Dichter und Denker, so leicht nimmt man die Worte in den Mund, und so schwer scheinen sie sich heute miteinander zu vertragen. Da ist zum einen das romantische Erbe, aus dem ihre Verwandtschaft herrührt, dass nämlich Poesie und Erkenntnis ein Geschwisterpaar sei, und da ist zum andern die moderne Ausrichtung auf Fachleute und Experten, die nach ebenso hundertprozentigen Schriftstellern wie Philosophen fragt, aber dichtende Denker oder philosophierende Dichter eher als Dilettanten verdächtigt, als weder Fisch noch Fleisch. Gerade in Deutschland ist man darin heute sehr streng, trotz des eigenen romantischen Erbes, und obwohl man ebenso überzeugende Beispiele von Dichterdenkern und Denkerdichtern hat, wie etwa Frankreich, wo der Esprit des Essayismus aus der eigenen Tradition nach wie vor geschätzt wird. So gibt es nicht nur einen Jean-Paul Sartre, sondern auch einen Friedrich Nietzsche, nicht nur einen Voltaire, sondern auch einen Gotthold Ephraim Lessing, usw.
Der Wiener Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk hat sich in seinen Studien diesem Zwischenraum von Denken und Dichten angenommen, ausgehend von dem Stifter der essayistischen Tradition: Michel de Montaigne. In seinem neuen Buch geht er vor allem von der Ungleichheit des Geschwisterpaares aus, und zwar von Philosophen, die selbst nie fiktional geschrieben haben und sich doch zur Literatur äußerten, und von Dichtern, die selbst keine philosophischen Essays veröffentlichten und doch ein Interesse an der Philosophie hatten. So stellt er etwa Adorno und Eichendorff gegenüber, Schelling und Cervantes, Benjamin und Kafka. Dazwischen reihen sich dann durchaus Gestalten ein, die den Zwiespalt oder die Übereinkunft von Dichten und Denken verkörpern, wie etwa Denis Diderot, Søren Kierkegaard, Robert Musil, Hermann Broch und andere. Der Autor meint selbst dazu:
"In diesem Buch, das auf eine Vorlesung zurückgeht, ging’s mir ganz genau darum, wie gehen Philosophen, die sozusagen von der Erkenntnisfähigkeit der Literatur, der Kunst überzeugt sind, wie gehen die mit Literatur um, wie verwenden sie sie, um sozusagen ihre eigene Philosophie zu untermauern, weiterzuentwickeln, zu illustrieren. Also mich interessierte dieses Verhältnis, und ich denke, das beidseitig instrumentalisierend ist - das auf der einen Seite Literaten oder Künstler in den Beständen der Philosophen plündern und umgekehrt. Interessant an den Philosophen finde ich natürlich, dass sie auf der einen Seite sehr weitreichende, tiefschürfende Interpretationen von zentralen literarischen Texten liefern, aber an einem Punkt doch sehr häufig eine bestimmte Eigenart des Literarischen verfehlen, das ja in klassischer oder strenger Philosophie auch immer verdächtig war, nämlich die Mehrdeutigkeit, die Paradoxie, dass man eben nicht eindeutig sagen kann, was ein literarischer Text wie von Kafka oder auch der Don Quijote bedeuten kann.“
Der Vorlesungscharakter der Texte macht sie sehr zugänglich und empfiehlt das Buch beinahe als Einführung in die Thematik. Zusammenfassende Thesen oder Auflistungen werden im Text sogar schematisch wiedergegeben, fast so, als wären sie einer Powerpoint-Präsentation entnommen - was auf den ersten Blick ernüchtern mag, aber der Klarheit und Verständlichkeit der Lektüre durchaus hilft. Das Buch verführt nicht selbst literarisch, Wolfgang Müller-Funk hat es als ausschließlich kritischen Beitrag zum Thema konzipiert. Er klärt damit sogleich seine eigene Position in dem Verhältnis von Dichten und Denken, die deutlich dem Denken entspricht – aber weniger einem philosophischen als einem der literarischen Kritik. Denn er betrachtet auch philosophische Texte vielfach als Narrative, als Erzählformen, wie etwa Hegels Phänomenologie des Geistes im Muster eines Bildungsromans. Am Spannendsten wird es schließlich da, wo Archetypen in Literatur und Philosophie gleichermaßen hineinspielen, etwa die Figur des Don Juan, des ewigen Verführers, wie sie bei Molière, Kierkegaard und vielen anderen auftaucht. Den Don Juan vergleicht Müller-Funk mit einer anderen Grundfigur, dem Werther:
"Don Juan ist ja sozusagen derjenige, der hungrig ist nach Liebe und Hingabe, aber es ist immer der Andere bzw. die Andere, die sich hingeben soll. Und in dem Augenblick entzieht er sich ja genau dieser Liebe. Das ist ja sozusagen der Trick, wo die Liebe von der Macht überschrieben oder ausgelöscht oder neutralisiert wird. Es gibt natürlich in der Geschichte von Don Juan eine Reihe von interessanten Varianten, die dann am Ende damit enden, dass Don Juan selber seines Tuns leid wird, dass er melancholisch wird, bei dieser merkwürdigen Verführungskunst, bei der es ja immer darum geht, wie gesagt, von dem Anderen Liebe potenziell zu bekommen, aber keine zu geben, sondern sich zu entziehen. Und der andere Pol wird von Werther verkörpert, der sozusagen diese Liebe gibt, auch ohne sie zu bekommen, dessen Liebe auf perverse oder paradoxe Weise gerade darin begründet ist, dass er diese Liebe gibt, weil er sie vielleicht auch nicht zurückbekommt. Diese Ungleichheit macht ihn ja aus einer gewissen Perspektive so groß, und daher könnte man sagen, das sind sozusagen negative Folien, die man aufeinander ablichten könnte, und das sind natürlich auch Archetypen, das muss man schon auch mal sagen, in Zeiten der Genderstudies, Selbstbilder, Fremdbilder sozusagen, des männlichen Eros.“
Don Juan und Werther sind nach wie vor beliebte Figuren, auch in der Gegenwartsliteratur. An zwei Beispielen zeigt der Autor, dass sein literaturhistorischer und philosophisch geschulter Blick ihn auch zu einem kritischen Leser macht, etwa im Fall von Peter Handkes Adaption des Don Juan unter dem Titel Don Juan (erzählt von ihm selbst) und Ulrich Plenzdorfs Anverwandlung von Goethes Werther, benannt Die neuen Leiden des jungen W.:
"Es gibt einige Dinge von Peter Handke, die ich schätze, und einige nicht. Und der Don Juan gehört eben nicht so sehr dazu, weil er eigentlich diese romantische, diese Position des Don Juan, und zwar die klassische Position des Don Juan, der sozusagen romantisch überhöht, in dem Sinn, dass alle Frauen ein bissel was von diesem Don Juan haben, dass er eigentlich die Frauen ungeheuer liebt – das scheint mir eine sehr vorkritische Auseinandersetzung mit dem Don Juan-Stoff zu sein, die auch die kritischen Überschreibungen des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zur Kenntnis nimmt und die auch nicht den Grundplot zur Kenntnis nimmt, dass es ja nicht so sehr um die überwältigende Liebe von Frauen geht, sondern es darum geht, Liebe angeboten zu bekommen, die man, im Grund genommen, nicht braucht, nicht haben will, weil es ja nur um das männliche Superioritätsgefühl geht und eigentlich nicht um die Liebe. Und das scheint mir in dieser Don Juan-Version von Handke zu kurz zu kommen. Plenzdorfs Buch hatte eine politische Funktion in der untergegangenen DDR, ich hab das als Student sogar noch gelesen, fand ich ganz lustig, und dass jetzt der Ehemann so ein tüchtiger SED-Aufsteiger, Bürgeraufsteiger ist, ist auch nicht schlecht, aber es bleibt sozusagen in vielen Nuancen und Feinheiten, im Grund genommen, hinter dem Wertherstoff zurück. Es gibt ihm auch nicht das, was der Philosoph Roland Barthes ihm sozusagen durch seine feinsinnigen philosophischen Reflexionen gegeben hat. Und unter diesem Vergleich kommt halt der Plenzdorf nicht so toll, wenn Sie so wollen, weg.“
Der rote Faden, mit dem Wolfgang Müller-Funk seine Betrachtungen zu Literatur und Philosophie bündelt, ist der des Sag- und Unsagbaren. So beginnt er sein Buch mit Heideggers Beschwörung eines, wie jener es selbst nannte, offenbarenden Sprechens der Dichtung, und endet er mit Gedanken von Emmanuel Levinas zur Lyrik von Paul Celan, wie dessen Worte die Sprache nicht mehr enthüllen, sondern das Unsagbare mit ihr verdecken und sich nur indirekt, in der Unzugänglichkeit, noch finden. Dieser Bogen ist mehr als ein konzeptuelles Verhältnis, er spannt zugleich die Frage nach einer Ethik des Ästhetischen mit ein. Es ist diese Frage, die für Wolfgang Müller-Funk den Unterton im Wechselspiel von Dichtung und Philosophie bestimmt, und die sein Band Die Dichter der Philosophen einem mit auf den Weg gibt.
Wolfgang Müller-Funk: "Die Dichter der Philosophen - Essays über den Zwischenraum von Denken und Dichten", Wilhelm Fink Verlag, 218 Seiten, 26,90 Euro.