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Estland
Zwischen digitaler Moderne und Sowjetvergangenheit

90 Prozent der Bürger geben ihre Steuererklärung digital ab, ein Drittel wählt online und auch in Sachen Bildung setzt Estland auf die Digitalisierung. Das Recht auf Internet ist sogar in der Verfassung verankert. Doch trotz aller Moderne lässt das Land seine Sowjetvergangenheit nicht los.

Von Michael Olmer und Henrike Busch |
    Die Nationalflagge von Estland
    Estland erlangte vor 26 Jahren seine Unabhängigkeit von Russland (picture-alliance / dpa / MAXPPP / Jp Amet)
    Wer frisch in Tallinn landet, der weiß oft schon an der Trambahnhaltestelle am Flughafen nicht mehr weiter. Denn es ist weit und breit kein Ticketautomat zu sehen, auch einen Schalter gibt es nicht. Da die Esten in der Tram einen aber freundlich herein winken, steigt man ein. Und lernt: Der Ticketautomat ist das Smartphone. Kurz die App heruntergeladen und schon ist man ein zahlender Fahrgast. In Deutschland noch die Ausnahme, in Estland ist seit vielen Jahren Alltag.
    "E-estonia" - "Digitales Wunderland" – Das nördlichste baltische Land, mit seinen gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern ist ein digitaler Vorreiter in Europa. Das Land wirkt wie ein Start-up: digital, gesellschaftlich und auch geopolitisch. In seinen heutigen Grenzen vor 26 Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden, seit 1991 wieder unabhängig:
    "Als wir unabhängig wurden, waren wir ein sehr kleines und sehr armes Land, weil die Wirtschaft den Bach runter ging. Wir hatten kein eigenes Budget, weil das Staatsbudget bis dahin in Moskau lag. Da stellte sich die Frage: Wie baut man ein Land auf, mit all den Ministern und Ministerien?
    Also war die Computerisierung eine Lösung, um die Anzahl der Menschen, die man einstellen müsste, gering zu halten. Einfach weil man sie nicht hatte."
    Digitalisierung als Notlösung
    Kristina Kallas, Direktorin des Narva College, einer Außenstelle der Universität Tartu. Internet und Technik als eine Notlösung, vor allem als eine kostengünstige. Einer der ersten großen Schritte ist im Jahr 2000 die digitale Steuererklärung, gerade für die ältere Generation anfangs eine Hürde.
    Eine Hand bedient eine Computermaus.
    Estland eines der am besten mit Internet ausgestatteten Länder der Welt (AFP / Robyn Beck)
    "Die Menschen waren sehr verwirrt. Meine Eltern zum Beispiel hatten vorher nie einen Computer auch nur angefasst. Wie kann es sein, dass die Regierung einen jetzt dazu zwingt, die Steuern online einzureichen, nicht mehr im Amt, wie früher?
    Die Antwort der Regierung war: Wenn ihr eure Steuern online macht, dann bekommt ihr sie innerhalb eines Monats zurück. Macht ihr sie auf Papier, dauert es ein halbes Jahr."
    Estland, der papierlose Staat
    Es wirkt: Mittlerweile geben über 90 Prozent der Bürger ihre Steuererklärung digital ab. Das gibt es auch in anderen Ländern. Doch Estland geht einen Schritt weiter, wird zum papierlosen Staat, zum ersten Land weltweit, in dem auch online gewählt werden kann. und zwar mit Hilfe der elektronischen Bürgerkarte. Sie sieht aus wie eine Kreditkarte, ist Pass, Krankenkassenkarte und Bibliotheksausweis in einem.
    Luftaufnahme von der estnischen Hauptstadt Tallinn.
    90 Prozent der Esten geben ihre Steuererklärung online ab (picture alliance / dpa / Mika Schmidt)
    "Das ist sehr sehr einfach. Ich muss nur hier den Namen der Person, die ich wählen möchte raussuchen und anklicken."
    Raul Rikk. Cybersecurity-Experte für die Nichtregierungsorganisation E-Governance Academy. Er gibt gerade seine Stimme für die Kommunalwahl ab. Wie jeder Wähler muss er dafür entweder ein kleines Kartenlesegerät an seinen Computer anschließen oder sich – und das ist noch einfacher- mit seinem Smartphone vor und nach der Stimmabgabe per PIN identifizieren.
    "Mit der PIN unterschreiben wir immer digital. Damit bestätige ich jetzt, dass ich auch die Person bin, die da wählt."
    Mittlerweile wählt ein Drittel der Esten im Internet, vor allem Städter und junge Menschen. 70 Prozent der Esten gehen indes nach wie vor lieber ins Wahlbüro. Trauen sie dem System doch nicht? Anfang September jedenfalls hat ein internationales Forscherteam erklärt, beim elektronischen Pass eine Sicherheitslücke gefunden zu haben. Den Cybersecurity-Experten lässt das ruhig:
    "Es ist kein riesiges Sicherheitsrisiko. Man kann immer sagen, dass unter bestimmten Umständen, wenn jemand etwas Falsches tut, eine theoretische Gefahr besteht, aber deshalb nutzen wir ja so viele verschiedene Sicherheitsstufen und so weiter. Wir reduzieren das Risiko auf ein Minimum, damit wir es nutzen können."
    Auf politische Überraschungen vorbereitet sein
    Um Überraschungen einen Schritt voraus zu sein, gibt es das Baltic Defense College, die Verteidigungsakademie in Tartu, einer Universitätsstadt im Süden Estlands. Offiziere der drei baltischen Staaten aber auch anderer Nato-Partner werden hier geschult. Nach dem Konflikt in Georgien, der Ukrainekrise und insbesondere der Annexion der Krim im Jahr 2014 werden hier alle möglichen, militärischen Szenarien durchgespielt.
    Estnische Soldaten in einem Panzerfahrzeug bei einer NATO-Übung nahe der russischen Grenze.
    Estnische Soldaten in einem Panzerfahrzeug bei einer NATO-Übung nahe der russischen Grenze. (AFP / Raigo Pajula)
    Hier sitzen Vertreter der drei baltischen Staaten, Litauen, Lettland und Estland an einem Tisch. Auch wenn viele Esten den Kopf schütteln, wenn von "dem" Baltikum die Rede ist, da sie sich - auch wegen der Sprache - eher zu Finnland und damit zu Skandinavien dazugehörig fühlen:
    "Sie können sich so zugehörig fühlen wie sie wollen, aber Fakt ist, sie gehören nun mal zu uns. Das ist wie eine Familie. Man kann seine Freunde vielleicht aussuchen, aber nicht die Familie."
    Asta Maskaliūnaitė. Sie leitet am Baltic Defence College den Bereich Politik und strategische Studien, kommt selbst aus Lettland. Es gibt einen wunden Punkt, der für die militärische Sicherheit der drei Länder entscheidend ist: die Lücke zwischen Polen und Litauen in Suwalki. Sie trennt Weißrussland von der russischen Enklave Kaliningrad:
    "Das sind 104 Kilometer und der einzige Streifen Land, den die baltischen Staaten mit dem Rest Europas verbinden, nur 104 Kilometer. Also das ist definitiv ein Schwachpunkt.
    Wenn man auf die Landkarte schaut, dann sieht man, sollte dieser Korridor jemals durchtrennt werden, dann sind wir von der Welt abgeschnitten."
    Das russische Zapad-Manöver - zu Deutsch "Westen" - sorgt im September 2017 und den Monaten zuvor gerade wegen seiner unmittelbaren Nähe zu Polen und Litauen für Verunsicherungen und Spekulationen. Die Nato-Seite vermutet 100.000 russische Soldaten an der Ostgrenze des westlichen Bündnisses, während die russische Seite knapp 13.000 Streitkräfte meldet. Derzeit prüfe man die eigenen Beobachtungen, sagt Akademiedirektor Zdzislaw Sliwa:
    "Im Moment sehen wir keine Bedrohung, dass es eskaliert. Wir verstehen uns nicht als das erste Tier, das im Wald gefressen wird. Aber wir sehen, dass wir aufmerksam sein müssen in dem Sinne, dass die Ambitionen eindeutig waren. Die Nato-Einheiten sind hier, um zu demonstrieren, dass wir eine Familie sind. Sie sind nicht hier, um zu kämpfen. Denn im Kampf müsste man sich anders aufstellen."
    Erst im Frühjahr hat die Nato ihre Truppen verstärkt. Mit 4.000 zusätzlichen Soldaten ist das Bündnis jetzt in Polen und den drei baltischen Staaten vertreten. Das Bataillon in Estland steht unter der Leitung von Briten und Franzosen, gleich zweier Atommächte.
    Estland hat nur wenige Einnahmequellen
    Estland verfügt außer viel Wald und Ölschiefer über keine bedeutenden Rohstoffvorkommen, auch deshalb setzt man so konsequent auf die Digitalisierung - es ist eine der wenigen Einnahmequellen. Der Staat will Hort für junge Unternehmen sein und ist es auch: Über 400 Start-ups gibt es heute. Bei einer Bevölkerung von 1,3 Millionen ist das viel.
    Aufahme auf ein Stück Wald vom Wasser aus, Impressionen vom Paddeln im Müritz-Nationalpark 
    Da Estland kaum über Rohstoffe wie Gas oder Öl verfügt, setzt das Land auf innovative Start-ups und Digitalisierung als Einnahmequelle (Deutschlandradio / Silke Hasselmann)
    Ein Ereignis von vor über zehn Jahren spornt bis heute viele junge Esten an, etwas Eigenes auszuprobieren: die Erfindung von Skype. Der Kopf hinter der Telefonie-Software war und ist der Programmierer Ahti Heinla. Der Sogeffekt von Skype hat auch mit der Größe des Landes zu tun, sagt er:
    "Inspiration spielt eine große Rolle. Man traut sich mehr, wenn man sieht, dass der Nachbar Erfolg hatte. Sobald dein Klassenkamerad oder jemand aus deinem Land, der deine Sprache spricht, ein erfolgreiches Unternehmen gründet, glaubt man auch, dass es tatsächlich klappen kann."
    Schulen setzen auf die digitale Welt
    Die digitale Welt macht auch vor den Schulen nicht halt - im Gegenteil. Seit 1999 sind sie alle ans Internet angeschlossen. In Schulen, wie dem deutschen Gymnasium in Tallinn, gibt es Programmieren und Robotik als Wahlfächer und genug Tablets und Laptops für insgesamt vier Klassen.
    Auch wenn die Lehrer selbst entscheiden können, ob sie zu analogen oder digitalen Mitteln greifen, um eines kommt keiner mehr herum: das digitale Klassenbuch:
    "Zu Beginn der Geschichtsstunde zum Beispiel trägt der Lehrer da ein, wer fehlt. Danach die Noten, es steht alles im System. Und wenn die Stunde vorbei ist, dann bekommen wir die Hausaufgaben auch über das System."
    Das Bild zeigt ein Themenfoto zu Neuen Medien: Ein Schüler verschiebt App-Icons auf einer digitalen Projektionsfläche.
    Schon früh lernen Kinder in Estland den Umgang mit digitalen Medien (epd/Jens Schulze )
    Der 16-jährige Vladismlav hat sein Klassenbuch immer dabei, in seinem Smartphone. Technik ist in dem Land, in dem freier Zugang zum Internet in der Verfassung verankert ist, nicht mehr wegzudenken, deshalb müssen die Kinder damit umgehen lernen - auch kritisch. So die allgemeine Meinung in Estland.
    Folgen einer fehelnden Integration russischer Esten
    Im digitalen Eifer und beim Aufbau eines im Grunde neuen Landes, ging eine Sache indes unter: die Integration der russischsprachigen Esten. Immerhin etwa ein Viertel der Bevölkerung. Die Folgen sind bis heute spürbar - auch im Schulsystem. Denn die Russen, die im Rahmen von Stalins Programm zur Rekrutierung von Arbeitskräften nach Estland kamen, wohnten in eigenen Stadtvierteln, hatten eigene Kindergärten, Schulen und Medien. Strukturen, die bis heute nachwirken.
    Nur zweieinhalb Autostunden von der Hauptstadt Tallinn entfernt liegt Narva im äußersten Osten des Landes, an der Grenze zu Russland. Hier enden die EU, der Schengenraum und das Nato-Gebiet. Sankt Petersburg ist nur noch 150 Kilometer entfernt. Rund 97 Prozent der Bevölkerung von Narva sind russischsprachig. Die ältere Bevölkerung spricht überhaupt kein Estnisch. Die russischsprachige Minderheit, sie ist in dieser Region deutlich in der Mehrheit.
    Das Logo der Morningshow des russischsprachigen estnischen Fernsehsenders ETV+
    Ein russischsprachiger TV-Sender soll bei der Integration von russischstämmigen Esten helfen (Deutschlandradio, Benedikt Schulz)
    Es ist eine leise Stadt: Graue sowjetische Hochhäuser prägen das Stadtbild; es gibt kein Zentrum, wo sich das moderne Leben abspielt. Allein eine Promenade am Fluss unterhalb der stattlichen Burg Herrmannsfeste lädt zum Spazierengehen ein. Der Blick immer auf die Zwillingsstadt Iwangorood gerichtet, die sich nur wenige Meter entfernt auf der anderen Flussseite aufbaut. Dort beginnt Russland.
    Ein Ort, der sich zum Treffpunkt zumindest für junge Intellektuelle entwickelt hat, ist das Narva College von Kristina Kallas. Gegründet 1999 - zunächst als Übergangsprojekt für Schüler gedacht, die im neuen Estland keine russischsprachige Universität mehr vorfanden. Estland war von nun an ein unabhängiger Staat und Russisch nicht mehr die Amtssprache:
    "Es ist so, dass die russisch-sprachigen Esten mit dem Verlust der Sowjetunion auch ihre Identität verloren haben. Weil als die Sowjetunion verschwunden ist, ist auch das Land verschwunden, mit dem sie sich am meisten identifiziert hatten. Russland ist nicht ihr Land. Für die meisten, die hier geboren wurden, war Russland nie ihr Land."
    Heute ist das anders. Wer sich auf den Straßen von Narva umhört und auch unter den Studenten, der merkt schnell, die meisten können sich mit dem neuen Estland identifizieren, und mit der EU, zu der Estland seit 2004 gehört. Auch wenn viele die Wurzeln ihrer Eltern nicht vergessen:
    "Russisch, großteils. Ich lebe gerne in Estland und ich mag die estnischen Traditionen und die Kultur, aber ich denke 50:50."
    "Wir sind Esten aber die russische Kultur spielt eine große Rolle, weil meine Eltern sind aus Russland, deswegen bin ich auch irgendwie russisch, aber in meinem Pass steht: Estnisch."
    Von Sowjetbürgern zu Staatenlosen
    Viele von ihnen haben jedoch keine estnische Staatsbürgerschaft, sie besitzen den Grauen Pass. Eingeführt wurde er nach 1991 für ex-sowjetische Russen. Sie bekamen dann keinen estnischen Pass, wenn sie den Sprachtest nicht bestanden. Das betraf viele. Einige entschieden sich für den russischen Pass, viele dagegen. Sie wurden im jungen Estland von Sowjetbürgern zu Staatenlosen, erklärt Kristina Kallas.
    "Eigentlich sollte es eine temporäre Lösung sein, weil die sowjetischen Pässe abgelaufen sind. Aber jetzt ist es tatsächlich eine permanente Lösung und Eltern geben manchmal ihren Kindern sogar lieber diesen grauen Pass, weil man damit freien Zugang zur EU hat und aber auch dieselben Rechte, wie ein russischer Staatsbürger in Russland."
    Ein wichtiges Mittel gegen russische Propaganda
    Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 wurde viel darüber spekuliert, ob Russland mit dem Osten Estlands, dem Narva-Gebiet, ähnliches vorhabe. Und aus Sorge, dass die eigene, russische Bevölkerung einer Desinformationskampagne aus Moskau über das russische Fernsehen aufsitzt, nimmt man ein Projekt wieder in die Hand, das schon lange in der Schublade steckte: ein russischsprachiger Kanal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
    Für den parteilosen Abgeordneten Marko Mikhelson, der im außenpolitischen Komitee sitzt, ein wichtiges Mittel gegen russische Propaganda. Er erinnert an die erfundene Vergewaltigung des russlanddeutschen Mädchens Lisa:
    "Das ist ein sehr gutes Beispiel russischer Propaganda oder auch die Nacht in Köln. Ich muss sagen, dass wir wahrscheinlich nicht ganz so anfällig sind, weil wir uns daran erinnern, was zu Sowjetzeiten passiert ist, in Sachen sowjetischer Propaganda. Aber trotzdem ist es da. Und wenn sie deren Sendungen sehen, deren Nachrichten, dann ist das schmerzhaft. Da muss man sehr vorbereitet sein, sie machen es sehr klug, in dem sie sagen, ihr im Westen habt eine Gehirnwäsche abbekommen. Aber wir wissen was gut und was schlecht ist."
    Estland sollte einen Sender bekommen, der die russischsprachige Bevölkerung anspricht und ihnen dieselben Nachrichten zur Verfügung stellt, wie sie im estnischen Programm laufen. Und so ging im Herbst 2015 ETV+ auf Sendung.
    Mitverantwortlich für die Umsetzung und der heutige stellvertretende Sendechef ist Ainar Ruussaar. Sein Budget von gerade einmal 2,5 Millionen Euro ist nicht üppig, auch die Zuschauerzahlen lassen zu wünschen übrig.
    "Es ist so, dass 75 Prozent der hier lebenden Russen jeden Abend Kreml-Fernsehen schauen. Und was jetzt doch komisch ist, unser beliebtestes Programm sind die Nachrichten. Unabhängige Nachrichten."
    Das "komisch", meint der Sendechef ironisch. Denn noch immer bekommt er Emails, in denen russische Esten den Vorwurf machen, ETV+ mache Propaganda gegen Russland. Allerdings werfen auch Esten ihm vor, russische Propaganda zu machen. Beides ärgert ihn:

    "Von Anfang an haben wir keinen Anti-Propaganda-Sender aufgebaut, sondern es ist freier Journalismus. Wir könnten gar keinen Propaganda-Sender aufbauen, weil wir nach geltendem Recht als öffentlich-rechtlicher Sender handeln müssen."
    In Narva kennt man ETV+, die Stadt selbst ist oft Thema in den Sendungen, es gibt ein Regionalstudio hier. Doch auf die russischen Kanäle verzichtet man trotzdem nicht:
    "Russisches Fernsehen zeigt Nachrichten, ETV+ zeigt Nachrichten und ich finde die sehr gleich. In Estland gibt es auch Propaganda, das ist doch normal für Fernsehen und Medien überhaupt.
    Wenn sie sich unterscheiden, kontrolliere ich das noch mal im Internet. Wenn sie dasselbe erzählen, glaube ich beiden."
    Der Gegensatz der grauen Grenzstadt Narva zu pulsierenden Hauptstadt Tallinn wirkt wie ein Abbild der sozialen Ungleichheit im Land. Wer kein Estnisch kann ist abgehängt. Die meisten Russen haben einfache Jobs in der Industrie, in Narva etwa in der Ölschieferverarbeitung. Während der Finanzkrise verloren viele ihre Posten, die Arbeitslosigkeit liegt über dem Durchschnitt. Selbst für Akademiker ist es schwierig. Politikwissenschaftlerin Kallas spricht von einer gläsernen Decke:
    "Studien zeigen, dass es für die Russen eine gläserne Decke gibt. Sie zeigen, dass selbst wenn man eine gute Ausbildung in Estland erhalten hat, wenn man gut Estnisch spricht und die Staatsbürgerschaft hat, selbst dann kommt man nicht dorthin, wo die ethnischen Esten sind.
    Wir wissen die Gründe dafür nicht, die haben wir nicht untersucht. Wir wissen also nicht warum, aber dass es diese gläserne Decke gibt."
    Kultur als Chance
    Seinen persönlichen Traumjob hat Ivan Sergejev gefunden. Der Sohn russischsprachiger Eltern, studierte in den USA, heute ist er mit gerade einmal 30-Jahren Stadtarchitekt von Narva. Er will seiner Stadt attraktiver machen und besonders: Potenzial für den kulturellen Austausch hätte sie eben gerade durch die Nähe zu Russland, sagt er:
    "Es ist schließlich die Realität, geografisch und historisch, dass wir an der Grenze sind. Jetzt müssen wir lernen, wie wir das nutzen, zu unserem Vorteil. Und eben mehr als Güter hin und her zu bewegen. Ich glaube, Kultur ist eine riesengroße Möglichkeit für uns."