kick der ganz realen Gefahr durch Landminen sowie möglichen Luftangriffen geworben wurde.
Neu ist das nicht! - Der Ausdruck „Schlachtenbummler“ bezeichnete ursprünglich keineswegs von Spiel zu Spiel ziehende Fußballfans, sondern Zivilisten, die aus Neugier die Kriegsfront besuchten.
Hier sei angemerkt, dass es sich bei den Sensationsdurstigen vor allem um Männer in der Pubertät bis zum Alter von 25 Jahren, die einen höheren Testosteronspiegel haben, handelt.
Aber auch Hemingway reiste 1937 in den Bürgerkrieg nach Spanien, nicht nur um darüber zu berichten, sondern auch, um diesen hautnah zu spüren - die menschliche Natur in extremen Situationen besser zu verstehen.
Der Wunsch danach, etwas Blutrünstiges zu erleben, wurde schon im alten Rom bei den Gladiatorenkämpfen befriedigt. Öffentliche Steinigungen im Iran übten auf manche Menschen eine grausame Faszination aus. Der Stierkampf bringt alle Spanien‑Reisenden in die Verlegenheit, sich moralisch zu entscheiden.
Einige Sensationshungrige zieht es an Orte, an denen sich in der Vergangenheit schreckliche Dinge zugetragen haben, seien es Naturkatastrophen oder menschliche Gräueltaten.
Anscheinend liegt „der Zerstörung eine ureigene Faszination zugrunde“, wie Philip Stone, Direktor des Instituts für Dark Tourism Research in Central Lancashire, es ausdrückt. Wir fühlen uns davon angezogen, wenn uns eine Katastrophe verschont hat. Manchmal geht es aber auch darum, schlimmeres Leid als das eigene gesehen zu haben, um das eigene Leben dazu in Relation zu setzen.
Immer wieder wird der Gedenkort KZ Auschwitz entwürdigt, wenn sich Einzelne keineswegs mit der Geschichte auseinandersetzen - sondern ein aufregendes Schauererlebnis suchen und fröhliche Selfies vor den Krematorien schießen.
Das dissonante Erbe verfügt über eine starke Zugkraft: Tausende von Besuchern strömen in die Pariser Katakomben und zu den Killing Fields von Kambodscha. Mahnmale des Schreckens wie das Ground Zero, Hiroshima und Nagasaki stehen auf vielen „must-see“-Listen.
Und Touren durch Tschernobyl ziehen nicht nur Zoologinnen und Zoologen an, die Anomalien und Mutationen bei Fischen, Amphibien und Säugetieren studieren, sondern auch die, die es spannend finden, den Schreckensort als solchen zu sehen.
Wie umstritten Reiseziele dieser Art auch sind - sie scheinen Hochkonjunktur zu haben: Ein amerikanisches Marktforschungsinstitut sagt gewaltige Wachstumszahlen voraus: Pro Jahr werden Umsätze um die 30 Milliarden Euro erwartet.
Nun, vielleicht steckt dahinter nicht nur Sensationsgier, sondern auch das tiefe Bedürfnis nach der Grenzerfahrung, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen.
Leichter nachvollziehbar als der Thrill von Katastrophen ist womöglich die Motivation von Rosie Swale-Pope. Nachdem die Waliserin ihren Mann verloren hatte, brach sie mit dem Ziel, ihre Trauer zu überwinden, auf, um die Welt in ihren Laufschuhen zu erkunden. Nach fünf Jahren kam sie zurück - mit 29 Heiratsanträgen und 35 Paar zerschlissenen Schuhen.
Menschen sehnen sich nach Erfahrungen, die ihr Inneres verändern: Eine Segnung vom Papst, eine Umarmung von Amma, ein Gespräch mit dem Dalai Lama - Begegnungen, die Gläubigen zu geistig religiöser Erfüllung verhelfen.
Zwei bis drei Millionen bekennende Muslime kommen jährlich nach Mekka und bis zu 30 Millionen Gläubige besuchen das Kumbh Mela-Fest in Indien. Die Ziele dieser Happenings: spirituelle Erleuchtung, Verbindung mit göttlichen Kräften. Manchmal wird aber auch einfach nur um Prosperität oder die Gesundheit eines geliebten Menschen gebetet.
Ob nun spirituell, sexuell, kulinarisch oder touristisch - wir alle suchen nach für uns wichtigen Momenten, die unsere Existenz bereichern und uns das Gefühl geben, unser Leben sei nicht irrelevant, sondern habe durchaus eine tiefere Bedeutung.
Natürlich machen uns zufällige schöne Erlebnisse glücklich - was für eine Freude, unerwartet beschenkt worden zu sein!
Wie belebend aber - in der immer unübersichtlicheren Welt - ist dieses Gefühl der … Selbstwirksamkeit! Sich erfüllt fühlen, wenn wir das, was wir uns vorgenommen haben, aktiv erfüllt haben!
Welche Genugtuung, wenn wir Vorbereitungsmühen und aufwendiges Training nicht gescheut haben und uns tauchend der Ruhe der Tiefe hingeben, kitend über das Wasser gleiten, einen Gipfel erklommen haben, um das faszinierende Panorama zu genießen.
Ein Reisedienstleister, der auch Evakuierungen organisiert, berichtet von eingefrorenen Fingern, Sauerstoffmangel, Zeckenbissfieber.
Diese Gefahren werden in Kauf genommen - für das gute Gefühl von Autonomie, Kompetenz und Selbstwirksamkeit.
So lässt sich auch der große Erfolg der Bucket List erklären. Bucket List, die in unserer Sprache „Löffelliste“ heißt - von „den Löffel abgeben“ - ist eine für uns selbst von uns selbst erstellte Liste, die uns vorgibt, was es in diesem Leben noch zu erleben gilt, um beruhigt und erfüllt sterben zu können.
Am Abend nach der Safari, unter dem Moskitonetz liegend, kann ich nicht nur hunderte Elefanten aus der Foto-Cloud löschen, sondern auch die Safari glücklich von meiner Liste streichen.
Für Fantasiearme gibt es Frauenzeitschriften mit Vorschlägen von Hunderten von Zielen, die vor dem Tod noch erreicht werden sollen… und die Lesenden massiv unter Druck setzen können, obwohl man, wie Löffellistenkritiker und -kritikerinnen anmerken, das Glück nicht abhaken könne wie eine Einkaufsliste.
Ach ja, Blutegel gab es bei der anschließenden Wanderung übrigens nicht - Es hatte ewig nicht geregnet im Regenwald, der Boden war ausgetrocknet - die Leech-Socks kamen nicht zum Einsatz. Wir sind ohne Horror-Story im Gepäck weitergereist.
Vielleicht wird das Reservat, in dem ich unterwegs war, auch bald vor der Klimaerwärmung und Luftverschmutzung kapitulieren, und ich werde mich glücklich schätzen, es noch erlebt zu haben…. Die Neurotechnologie wird direkte Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer gefunden haben, und neue Start-Ups werden uns virtuelle Reisen zu entfernten Orten im Universum oder zu historischen Ereignissen anbieten - ohne physische Grenzen zu überschreiten. Die Simulationstechnologie wird uns locken mit noch nie dagewesenen Gefühlen, mit dem Erleben einer Farbe außerhalb des Regenbogenspektrums.
Doch wann es soweit ist… und ob all das überhaupt wünschenswert ist - vielleicht weiß es die geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa.