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Essays
In der Spinnstube von Adolf Muschg

Streitbar ist Adolf Muschg allemal, dennoch zählt er zu den wichtigsten Schweizer Schriftstellern der Gegenwart. Nun erscheinen "Versuche und Reden" aus den Jahren 2002 bis 2013. Für ihn das wichtigste an der Literatur: das Staunen.

Von Astrid Nettling |
    Der damalige Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, aufgenommen während der Pressekonferenz am Freitag (20.05.2005) in Berlin.
    Der ehemalige Präsident der Akademie der Künste, Adolf Muschg, veröffentlicht nun - vor allem nach seiner Amtszeit entstandene - Essays. (picture alliance / dpa / Stephanie Plick)
    "In der Spinnstube, wenn irgendwo, müßte sich der Schriftsteller am rechten Ort fühlen, denn hier wird seinem Hauptgeschäft vorgearbeitet, dem Weben von Texten – eine Tautologie, denn Texte sind Gewebe."
    In einer Spinnstube fängt es denn auch an. Genauer mit dem Bild einer Spinnstube – mit Diego Velázquez' berühmtem Gemälde "Las Hilanderas – Die Spinnerinnen", das den mythischen Wettstreit zwischen der kunstfertigen Weberin Arachne und der göttlichen Weberin Athene darstellt.
    Mit einer grandiosen Explikation dieses Bildes – gerade so, wie man ein Gewebe auseinanderfaltet – führt Adolf Muschg seine Leser mit seinem ausführlichen Einleitungsessay "Die Spinnerinnen" zugleich in die eigenen Textarbeiten ein. Dabei gibt er ebenso einen Einblick in die eigene Spinnstube, wo all die thematischen Fäden gesponnen und möglichen Motive und Ansichten gesammelt werden, die er von Fall zu Fall zu Texten verwebt. Etwa zu den einundzwanzig Essays, die er nun anlässlich seines achtzigsten Geburtstags unter dem Titel "Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002-2013" zusammengestellt hat.
    "Sehen was noch keiner gesehen hat", lautet einer der Essays – ein passendes Leitwort zugleich für die ganze Sammlung. Als Bedingung dafür gilt seit je das Staunen, dem, so Muschg, "ein dürres Blatt im Rinnstein so erstaunlich (ist) wie ein Sternbild am Firmament". Aus solchem Staunen speist sich für ihn ebenso die Literatur, speist sich die bildende Kunst und speist sich gleichermaßen deren Einspruch gegen die fraglose Selbstverständlichkeit dessen, was der Fall ist. Denn um die Welt zu zeigen, wie sie ist, genüge Realismus nicht. "Dazu gehört Möglichkeitssinn", hält Muschg mit einem Wort Robert Musils dagegen.
    Anders gesagt: dazu gehört Offenheit für das noch nicht Gesehene und Gesagte. In seinem Essay "Die Alchemie der Wörter" erkundigt er dies anhand des Grimmschen Wörterbuchs mit seinen längst dem Vergessen anheimgefallenen Wörtern. Zwar führe dieses "Labyrinth der Wörter" auf den ersten Blick in die Sprachvergangenheit, schreibt Muschg, doch wenn man die Offenheit besitze, sich unerschrocken in das Labyrinth hineinzuverirren, könne man entdecken, "wie viel Gegenwart und Zukunft sich in den gewundenen Gängen verbirgt".
    Überhaupt kennzeichnet eine solche Unerschrockenheit die Durchführung seiner Essays. Oder um im Bild zu bleiben: den Gang eines "Homme de lettres" durch die gewundenen Gänge unserer abendländischen Geistestradition und digitalisierten Gegenwart, der ohne einen Zu- und Ausgang sichernden Ariadnefaden lediglich "ihre labyrinthischen Verhältnisse nachzeichnen" kann. Die einundzwanzig Essays – zu unterschiedlichen Anlässen entstanden – bilden dies präzise ab.
    Egal ob es neben der Kunst um die, so Muschg, "harte Materie" wie die Frage europäischer Identität geht, um Toleranz, Bildung, kulturelle Evolution, um Leitkultur, Nachhaltigkeit, den Karikaturenstreit oder um das Tier in unserer abendländisch-christlichen Kultur, stets führt Muschg den Leser unerschrocken in das Labyrinthische unserer Wirklichkeitsverhältnisse hinein. Unerschrocken genug, um auf fadenscheinige Orientierungshilfen und zeitgeistdiktierte Auswege zu verzichten. Unerschrocken genug, um sich gleichwohl mit dem Erschreckenden oder zumindest Beklagenswerten dieser Verhältnisse zu konfrontieren und berührbar zu bleiben für die Forderung, es nicht dabei zu belassen, sondern in den gewundenen Gängen unserer Wirklichkeit ebenso dem darin verborgenen Möglichen nachzuspüren. So wie es für den Schriftsteller Muschg die Kunst immer schon getan hat.
    "Sie – wer sonst? – kann uns zeigen, was möglich ist – das Schlimmste und das Wunderbarste. Diese Möglichkeitsform ist unser Stoff, unser Zeug zu träumen, wie es in Shakespeares Sturm heißt: In der Kunst wird der Mensch sich selber ähnlich, denn auch wir 'are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded by a sleep.'"
    Adolf Muschg: "Im Erlebensfall. Versuche und Reden 2002-2013"
    Verlag C.H.Beck, München 2014, 310 Seiten, 22,95 Euro