Jasper Barenberg: Von der Willkommenskultur für Flüchtlinge kann man inzwischen eigentlich nur noch in einer Hinsicht sprechen: Bis heute versuchen weiter, viele, viele Menschen in Deutschland den Angekommenen nach Kräften zu helfen. Politisch dagegen hat sich der Wind längst gedreht, geht es jetzt darum, Zuwanderung zu begrenzen, die Asylregeln zu verschärfen, Abschiebungen zu forcieren, während Rechtspopulisten nicht nur in Deutschland noch viel weiter gehen wollen und andere wiederum offene Grenzen für alle fordern.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Philosoph Julian Nida-Rümelin von der Universität München Gedanken über eine Ethik der Migration gemacht, auch weil eines für ihn sicher ist: Auf absehbare Zeit werden weiter Millionen Menschen zumindest darauf hoffen, den katastrophalen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebensumständen in ihrer Heimat zu entfliehen. Was sollen wir in dieser Situation politisch tun? Auf diese Frage versucht sein neues Buch eine Antwort zu geben. Jetzt ist er am Telefon. Schönen guten Morgen!
Julian Nida-Rümelin: Ja, guten Morgen!
Barenberg: Herr Nida-Rümelin, wer hat in der politischen Debatte denn eine Ethik der Migration besonders nötig?
Der Rechtspopulismus hat von orientierungsloser Politik gelebt
Nida-Rümelin: Ich glaube, der öffentliche Diskurs über die Thematik, Flüchtlingskrise genannt seit September 2015, ist ziemlich entgleist. Polemische, auch chauvinistische, fremdenfeindliche Stimmungen sind hochgekocht. Der Rechtspopulismus hat auch wesentlich davon gelebt, dass die Politik orientierungslos wirkte.
Und auf der anderen Seite gibt es sehr viele, die sagen, das Beste was wir machen können ist, um das Weltelend zu mildern, die Grenzen der reichen Staaten zu öffnen für die, die hier ein besseres Leben sich erhoffen, und ich glaube, da muss jetzt etwas mehr Klarheit rein, und da habe ich mich eben bemüht, dazu einen kleinen Beitrag zu leisten.
Offenen Grenzen in Europa sind keine Perspektive
Barenberg: Das heißt, das Buch ist in erster Linie oder auch sehr stark gerichtet an die Adresse der Rechtspopulisten, man kann auch sagen der Nationalisten, teils sind es ja auch Rassisten, die es in Europa gibt, aber auch seit neuestem im Weißen Haus in Washington, die so stark gegen Zuwanderung und so kategorisch gegen Zuwanderung argumentieren?
Nida-Rümelin: Es ist schon an beide Seiten gerichtet. Auch diejenigen, die eine Politik der offenen Grenzen befürworten, machen sich, glaube ich, kein klares Bild von den Weltverhältnissen. Wir haben gegenwärtig 720 Millionen Menschen auf der Welt, die chronisch unterernährt sind. Übrigens zur gleichen Zeit:
Die Welt insgesamt leidet unter Nahrungsmittelüberschüssen, weiß gar nicht wohin damit, die EU und auch Nordamerika. Das ist ein wirklicher Skandal. – Oder knapp über 600 Millionen haben keinen Zugang zu Trinkwasser.
Das muss man sich mal alles klarmachen, um dann zu erkennen, dass eine Politik der offenen Grenzen die Elendsten der Welt natürlich nicht in Europa mit einer Perspektive versehen wird, weil die Elendsten der Welt können nicht Tausende von US-Dollar aufbringen, um etwa von Ghana nach Lampedusa zu kommen.
"Macht Euch der Größe der Problematik erst mal bewusst"
Das ist eine falsche Sicht auf die Situation, in der sich die Welt gegenwärtig befindet, und das ist eine meiner Hauptbotschaften: Macht Euch der Größe der Problematik erst mal bewusst, um dann die vernünftigen Maßnahmen zu ergreifen, und das ist eine fairere Welthandelspolitik, eine Weltsozialpolitik, Weltinnenpolitik, dort zu helfen, wo es wirklich nötig ist, statt zu glauben, dass wir mit der Aufnahme von Menschen eine wesentliche Linderung des Weltelends erreichen können.
Mangelnde Versorgung hat massiven Flüchtlingsdruck erzeugt
Barenberg: Gerade was diesen Punkt angeht, meinen Sie das auch, wenn Sie zu Beginn Ihres Buches schreiben, dass das Thema die Bereitschaft erfordert, die eigenen Vorurteile zu prüfen und Fakten endlich mal anzuerkennen?
Nida-Rümelin: Ja. Ich glaube, das ist eines der Hauptprobleme in dieser Debatte gewesen. Natürlich kam manches für viele in der Öffentlichkeit einigermaßen überraschend. In Wirklichkeit hatte das eine lange Vorgeschichte. Die Problematik hatte sich aufgestaut.
Das hing auch damit zusammen, dass die Weltgemeinschaft eben nicht bereit war, im angemessenen Umfang die Länder im Umfeld des Bürgerkrieges in Syrien mit den nötigen Mitteln zu versehen, damit die Menschen dort gut versorgt werden können, dass auch Schulen angeboten werden.
Nigeria ist aus den Verhandlungen mit Afrika ausgeschieden
Der Mangel an Solidarität, an Weltsolidarität hat erst diesen massiven Flüchtlingsdruck erzeugt. Meine Vermutung ist, dass die nächste Herausforderung, vor der wir stehen, allerdings nicht mehr der Bürgerkrieg im Nahen Osten sein wird, auch nicht der zwischen Schia und Sunna, sondern die zum Teil katastrophalen Verhältnisse im subsaharischen Afrika.
Das wird vermutlich die große Herausforderung sein und die Antwort muss sein, andere Wirtschaftsverhältnisse, andere soziale Bedingungen in Afrika mit schaffen zu helfen. Die EU hat mit westafrikanischen Staaten jetzt Verhandlungen geführt. Da ging es um Freihandelsregeln.
Und das Ergebnis wird sein, dass sich dort die Bedingungen verschlechtern und nicht verbessern. Wir reden darüber kaum. Nigeria ist aus diesem Grund aus diesen Verhandlungen ausgestiegen. Das ist die eigentliche Herausforderung, eine fairere Weltordnung zu schaffen.
"Wir müssen international politisch handlungsfähig werden"
Barenberg: Das ist ja ein sehr nachdrückliches Plädoyer auch in Ihrem Buch für eine Weltsozial- und Weltinnenpolitik, so formulieren Sie das, für mehr Gerechtigkeit. Da wird jetzt so mancher sagen, das ist aber sehr utopisch gedacht, weil wir wissen alle, wie weit weg wir von so etwas auch nur annähernd sind.
Nida-Rümelin: Wir haben immerhin jetzt schon die WTO zum Beispiel, World Trade Organisation, die eine ganz große Rolle spielt für den Welthandel. Die Regeln dort gehen rein auf Freihandel, gehen nicht auf die soziale Komponente.
Wir haben keine gemeinsamen Standards gegenwärtig zum Beispiel, wie geht man um mit der Ausbeutung von Menschen einschließlich Kinderarbeit, dürfen die Länder genauso exportieren wie andere auch.
Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat ganz konkrete Regeln entwickelt, die unbedingt umgesetzt werden müssten, weltweit, damit der Welthandel fairer wird und den Menschen auch wirklich dort zugutekommt, wo das nötig ist.
Ich bin nicht ganz so skeptisch. Ich leite ja auch eine Arbeitsgruppe deswegen der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Es geht darum, jenseits der Nationalstaaten Handlungsfähigkeit zu schaffen.
Wir sind gerade erst drüber weggekommen, die Krise der Weltfinanzmärkte halbwegs zu bewältigen. Das hat Jahre gebraucht. Auch das zeigt, dass wir auf internationaler Ebene politisch handlungsfähig werden müssen. Es geht gar nicht anders.
Den Klimawandel wird man nur verhindern können, wenn wir dort auch entsprechend politisch entscheiden können auf globaler Ebene. Den Pessimismus, wenn er denn gerechtfertigt wäre, da muss man sagen, na gut, aber dann stellt euch auf das Schlimmste ein.
Das Scheitern von TTIP ist eine Chance
Barenberg: Der Pessimismus gründet sich auf den Vorstellungen beispielsweise des neuen US-Präsidenten Donald Trump, aber auch auf Kritik beispielsweise an bilateralen Handelsabkommen, die die Bundesregierung forciert und ja auch nicht auf multilaterale internationale Abkommen setzt.
Nida-Rümelin: Trump ist mit Sicherheit kein Verbündeter für die Interessen des globalen Südens. Das ist offenkundig. Auf der anderen Seite ist die Unordnung, die gegenwärtig entstanden ist, Ende von TTIP, Ende der Transpazifischen Partnerschaft – das waren ja Verträge, TPP war ja fast schon unterschriftsreif -, das kann man auch als Chance begreifen.
Die Welt ist jetzt wieder offen, es geht so nicht weiter wie bisher, und ich wundere mich ein bisschen, dass die Hauptreaktion auf Trump ist zu sagen, wir setzen jetzt alles möglichst so fort wie es war, wir versuchen wieder, TTIP zu beleben, statt zu sagen, das ist jetzt die Chance, anzuknüpfen übrigens an einen Prozess, den es in den 1970er-Jahren schon einmal gab.
Das waren die UNCTAD-Konferenzen, United Nation Conferences on Trade and Development. Das war genau der Versuch, Strukturen einer Weltsozial- und Weltwirtschaftspolitik zu gestalten und nicht bilateral im Interesse einzelner Industrienationen zu verhandeln.
Lasten und die Vorteile der Migration extrem ungleich verteilt
Barenberg: Sie sagen in Ihrem Buch auch, dass es durchaus legitim und in vielerlei Hinsicht auch sinnvoll ist, der Zuwanderung Grenzen zu setzen, weil es nämlich oft den Ärmsten der Armen schadet, auch den Ländern, aus denen sie kommen.
Nun greift gerade der Rechtspopulismus ja Sorgen und Befürchtungen auf, die oft gar keinen konkreten Hintergrund haben oder nicht auf Fakten basieren, sondern das lebt viel von Ressentiments, von der Ablehnung gegenüber allem Fremden. Wer ist denn zugänglich Ihrer rationalen Argumentation in diesem Diskurs?
Migration bringt Niedriglöhner und Herkunftsländer unter Druck
Nida-Rümelin: Ich habe schon den Eindruck, dass auch in der Politik in Deutschland unterdessen sehr viel deutlicher ist, dass die Herausforderung sehr groß ist, dass man mit einer auch monatelangen oder jahrelangen Bereitschaft zu helfen allein nicht zurande kommt, auch deswegen, weil die Lasten und die Vorteile der Migration extrem ungleich verteilt sind.
Man muss anerkennen, dass die oberen Mittelschichten und die Oberschichten – da gibt es Studien dafür – vor allem in den USA eher von Immigration profitieren. Sie haben dann billigere Haushaltskräfte zum Beispiel, Kinderbetreuung und was dergleichen mehr ist. Das macht sich bemerkbar.
Während die mit schlechtem, niedrigem Einkommen, prekären Arbeitsverhältnissen tatsächlich durch diese neue Konkurrenz noch zusätzlich unter Druck kommen. Das ist ein Faktum, das muss man anerkennen:
In welchen Vierteln ändern sich die Lebensverhältnisse eher nicht bei den Oberschichten und oberen Mittelschichten, bei den akademischen Milieus, sondern eher in den Arbeitermilieus. Und darauf muss die Politik reagieren, sowohl das aufnehmende Land wie die Herkunftsländer wie die Migrierenden.
Die erfolgreich Migrierenden haben in der Regel sozio-ökonomisch jedenfalls einen deutlichen Vorteil. Die Herkunftsländer haben je nachdem von Immigration massive Nachteile. Manche Herkunftsregionen in Ostafrika werden sich davon nicht mehr so ohne weiteres erholen. Und aber auch die aufnehmenden Länder müssen die Lasten fair verteilen.
Ein fairer Ausgleich mit den Herkunftsländern ist nötig
Barenberg: Aus Ihrem Buch lese ich auch so etwas wie eine Distanzierung, eine Kritik an dem, was bei uns auch diskutiert wird: ein Einwanderungsgesetz, wo oft das entscheidende Kriterium ist die Nützlichkeit des aufnehmenden Staates, die Nützlichkeit beispielsweise für die deutsche Wirtschaft.
Nida-Rümelin: Deutschland wollte über Jahrzehnte nicht anerkennen, dass es de facto Einwanderungsland war und ist, und hat es entsprechend versäumt, eine vernünftige Einwanderungspolitik, ein Einwanderungsgesetz zu erlassen, was dann diese Bewegungen steuert. Ich bin sehr dafür, dass das jetzt nachgeholt wird.
Wir haben über Jahrzehnte über den eigentlich dafür ungeeigneten Asylparagraphen, Artikel 16 Grundgesetz, diese Zuwanderung eher schlecht als recht bei niedrigen Anerkennungsquoten gestaltet. Es wäre ein Zuwanderungsgesetz dringend erforderlich, weil Deutschland Zuwanderung braucht, schon allein aufgrund des demokratischen Wandels.
Und dort – das ist der Punkt, den Sie gerade ansprechen – dürfen nicht allein die deutschen Wirtschaftsinteressen im Mittelpunkt stehen, sondern auch die Herkunftsländer. Es muss einen fairen Ausgleich geben mit den Regionen, aus denen diese Menschen kommen.
Barenberg: Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie an der Universität München und er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Ethik der Migration". Danke für das Gespräch dazu.
Nida-Rümelin: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.