Etel Adnan ist eine Dichterin dreier Orte: Beirut, Paris und der Gegend um den Mount Tamalpais nördlich von San Francisco sind zahlreiche ihrer stärksten Texte gewidmet. Beirut, ihrer Geburtsstadt und dem Schauplatz eines fünfzehnjährigen Bürgerkriegs, naturgemäß die meisten und intensivsten: Ihr Debütroman "Sitt Marie-Rose", das Langgedicht "Arabische Apokalypse" oder die in "Sturm ohne Wind" enthaltenen autobiografischen Aufzeichnungen sind nur einige Beispiele. Auch in Paris hat Adnan zeitweilig gelebt. Ihr Paris-Buch, das auf Deutsch unter dem Titel "Paris, Paris" bei Suhrkamp erschienen ist, gehört sicher zu den ungewöhnlichsten Werken über diese ungewöhnliche Stadt - ein philosophisch-essayistischer Erkundungsgang, der sich doch niemals von der alltäglichen, sinnlichen Wahrnehmung trennt.
"Die Rue des Canettes verwirrt mich am meisten. Ist sie eng oder weit, überfüllt oder still, feucht oder trocken, stinkt sie nach Bier oder Wein? Es gibt Straßen, die ein Rätsel bleiben. Von hier aus gehe ich dann ins Café de la Mairie im VI. Arrondissement hinüber, setze mich hin inmitten der Gerüche nach Spiegeleiern, Bier, Limonade, atme den Rauch der Gäste ein, trinke dickflüssigen Kaffee, lese eine muffige Zeitung wie Le Monde und, ja natürlich! denke an Djuna Barnes, so wie der erste Astronaut in der ersten Mongolfière ans Universum gedacht haben muss."
Musikalischer Rhythmus
Und dann wäre da noch dieser Mount Tamalpais, ein unspektakulärer, nicht sonderlich hoher Berg in Kalifornien, den sie seit vielen Jahren von ihrem Arbeitszimmer aus beobachtet, den sie, wie Paul Cézanne seine Montagne Saint-Victoire, hundertfach gemalt, und den sie auch in ihrer "Reise zum Mount Tamalpais" beschrieben hat.
"An diesem Morgen nahm ich den Zeichentisch und stellte ihn auf die Terrasse, unter die Pinien. Schatten fielen auf ein Blatt Papier. Ich versuchte, ihre Umrisse festzuhalten, aber sie zogen dahin, langsam, unablässig. Ich musste an Gehwege denken, auf denen Menschen eilen. Und der große Berg verströmte einen wilden Duft zerriebener Kräuter, ließ alles leicht und unwirklich erscheinen. (…) Einmal wurde ich vor laufender Fernsehkamera gefragt: Wer ist die wichtigste Person, die sie je getroffen haben, und ich weiß noch, wie ich antwortete: ein Berg. So entdeckte ich Mount Tamalpais im Mittelpunkt meines Daseins."
"An diesem Morgen nahm ich den Zeichentisch und stellte ihn auf die Terrasse, unter die Pinien. Schatten fielen auf ein Blatt Papier. Ich versuchte, ihre Umrisse festzuhalten, aber sie zogen dahin, langsam, unablässig. Ich musste an Gehwege denken, auf denen Menschen eilen. Und der große Berg verströmte einen wilden Duft zerriebener Kräuter, ließ alles leicht und unwirklich erscheinen. (…) Einmal wurde ich vor laufender Fernsehkamera gefragt: Wer ist die wichtigste Person, die sie je getroffen haben, und ich weiß noch, wie ich antwortete: ein Berg. So entdeckte ich Mount Tamalpais im Mittelpunkt meines Daseins."
Die tagebuchartigen Notate in "Reise zum Mount Tamalpais" wirken zuweilen wie Prosagedichte. Auch viele der in der nun vorliegenden Anthologie unter der Überschrift "Große Poeme" versammelten Texte sind ähnlich angelegt wie die meisten ihrer Prosatexte: kurze, kompakte Sequenzen, deren straffe Syntax sich auch in Verse gliedern ließe, würde ihr gedanklicher Rhythmus nicht ohnehin schon eine musikalische Lesart vorgeben.
"Die See. Sonst nichts. Gebrochene Mauern. See. Tosendes Wasser. Öl. Transparenz. Die See. Feld aufgewühlter Flüssigkeit. Ansammlung sturzbereiter Wellen auf dem Weg in die Schlacht. In die Mythologie halten Bäume Einzug, machen sich breit, werfen Schatten."
Die großen Poeme
Neben der See sind andere dieser von den Herausgeberinnen sogenannten "Großen Poeme" dem Nebel, der Nacht oder etwa den Jahreszeiten gewidmet. Wie auch in den kleineren und kürzeren Gedichten, die "Sturm ohne Wind" in ihrer Mehrzahl zum ersten Mal auf Deutsch darbietet, finden sich hier und da schwächere Passagen, in denen die Sprache einen raunend-esoterischen Beiklang annimmt und wo zumindest für westeuropäische Ohren etwas zu häufig das Wort Seele vorkommt. Andere frühe Texte, wie etwa ein Wladimir Majakowski gewidmetes Gedicht, bemühen sich stärker um eine politische Botschaft als ums ästhetische Gelingen.
Als Tochter eines osmanischen Offiziers aus Damaskus und einer griechischen Mutter, wuchs Adnan zweisprachig auf, griechisch und türkisch. Die Eltern waren zudem beide in Französisch bewandert, einer Art Lingua Franca der gebildeten Kreise im Nahen Osten zur Zeit des Ersten Weltkriegs. Obwohl der Vater Muslim war, schickten die Eltern ihre Tochter in Beirut auf eine von französischen Nonnen geleitete Schule. Während des Zweiten Weltkriegs dann kamen die Alliierten in die Stadt, die Franzosen, Engländer und mit ihnen die Verbündeten aus Australien, Neuseeland oder Polen. Die Amerikanische Universität Beirut nahm immer mehr libanesische Studenten auf. Beirut wurde zum Inbegriff der kosmopolitischen Stadt, vom eigentlichen Krieg aber blieb sie verschont. Adnan begann, Gedichte auf Französisch zu schreiben, ging nach dem Krieg zum Studium an die Sorbonne, dann nach Berkley in Kalifornien. Hier entdeckte sie die englische Sprache für sich – ein großes Abenteuer, wie sie meinte. Zur amerikanischen oder zumindest englischsprachigen Dichterin aber wurde sie mit Beginn des Vietnamkriegs. Als Reaktion auf Bilder aus Südostasien entstand "Die Ballade vom einsamen Ritter im heutigen Amerika".
"Gebt mir kein Schwert
ihr gabt mir eine Waffe
gebt mir keine Frau
ihr gabt mir den Krieg
gebt mir keine Rosen
ihr gabt mir Tränengas
gebt mir keine Narbe
ihr nahmt mir die Augen
ich gab euch einen Mann
ihr gabt mir einen Tritt."
ihr gabt mir eine Waffe
gebt mir keine Frau
ihr gabt mir den Krieg
gebt mir keine Rosen
ihr gabt mir Tränengas
gebt mir keine Narbe
ihr nahmt mir die Augen
ich gab euch einen Mann
ihr gabt mir einen Tritt."
Eine politische Autorin
Als Adnan Anfang der 70er-Jahre wieder nach Beirut ging, um dort für eine neue Zeitung das Kunstressort zu leiten, war es wieder ein Krieg, der einen Wechsel der Schreibsprache in ihr auslöste. Der Roman "Sitt Marie-Rose", der auf ein Ereignis des 1975 ausgebrochenen libanesischen Bürgerkriegs zurückgeht, entstand auf Französisch, ebenso das Langgedicht "Arabische Apokalypse". In beiden Arbeiten zeigt sich Adnan als politische Autorin, die die unmittelbaren Zeitumstände aufnimmt und poetisch verarbeitet, ohne dass Moral oder Propaganda ihr dabei in die ästhetische Quere kommen. In der Poesie wie in der Prosa findet Adnan eine je ihrem Gegenstand angemessene Form - in "Sitt Marie-Rose" die des berichthaft heruntergekühlten Kriegsjournals, und in "Arabische Apokalypse" herrscht eine bildstarke, rhythmisch hart gefügte Sprache vor.
"Beerdigungen. Sarg ohne Rosen. Unbewaffnetes Volk. In langer Linie.
Prozession der gelben Sonne von der Moschee zum leeren Platz. Stumme Taxis.
Armee in Zivil. Schweigende Leichenwagen. Zum Schweigen gebrachte Musik."
Die Anthologie "Sturm ohne Wind" enthält neben Adnans literarischen und autobiografischen Arbeiten auch eine Reihe von Essays und Interviews mit der Autorin und Malerin. Sie runden das Bild einer hellwachen, empfindsamen Frau, die entlang vieler Sprachen und Kulturen schreibt, und deren Blick inzwischen beinahe ein ganzes Jahrhundert umfasst.
Etel Adnan: "Sturm ohne Wind". Anthologie
Herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski
Edition Nautilus, Hamburg. 560 Seiten, 38 Euro.
Herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski
Edition Nautilus, Hamburg. 560 Seiten, 38 Euro.