In einem Essay hat der Künstler Thomas Feuerstein im Jahr 2008 einen Erkundungsgang in die Erzählweisen der Gegenwartskunst unternommen. Gegenüber den Narrativen, die uns derzeit umstellen, vom rhetorischen Framing bis hin zum Storytelling der Serien von heute, entdeckt er die genuine Erzählweise der Kunst: eine Erzählung ohne Anfang und Ende, das Spinnen eines Netzwerks von Bedeutungen und Verweisungszusammenhängen.
Aber weil diese konzeptuellen Narrative der Kunst heute eine bedeutende Erweiterung erfahren haben, hat Thomas Feuerstein für Essay und Diskurs seinen Text um eine Erzählweise erweitert, in der nicht Künstlerinnen und Künstler von der Welt, dem Menschen oder der Gesellschaft, von ihren künstlerischen Materialien oder Materien erzählen, sondern die Welt selbst, ihre biochemischen Prozesse, ihre Mikroben und Bakterien beginnen, im ästhetischen Prozess „zu Wort“ kommen.
Während sich die großen Erzählungen von Wachstum und Fortschritt im Zuge der Industrialisierung zu verabschieden beginnen, dämmert schon eine planetare Erzählung von Kohlenstoff- und Stickstoffkreisläufen, Biosphäre und Klimawandel. Dies markiert eine natur- und geisteswissenschaftliche Wende, eine kulturelle und ökologische, aber auch künstlerische Metabolie, denn das Leben ist mehr als Mythos, Pathos und Heros; es ist vor allem Metabolismus - ein komplexes Netzwerk, das uns mit der Welt verstrickt.
Wie die Welt zum Sprechen kommt
„Schriftstellern heißt nicht dichten, erfinden, was nie gewesen ist, sondern schriftstellern heißt erzählen, was man erlebt hat“, schreibt der junge August Strindberg in einem Brief an seine Schwester Elisabeth. Jahre später beginnt Strindberg leidenschaftlich ein Tagebuch zu führen, in das er „seltsame Zufälle“ notiert. Das Erlebte ist geprägt von merkwürdigen Begebenheiten, in denen er Zeichen und Botschaften „unbekannter Mächte“ zu empfangen glaubt. In herabgefallenen Zweigen liest er griechische Buchstaben, die ihm geheime Mitteilungen machen, auf einem Stück Fels entdeckt er Besen und Bockshorn und fragt sich, „welcher Dämon es wohl war, der sie dort angebracht hatte“, in einer Walnuss erblickt er winzige, zum Gebet gefaltete Hände, die ihn mit Grauen erfüllen.
Strindberg befindet sich in seiner „Inferno-Krise“ und leidet an Apophänie, einem neurologischen Zwang, aus zufälligen Daten Sinn zu produzieren. Insbesondere die rechte Hemisphäre des Gehirns neigt bei einem Überschuss an Dopamin zu semantischen Assoziationen, die das Gesehene zu bedeutsamen Bildern transformieren und Anlass zu absonderlichen Geschichten geben. In abgeschwächter Ausprägung ist Apophänie integraler Bestandteil menschlicher Wahrnehmung, ohne die wir fantasielose Wesen ohne Kreativität wären.
Gehirne sehnen sich nach Sinn. Beliebigkeit versetzt sie in Unruhe und echtes Chaos sind sie außerstande zu verarbeiten. Sinnesdaten werden mit bestehenden Erfahrungen, Gewohnheiten und mentalen Befindlichkeiten abgeglichen und in ein der Lebensgeschichte entsprechendes Verhältnis gesetzt. Ein neurologischer Dämon zwingt uns, zufällige Eindrücke in eine vermeintliche Ordnung zu bringen, um zu einer kohärenten Geschichte des Selbst zu gelangen. Die große Erzählung handelt folglich von uns selbst und heißt „Ich“. Sie gibt Sinn, ordnet die Welt, organisiert Wahrnehmung und schafft psychisch ein Zuhause. Verlieren wir den roten Faden in der Ich-Erzählung, verlieren wir uns selbst und müssen uns in der Umwelt neu deuten, als Geschichte neu erfinden. Ohne Geschichte empfinden wir uns entfremdet, leben im Phantasma des Naturzustandes, sind Aliens, Zombies oder – Kaspar Hauser gleich – psychisch und sozial isolierte Wesen. Das Ich-Narrativ ist die Voraussetzung unserer Identität, es orientiert und stabilisiert uns, reduziert Komplexität und hilft alltägliche Kontingenz zu bewältigen.
Eine Geschichte zu erzählen, heißt auch, eine andere nicht zu erzählen. Werden irritierende Störungen des Selbst gefiltert und lückenhafte Erinnerungen zu neuen Erzählungen konstelliert, spricht die Medizin von Konfabulation. In Verbindung mit dem Krankheitsbild Anosognosie, bei dem sich die Patienten aufgrund einer Hirnschädigung eine Krankheit oder einen körperlichen Defekt nicht eingestehen, werden häufig „abenteuerliche“ Geschichten fabuliert. Betroffene behaupten etwa, so notiert der Hirnforscher Gerhard Roth, „man habe ihnen über Nacht das linke Bein amputiert und ein fremdes Bein so fein angenäht, dass man die Nähte nicht mehr sehen könne. Wenn dieses Bein sich bewegt, behaupten sie, ein anderer als sie würde jetzt das Bein bewegen. Alle Argumente, es sei doch extrem unwahrscheinlich, dass man jemandem ganz unbemerkt ein Bein amputieren und ein fremdes annähen könne, lassen diese Personen nicht gelten, auch wenn sie hochintelligent sind.“
Die Vermutung liegt nahe, dass ebenso „gesunde“ Gehirne konfabulieren, also bestimmte Wahrnehmungen ausblenden und künstliche Kausalitäten konstruieren. Wir hören beispielsweise im Maschinenlärm Stimmen, sehen in geologischen Formationen ein Tier und neigen zu vereinfachenden pseudorationalen Auslegungen bis hin zu Verschwörungstheorien. Wir konfabulieren unentwegt, vor allem wenn wir wie Strindberg ins Chaos blicken. Ohne diesen neuronalen Trick könnten wir nicht träumen, nicht in die Wolken schauen und vertraute Gestalten entdecken, nicht ins Kino gehen oder eine Kunstausstellung besuchen. Konfabulation und Apophänie sind die Bedingung für die Möglichkeit von Kunst, ohne die Pinselstriche nur Farbe auf Leinwand wären.
Gemeinschaft entsteht aus dem Verweben von Geschichten, über die wir uns untereinander und mit der Welt verstricken. „Eine Geschichte ist ein kleiner Knoten“, wie der britische Anthropologe Gregory Bateson formulierte, aus dem sich soziale Netze knüpfen. Ohne gemeinsames Erzählen drohen Staaten zu zerfallen, und je heterogener Gesellschaften zusammengesetzt sind, desto verbindlicher müssen Geschichten arrangiert sein. Solche kulturellen Narrative liefern den Klebstoff in Form von Werten, Moral und Leitbildern. Insbesondere Massenmedien agieren dabei als mächtige Konfabulationsmaschinen, aus denen sich kollektive Gedächtnisse, Zuschreibungskonzepte sowie Stereotypisierungen speisen und so mentale Globalisierung möglich machen.
Kulturelle Narrative sprengen literarische Erzählformen, historische Chronologien oder mythische Religionsgeschichten. In Zeiten, in denen so viel erzählt wird wie heute, bestätigt sich Roland Barthes' Einschätzung, dass sich die Erzählung nicht um gute oder schlechte Literatur schert. Talk und Reality Shows, Weblogs, psychotherapeutische Sitzungen, Gebrauchsanweisungen bis hin zu Protokollen und Programmen von Maschinen bilden narrative Ensembles, die Kultur gleichzeitig spiegeln, verhandeln und hervorbringen. Narrative lassen sich nicht auf das Fiktionale und Epische eingrenzen, und selbst die saubere Trennung zwischen Diskursen der Wissenschaft und mythischen Erzählungen des Alltags ist nicht frei von Konfabulation. Wissenschaft beansprucht zwar den Modus des Non-Fiktionalen, um mythische Selbstsetzungen zu dekonstruieren – die bekanntesten Korrekturen reichen von Kopernikus über Darwin bis Freud –, ihren Fortschritt aber ermöglicht die Bereitschaft, bestehende Geschichten zu lektorieren und anders zu erzählen. Daraus resultiert eine Konkurrenz der Narrative und ein Markt für Geschichten. Diese sich widersprechenden Beschreibungen von Welt eröffnen den Wissenschaften ihren Plural und erlauben die mit der Moderne ihren Ausgang nehmende Dynamik von Wissensproduktion.
Vereinfachend lassen sich für kulturelle Narrative strukturelle Unterscheidungen treffen, die Geschichten in präsente und latente, sowie in harte und weiche teilen.
Präsente Geschichten drängen sich am Markt der Aufmerksamkeitsökonomie; sie wollen gelesen, gesehen, gehört und besprochen werden. Sie reichen von Literatur, Film, Theater, Kunst über missionarische Heilsgeschichten, Werbung, Unterhaltung, politische Wahlversprechen bis hin zu Theorien, Spekulationen, Hoffnungen von Wissenschaft und Technologie.
Latente Geschichten basieren dagegen auf einem stillen Einverständnis. Sie brauchen nicht erzählt werden, um wirksam zu sein. Gerade aus ihrer Unausgesprochenheit entfalten sie ihre Macht an der Grenze zur Unbewusstheit. Sie stehen dem Common Sense nahe. Auch wenn die großen Erzählungen zerbrochen sind, tut dies der Konjunktur latenter Geschichten keinen Abbruch.
Harte Geschichten wiederum sind Dogmen, Gebote, Fundamentalismen und Axiome. Sie sind nicht verhandelbar, berufen sich auf eine Wahrheit und legitimieren sich über eine höhere Instanz, die im Fall der Gottgegebenheit sprichwörtlich ein blinder Fleck ist. Verkürzt gesprochen, reduzieren sie Realität, ohne realistisch zu sein.
Weiche Geschichten schließlich temporalisieren Wahrheiten und nutzen diese gewissermaßen als „operative Fiktionen“, die nur solange von Nutzen sind, bis sie widerlegt oder von neuen Erkenntnissen korrigiert werden. Ihrer Logik entsprechend sind sie adaptiv, Korrekturen aufgeschlossen und Falsifikationen gegenüber offen; sie streben nach Entwicklung und zielen auf Fortschritt. In Mode, Design und Werbung sind weiche Geschichten harte Währung. Ohne sie wäre eine Ökonomie, die Befindlichkeiten an Waren und ihre Versprechungen des Neuen an das fortschreitende Andere koppelt, nicht denkbar.
Eine Sonderstellung nehmen Narrative ein, die über beschreibende, aufzählende oder erinnernde Funktionen hinausgehen und den Gegenstand ihrer Erzählung überhaupt erst hervorbringen. Man könnte sie – um den Akt des „zur Welt Bringens“ zu betonen – natale Narrative nennen. Sie stehen im Zentrum des künstlerischen Schaffens Solche Erzählungen wandeln sich von einer reinen „Erzählkraft“ zu einer Produktivkraft. Sie sprengen das rein Symbolische und zielen auf materielle Einschreibungen. Nicht umsonst spricht man etwa vom Code des Lebens. In der Wortmagie begegnen uns derartige Praktiken im Kabbalismus, wo das Sprechen einer Zauberformel Dinge hervorbringt oder verschwinden lässt.
Die Logik der Moderne ist von einer doppelten Buchführung geprägt, durch die Geschichten nicht alleine im Buch der Natur gelesen, sondern auch geschrieben und neu erzählt werden können. Natale Narrative veranschaulichen, dass „fictio“ gemäß seiner Etymologie neben dem Erfundenen auch „etwas Hergestelltes“ bezeichnet, womit Weltliteratur eine neue Bedeutung zukommt.
Das Sprechen über Welt konstruiert ab nun Wirklichkeiten - über das Kognitive hinausgehend - in Artefakten und zeugt eine Maieutik, sozusagen eine Hebammenkunst der Maschinen. Lag die technische Revolution im 20. Jahrhundert in virtuellen Welten, findet sie im 21. Jahrhundert in realen Umwelten statt. Wir verdinglichen Geschichten und die Dinge wiederum beginnen animistisch Geschichten zu erzählen. Neben der oralen und literalen Kultur ist eine Parallelkultur der Maschinencodes herangewachsen.
Natale Narrative sind der bildenden Kunst vertraut, werden aber erst seit der Romantik bewusst reflektiert. Der Künstler verwirklicht der romantischen Vorstellung nach seine Ideen in toter Materie und schafft belebte Werke, wie „Das Marmorbild“ von Joseph von Eichendorff oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde veranschaulichen. Kunstwerke werden nicht wie in der Natur vorkommende Konstanten entdeckt, sie werden erfunden, wodurch eine Geschichte aus ihnen spricht oder fetischistisch formuliert, ein Schöpfergeist in ihnen haust. Im 20. Jahrhundert sind natale Narrative vor allem bei Handlungsanweisungen in Dada und Fluxus, Konzeptkunst, algorithmischer, generativer und interaktiver Kunst anzutreffen.
Den Narrativbegriff jedoch derart zu erweitern, strapaziert aus Perspektive der Literaturwissenschaft seine Schärfe. Wenn „alles“ zum Narrativ werden kann, entgleitet der Fokus der Beschreibung und Analyse, die sich nur innerhalb abgegrenzter Felder und definierter Terminologien vollziehen lassen. In der Kunst verhält es sich umgekehrt. Das Interesse gilt nicht dem Herauslösen, Isolieren und Sezieren des Werkes, sondern seiner Vernetzung. Kunstwerke sind – wie Geschichten – kleine Knoten, die uns untereinander und mit der Welt verweben und semantische Netze spannen.
Erst die Verstrickung mit Wirklichkeiten verwandelt einen Gegenstand in ein Kunstwerk und macht ihn zu einem Bedeutungsträger. Selbst abstrakten Kunstwerken, die referenz- und bedeutungslos sein wollen, gelingt dies nur innerhalb einer bestimmten Geschichte, einer Kunstgeschichtserzählung. Ohne Geschichte fehlt der Kontext, sind Bilder lediglich dekorative Farbflächen. Dennoch besteht hier eine Phobie vor Narrativen, die nicht allein das Problem von L'art pour l'art ist, sondern aus einem Missverständnis der Moderne resultiert.
Die Flucht der abstrakten Kunst vor der Bedeutung wurzelt in der antinarrativen Haltung der Moderne insgesamt, die das bürgerliche Erzählen durch Techniken der Fragmentierung und Montage zu zertrümmern hoffte. Kunst wollte selbstreferentiell sein und bis auf die Immanenzerfahrung von Form, Farbe und Material nichts darstellen. Das Erzählen, wie es in der mimetischen Kunst etabliert war, sollte gestört werden, um die Materialität der Kommunikation sichtbar zu machen. Alles andere stand unter dem Verdacht des Scheins und „falschen Bewusstseins“. Ein „Schwarzes Quadrat“ von Malewitsch oder „Reine Farbe Rot, Gelb, reine Farbe Blau“ von Rodtschenko erschließen sich jedoch nicht ohne entsprechende Erzählung. Die Moderne erweist sich als latente Geschichte, die auf Verstehensunterstellungen beruht und zu manifesthaften, harten Geschichten tendiert.
Werden modernistische Kunstwerke wie Rodtschenkos Monochrome zudem als die „letzten Bilder der Kunstgeschichte“ proklamiert, tritt ein apokalyptisches Moment hinzu, wie es für Fundamentalismen charakteristisch ist. Unabhängig vom ironischen Abgesang überkommener Bildtraditionen offenbart sich ein ultimatives Ende, das jede weitere Erzählung verunmöglicht. Das Absolute der Kunst liegt im apokalyptischen Akt der Künstler, die sich am Ende der Kunstgeschichte wie die Auserwählten im christlichen Mythos am eschatologischen Bankett versammeln. Doch im Paradies haben sich die Menschen nichts zu sagen und verspeisen selbstvergessen ohne Zeit und Geschichte die Trümmer der Welt. Der Modernismus glaubte, dass das Leben und die Kunst dort beginnen, wo die Geschichte endet, der Film reißt, die Fiktion zerbricht. Im Alltag findet das Leben aber ohne Erzählung nicht statt, und das Ende der Erzählung ist nur eine Geschichte unter vielen.
Verstand man in der Moderne unter narrativer Kunst Werke, die innerhalb eines bestimmten Mediums – zum Beispiel in der Malerei oder der Zeichnung – eine Handlung figurativ zeigen und chronologische Abläufe verräumlichen, geht sie ab den 1960er Jahren mit einem konzeptuellen Denken einher.
Konzeptuelle Narrationen stehen dabei nicht in Tradition des Storytellings, sondern nutzen spezifische Eigenschaften bildender Kunst, um Bezüge zwischen einzelnen Objekten aufzubauen. Eine Ausstellung will keine bloße Akkumulation singulärer Meisterwerke sein, sie entwirft ein semantisches Netz narrativer Zwischenräume, die aus der Verschränkung verschiedener Werke und ihren Wechselwirkungen resultieren und Bilder, Texte, Videos, Software, Installation und Musik einbezieht, ohne sich dabei dem Pathos und der Totalität des Gesamtkunstwerkes zu unterwerfen.
Im Unterschied zu klassischen Erzählformen befindet sich die Erzählerin, anstatt an einem Ort außerhalb der Geschichte, mitten in ihr drin, wodurch sich auch der Betrachter involviert und sich die Differenz von Person, Raum und Zeit aufhebt. Im Medium der Ausstellung erzeugen konzeptuelle Narrationen eine neue Topologie der Kunst. Gegenüber Literatur, Theater und Film nimmt diese Erzählweise auf vielfältigen Ebenen die Fäden synchron auf und verknüpft sie zu Geschichten ohne Anfang und Ende. Das ist der Kern dieser Erzählweisen: Geschichten ohne Anfang und Ende. Konzeptuelle Narrationen verbinden auf diese Weise eigene und fremde, faktische und fiktionale Geschichten und fungieren als Methode, Inhalte und Formen in Werken und Prozessen zum Sprechen zu bringen.
Die konzeptuelle Arbeit am eigenen Narrativ wird für eine Kunst bestimmend, die nicht nur an „Special Effects“ der Form, des Materials, der Farbe interessiert ist und sich über die engen Grenzen des subjektiven Gestus, die Regelwerke der Disziplin und den Glamour des Marktes hinaus mit den Menschen und ihren Geschichten verstricken will. In Anlehnung an Strindberg muss man „nicht dichten, erfinden, was nie gewesen ist“, man muss konfabulieren, was die Geschichten einem diktieren. Hierfür braucht es keinen Stil und keine Delegation an ein Genie. Welt zu verstehen heißt, Geschichten zu erzählen; Welt zu verändern heißt, bestehende Geschichten anders zu erzählen oder mit Wilhelm Schapp gesprochen: „Aus einer Geschichte und im Rahmen einer Geschichte ist der Zugang zu einer Welt gefunden, die mit tausend Widersprüchen behaftet ist.“
Aber heutzutage kann und muss die Kunst noch mehr leisten, als sich in konzeptuellen Erzählungen ohne Anfang und Ende mit Menschen und ihren Geschichten zu verstricken, sie kann sich mit der Welt vernetzen, sie zum Sprechen bringen, kann auf diese Weise metabolische Erzählweisen etablieren.
Zwar ist das Erzählen von Geschichten menschlich. Sprechen nichtmenschliche Akteure wie Götter in Mythen, Tiere und Pflanzen in Fabeln oder Aliens in Science‑Fiction-Romanen, geschieht dies normalerweise stellvertretend oder allegorisch. Selbst Geschichten im Animismus und in wissenschaftlichen Papers, die von Naturkräften berichten, appellieren an menschliche Imaginationskraft, Spiritualität oder Kognition. Wie können aber all jene nichtmenschlichen Objekte, die unsere Existenz bedingen, etwa Bakterien und Pilze, der Ozean und der Wald, das Klima, das Mikrobiom des Ackerbodens oder Darms zum Sprechen gebracht werden? Müssen wir lernen, Geschichten in fremden Zungen zu erzählen?
Wenn es aus der Sprache kein Entkommen gibt, stellt sich mit und ohne linguistischem Relativitätsprinzip für Kunst erneut und durch die Zeitläufe erneuert die Frage, ob erzählen nicht auch handeln heißt? Dies unterstellt Werken eine Handlungsmacht, die passive Objekte in aktive Subjekte verwandelt. Kunstwerke werden über Bedeutungsträger hinaus zu Handlungsträgern, die unabhängig vom Stilwillen, von den Intentionen der Künstlerinnen und Künstler und auch unabhängig von den Interpretationen der Betrachtenden eine Eigenlogik hervorbringen. Eine Eigenlogik, die eine Form und eine Ästhetik hervorbringt, die unabhängig von der Autorschaft entsteht. Wie könnte eine solche Kunst entstehen? Welche Bedingungen können wir schaffen, damit sie sich vollzieht?
Es ist ein alter Traum der Kunst, dass sie Leben in die tote Materie – den Stein oder die Farbe – einhaucht. Die Belebung von Objekten halluzinierte die Literatur spätestens seit der Antike, allerdings anthropozentrisch, wie in Ovids Pygmalion,wo sich etymologisch im Sinne von pygmḗ (griech. Faust) bereits der Faust-Stoff verbirgt. Im vielfach erzählten Mythos schafft der Künstlerkönig Pygmalion eine schöne Elfenbeinskulptur einer Frau, die unter seinen Liebkosungen lebendig wird. Im Gegensatz zum Erwachen von Statuen und Bildern in der Literatur und ihrer psychischen Spiegelung menschlicher Gefühlswelten wirken heute Posthumanismus, neuer Materialismus oder Akteur-Netzwerk-Theorie dieser Subjektzentrierung entgegen. Nicht der Mensch schafft Objekte und beseelt sie durch sein Begehren. Nicht der Mensch ist aufgerufen, Geschichten zu erzählen, sondern Dinge und Prozesse sollen sich selbst artikulieren. Der Descartes’sche Substanzendualismus als scharfe Grenze zwischen denkenden Subjekten, der res cogitans, und unbeseelten Objekten in der Umwelt, der res extensa, wird löchrig.
Nichtmenschliche Entitäten werden zu Protagonisten in neuen Erzählweisen über Gestaltungen in ökologischen, sozialen und technischen Sphären. Paradigmatisch für diese Narrative ist die Hinwendung zu Handlungen, die Materialien, Prozesse und biologische Organismen selbst zum Sprechen bringen. Das Performative erweitert das Narrative, indem nicht allein Künstlerinnen und Künstler aus ihren Werken sprechen, sondern auch objektimmanente Materialitäten, wie zum Beispiel Mikroorganismen oder biochemische Reaktionen.
Wenn der amerikanische Künstler Robert Smithson von der „Kollaboration mit der Entropie“ spricht und viskose Flüssigkeit aus einem Fass über die Erde fließen lässt, adressiert er den Eigensinn der Objekte. Nicht der Künstler ist schöpferisch, ist „Diktator“ der Form, sondern es ist das Material, die Schwerkraft, der Untergrund, die Umgebungstemperatur etcetera, all diese Faktoren werden bei Smithson zu handelnden Kollaborateuren. Die künstlerische Arbeit sistiert nicht in einem unveränderlichen Zustand, wie eine Skulptur aus Bronze oder Stein; sie beginnt sich über die Formgrenzen hinaus zu ermächtigen.
Künstlerinnen und Künstler bedienen sich realer Prozesse und machen die alte Einsicht explizit, dass Werkzeuge und Materialien, Medien und Produktionsbedingungen konstitutiver Teil von Kunst sind. Damit werden in zeitgenössischen Kunstpraxen Werke zunehmend zu „Symposien“, in denen sich menschliche und nichtmenschliche Stimmen versammeln, um ästhetische Handlungsfelder zu erschließen.
„Jede Bewegung, jede Kraftäußerung, jede organische Thätigkeit wird bedingt durch Stoffwechsel, durch eine neue Form, welche seine Bestandtheile annehmen“, schrieb der Chemiker Justus von Liebig im Jahr 1840. Damit war eine – wie es zeitgleich der Physiologe Theodor Schwann formulierte – „metabolische Kraft“ beschworen, die Stoffwechsel zu einem zentralen Thema in Biologie, Ökologie und Ökonomie macht. Leben und Natur erfahren eine neue Definition als Wandel der Materie, woraus Mitte des 19. Jahrhunderts die Biochemie samt ihren Begrifflichkeiten und Vorstellungen von Enzymen, Nukleinsäuren, Vitaminen oder Hormonen resultiert. Waren es in der Kunst einst die großen Gesten und Gefühle, die der Materie Leben einhauchen und die Geschicke der Welt bestimmen, sind es fortan die kleinen Regungen der Moleküle. Was von Liebig zu einem Vordenker moderner Ökologie macht, ist die enge ökonomische Stoffwechselbeziehung des Menschen zur natürlichen Umwelt. Er beschrieb bereits zu seiner Zeit eine massive Störung natürlicher Kreisläufe durch hypertrophe Produktion, Konsumtion und Entsorgung in Landwirtschaft und Industrie. Für Karl Marx wurzelt diese Störung im Kapitalismus, den er wiederum als eine Stoffwechselkrankheit diagnostiziert. Er spricht von einem Riss im Stoffwechsel zwischen Natur und Gesellschaft, da Kapitalismus linear und nicht zyklisch organisiert ist. Im ersten Buch seines Kapitals beschreibt er den Arbeitsprozess als geschichtsübergreifenden Stoffwechsel: „Der Arbeitsprozess“, notierte er, „ist zweckmässige Thätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerthen, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.“
Während sich die großen Erzählungen von Wachstum und Fortschritt im Zuge der Industrialisierung zu verabschieden beginnen, dämmert schon eine planetare Erzählung von Kohlenstoff- und Stickstoffkreisläufen, Biosphäre und Klimawandel. Dies markiert eine natur- und geisteswissenschaftlich Wende, eine kulturelle und ökologische, aber auch künstlerische Metabolie, denn das Leben ist mehr als Mythos, Pathos und Heros; es ist vor allem Metabolismus, ein komplexes Netzwerk, das uns mit der Welt verstrickt.
Bislang galten Materialitäten und Prozesse in der Kunstgeschichte weitgehend als Manko. Bildende Kunst zählte nur zu den artes mechanicae und nicht zu den artes liberales, weil sie im Gegensatz zu immateriellen Kunstformen wie Musik oder Literatur körperlich war und gerade nicht frei vom Schmutz der Materie. Ab dem Moment, wo wir vom molekularen Zeitalter, von Stoffwechseltheorie und Biochemie sprechen, wandelt sich das ehemalige Defizit zu einer spezifischen ästhetischen Qualität.
Zeitgenössische Kunst kann heute Material, Materialität und Materie konzeptuell und real bearbeiten. Metabolische Kunst kann Geschichten nicht allein symbolisch erzählen, sie kann Wirklichkeiten über Prozesse real performieren. Stoffwandlungen wie das Bleichen oder Schwarzwerden der Bilder, die Erosion und Korrosion von Marmor und Bronze waren in der Kunstgeschichte gefürchtet.
Materialien, Entropie und Organismen werden zu künstlerischen Kollaborateuren, begründen einen neuen Werkbegriff und Kunstobjekte wandeln sich zu handelnden und lebendigen Subjekten, die Natur über imitatio und mímesis – also über die Nachahmung hinaus zum Sprechen bringen. Damit begnügt sich Kunst nicht mehr mit der trickreichen Vortäuschung des Lebendigen, sondern beginnt damit, Geschichten der Kunst jenseits schöner Repräsentationen direkt durch das Lebendige zu erzählen, oder sich erzählen zu lassen.
Das „Micromondiale“, das bislang den Glanz und die Ewigkeit der Werke störte, wird zum Protagonisten einer Kunst, die den Menschen und seine Kultur samt Technologie, Politik und Ökonomie als Teil der Biosphäre versteht. Dieser neue Blick auf das Mikrobiom unseres Planeten schärft die Fragen nach materiellen Ressourcen, Energie und Information, unseren Umgang mit ihnen und die sozialen Bedingungen ihrer Verteilung und Zirkulation. Biologische Stoffwechselkreisläufe verbinden sich mit künstlerischen Prozessen und bilden den Keim politischer und ökonomischer Enzyme für metabolische Erzählungen.
Ästhetisch und epistemisch steckt das Metabolische voller Überraschungen, da nicht alleine menschliche Erwartungen, Ängste, Wünsche oder Visionen am Werk sind. Letztendlich führt dies vielleicht auch zum Bewusstsein, dass unser Selbstbild einer Revision bedarf und wir nicht länger als souveräne Individuen agieren. Der Blick in unser biologisches Mikrobiom verändert auch unser „intellektuelles Mikrobiom“ und damit das, was wir bislang als Ich und genuin menschlich für uns beanspruchten. Stehen wir womöglich an der Wende zu einem postindividualistischen Zeitalter?
Um Geschichten über die Welt zu erzählen, braucht es Erzählweisen, die das Symbolische erweitern. Und das heißt heute: Es braucht über Symbole hinaus „Metabole“. Aus dieser Einsicht wächst das Verlangen nach einem Narrativ der Kunst, das die Welt selbst zum oder besser: ins Erzählen bringt. Daraus quellen Geschichten, die nicht länger Ideologien gehorchen und uns von der Illusion befreien, uns selbst und unser Handeln als außerhalb der Natur stehend zu betrachten, oder alles „framen“ zu können.
Wenn Kunst heute mit Natur, Ökonomie und dem Politischen neue Allianzen knüpft, geht es um das Leben und Überleben, woraus sich die kurze Formel für eine planetare Erzählung ableitet: Kunst ist Leben und Leben ist Metabolismus.