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ETA-Terroristen kommen nach Urteil frei

Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg müssen mindestens 50 der rund 600 in Spanien inhaftierten ETA-Terroristen vorzeitig entlassen werden. Eine Terroristin ist nun auf freiem Fuß. Für die Opfer ist die Entscheidung nicht nachvollziehbar.

Von Hans-Günter Kellner |
    "Lebenslänglich”, forderten die Demonstranten am Sonntag auf dem Madrider Kolumbus-Platz. Die Menge ist aufgebracht, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden hat, Spanien müsse mehrere Strafgegangene vorzeitig freilassen, darunter auch rund 50 Mitglieder der baskischen Terrorgruppe ETA. Einen Tag danach schüttelt Alfonso Sánchez im Büro der "Vereinigung der Terroropfer” mit dem Kopf. Er hat 1985 als Mitglied der spanischen Polizeieinheit Guardia Civil einen Anschlag überlebt:

    "Ich wünsche auch den Terroristen nicht, dass sie ihr ganzes Leben im Gefängnis verbringen, ich will nicht, dass sie misshandelt werden, und will auch keine Todesstrafe. Aber wenn das Gesetz sagt, die Höchststrafe sind 30 Jahre, dann sollen sie keinen Tag weniger im Gefängnis verbringen."

    Das Straßburger Urteil geht auf eine Klage der verurteilten Terroristin Inés del Río zurück. Sie war wegen 24-fachen Mords zu 3.828 Jahren Haft verurteilt worden. Doch länger als 30 Jahre darf niemand in Spanien inhaftiert sein. Und mit den vorgesehenen Hafterleichterungen hätte sie eigentlich schon 2008 nach 21 Jahren das Gefängnis verlassen müssen. Um solche Fälle verhindern zu können, hat Spanien den Strafvollzug geändert. Das neue Gesetz dürfe aber nicht rückwirkend angewandt werden, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun geurteilt. Inés del Río ist inzwischen wie zwei weitere Terroristen auf freiem Fuß. Die heute 55-Jährige war auch an dem Anschlag auf den Polizeibus beteiligt, in dem Alfonso Sánchez saß.

    "Ein Jahr Haft pro Mord. Ja, so sehen wir das. Man hat den Eindruck, wie niedrig ist der Preis für Mord bei uns. Es schmerzt. Weil sie zu billig davon gekommen ist. Hätte sie die 30 Jahre abgesessen, hätte ich meinen Frieden. Sie hätte ihre gerechte Strafe erfahren. Der Rechtsstaat war sehr gut zu ihnen. Aber sie waren nicht gut zu uns und auch nicht zu den Toten."

    Der heute 47-Jährige hat sich von dem Anschlag nie richtig erholt. Er sieht immer noch Bilder von brennenden Kollegen vor sich, hat den Geruch nach der Explosion in der Nase, leidet unter Konzentrationsschwierigkeiten. Heute ist er in der Organisation der Terroropfer und ihrer Angehörigen aktiv. Der Vorwurf der Organisation an die Straßburger Richter: Sie hätten sich politisch leiten lassen:

    "Mich hat erstaunt, dass sich auch der spanische Richter des Gerichtshofs für die Freilassung ausgesprochen hat. Na ja, er ist eben auch für den sogenannten Friedensprozess im Baskenland. Und mich hat auch erstaunt, dass Inés del Rio so schnell freigelassen wurde. Sonst ist die spanische Justiz extrem langsam. Aber jetzt wollte sie offensichtlich der ETA und ihrem Umfeld ihren guten Willen zeigen. Das ist für mich nicht zu akzeptieren."

    Der Vorwurf: Die Politik verhandele im Geheimen mit der ETA, die Richter hätten sich ihren Vorgaben unterworfen. Die Juristenverbände zeigen zwar Verständnis für den Schmerz, halten es aber für unvorstellbar, dass sich der Gerichtshof politisch unter Druck setzen lasse. Alfonso Sánchez fordert unterdessen, das Verfahrensrecht sollte reformiert werden. Die Urteile müssten dem tatsächlichen Strafmaß näherkommen als bisher. Den bisher werden die Strafen für jede einzelne Tat zusammengerechnet. So kommt es zu extrem langen Haftstrafen - aber nur auf dem Papier:

    "Es kann doch nicht sein, dass man die Leute zur Beruhigung der Öffentlichkeit zu mehreren Hundert Jahren verurteilt, und am Ende kommen sie nach 24 Jahren frei. Da ist mir lieber, dass die Urteile 15 oder 20 Jahre Gefängnis lauten. Jetzt ist es wie auf einem Flohmarkt, da gibt es erst einen Preis und am Ende handelt man den herunter. Das ist unseriös."

    Bis heute trägt Alfonso Sánchez eine Kapsel mit einem Medikament am Schlüsselbund, falls Angstzustände ihn wieder mal paralysieren. Das Trauma wird ihn nie loslassen. Darin sieht er den Unterschied zu den Tätern, die jetzt freikommen. Zunächst betrifft das Straßburger Urteil rund 50 ETA-Häftlinge, doch insgesamt sind noch rund 600 inhaftiert. Auch sie werden nach und nach freikommen. Nur wenige Täter haben den Kontakt zu ihren Opfer gesucht. Inés del Río wird ihn nicht aufsuchen, ist sich Sánchez sicher:

    "Sie leben nicht in Frieden mit ihren Opfern. Sie leben in Schuld mit uns. Sie machen diesen Schritt nicht, weil sie Angst vor uns haben. Hätte ich Dir dieses Leid zugefügt, müsste ich meinen Frieden mit Dir machen. Wir könnten dann miteinander sprechen. Diese Leute machen es nicht, weil sie wissen, dass sie nicht bezahlt haben, was sie uns schuldig sind."