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Estland
Nationalmuseum auf der Landebahn

Die Esten haben ihrer Geschichte mit dem neuen Nationalmuseum in Tartu ein Denkmal gesetzt. In dem futuristischen Bau mitten auf der Landebahn einer ehemaligen sowjetischen Militärbasis können Besucher finno-ugrische Stammesgeschichte, traditionelle Gesänge und Handwerkskunst sinnlich erleben.

Von Cornelius Wüllenkemper |
    Das moderne Nationalmuseum in Tartu, Estland
    Das moderne Nationalmuseum in Tartu, Estland (EPA/ Valda Kalina)
    Beim Rundgang durch das "Eesti Rahva Muuseum" stößt man immer wieder auf sie: Die Gesänge der livländischen Völker im Norden Europas. Bei Großversammlungen, auf denen die traditionellen Lieder angestimmt wurden, sangen die Esten Ende der 1980er-Jahre gegen die sowjetischen Besatzer und für ihre nationale Unabhängigkeit.
    Im Tartuer Stadtteil Radi befand sich damals die größte sowjetische Militärbasis in Ostereuropa. Genau hier, auf der ehemaligen Landebahn für sowjetische Kriegsflugzeuge steigt nun das neue Estnische Nationalmuseum empor wie eine gigantische Rampe aus Glas. Der futuristische Museumsbau ist 355 Meter lang und 40 Meter breit, überspannt zwei Seen und endet schließlich in einer Höhe von 15 Metern. Gigantoman für ein Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern meinen die einen, einfach nur atemberaubend schön finden die anderen. Der Ort ist jedenfalls an Symbolik kaum zu überbieten, glaubt Tsuyoshi Tane, einer der Architekten.
    Spuren aus der Zeit vor der Sowjetunion
    "Ein Museum über die nationale Identität der Esten auf einer ehemaligen Militärbasis zu bauen, das war eine Herausforderung. Die Menschen in Tartu haben über Jahrzehnte tagtäglich mit dem ungeheuren Lärm startender Jagdflugzeuge gelebt. Und natürlich gab es das Bedürfnis, diesen Ort so schnell wie möglich zu vergessen. Unser Bau steht mitten auf der Landebahn, einer zwei Kilometer langen Betonpiste, die die Esten jetzt nutzen können, wie sie wollen. Die junge Generation kann diesem Ort eine ganz neue Bedeutung geben."
    Auch Spuren aus der Zeit vor den Sowjets sind noch zu entdecken. Bis ins frühe 20. Jahrhundert stand hier der Hof der deutsch-baltischen Kaufmannsfamilie von Liphart. Die Lipharts trugen eine umfangreich Sammlung estnischer Kunst und Kultur zusammen und stellten sie im Herrenhaus aus – das erste estnische Nationalmuseum. Die Familie hatte es durch den Handle mit Holz und Schnaps zu Reichtum gebracht. Nur wenige Meter vom neuen Museum entfernt stehe bis heute die Überreste der Vodka-Destillerie der Lipharts.
    Wer den vierzig Meter breiten, glasüberdachten Eingang des neuen Museums passiert hat, gelangt durch eine nicht weniger gigantische Vorhalle in die eigentlichen Ausstellungsräume. Im Untergeschoss steigen die Besucher in die finno-ugrische Stammesgeschichte des Nordbaltikums hinab und betreten ein detailgetreu nachgebautes historisches Dorf inklusive Klangatmosphäre, Holzhütten und Dorfplatz. Im Erdgeschoss des Museums schreitet man auf einem Zeitstrahl an der Geschichte der estnischen Nation entlang.
    Ausgrabungen und traditionelles Kunsthandwerk
    Von frühzeitlichen ethnologischen Ausgrabungen gelangt man zum traditionellen Kunsthandwerk, mit Haushaltswaren, Webkunst und Volkstrachten. So bestaunt man die so genannten Bärenhosen, also wollene Überhosen für Kinder, einfache Anzüge für die Männer und bunte, aufwendig verzierte Trachtenkleider für die Frauen, samt Kopfbedeckung, Schmuckbändern und Halsketten, die man bis heute zu besonderen Anlässen trägt.
    Ein paar Schritte weiter stößt man in der Abteilung über den langen Freiheitskampf der Esten unter anderem auf Transparente der Studentenbewegung gegen die deutschen Siedler. Tondokumente künden wenige Schritte weiter vom Alltag unter der sowjetischen Besatzung von 1945 bis 1991, die bis heute einen zentralen Platz in der Erinnerung der Esten einnimmt.
    "Unsere kulturelle Identität basierte bisher sehr auf der ländlichen Volkskultur. In dem neuen Museum verfolgen wir ein neues Konzept. In den vergangenen 20 Jahren haben wir viel über das 20. Jahrhundert geforscht, über die sowjetische Periode und über die Unabhängigkeit in den 1990er Jahren. Den Teil über die Sowjets haben wir 'Parallelwelt' genannt, weil es um das Alltagsleben der Esten geht und weniger um Ideologie. Wir zeigen einen offenen Blick auf das Leben der Menschen in dieser Zeit."
    Sagt die junge Estin Agnes Aljas, eine der Kuratorinnen des neuen Museums. Die Ausstellung rückt den Alltag der Menschen in den Mittelpunkt und verzichtet auf eine politische Bewertung. Auf Bildschirminstallationen kommen deswegen auch die Esten selbst zu Wort und erzählen, was sie unter dem Begriff "Freiheit" verstehen. Eines der letzten Exponate des Rundgangs steht für den Stolz der Esten auf ihren Erfindungsreichtum. Es ist der Bürostuhl von Ahti Heinla, dem Erfinder der Kommunikationsplattform Skype. Wir hatten die Idee, und die Schweden hatten das Geld, sagen die Esten mit dem landestypischen Augenzwinkern. Estland ist heute Europas digitaler Vorreiter. Gewählt wird hier neuerdings per SMS. Das Neue Nationalmuseum, dieser beeindruckende Bau ganz aus Glas, sieht gerade nachts aus wie ein großes Ufo, das soeben in Tartu gelandet ist. Die Zukunft, so viel steht fest, hat in Estland längst begonnen.