Axel Bödefeld wird an diesem Morgen mit einer Hymne begrüßt. Eine Kinderschar hat sich um den deutschen Jesuitenpater geschart und singt lauthals "Djelem, djelem", die Roma-Hymne. Bödefeld steht auf Socken im Eingangsbereich eines schmucken zweistöckigen Gebäudes, davor ein großer Spielplatz, von dem aus der große Schriftzug auf dem gelb-blauen Bau zu sehen ist: Loyola-Tranzit steht dort in bunten Lettern.
Tranzit heißt das Viertel im Süden von Prizren – weil die Verbindungsstraße zur Autobahn den Stadtteil durchschneidet. Hier leben vor allen Dingen Roma und Aschkali – aber auch albanische Familien. Neu gebaute Häuser stehen neben halb fertigen Gebäuden, dazwischen Baracken. Tranzit – der Name passt zu diesem Ort, der sich irgendwie im Übergang befindet, halb fertig, und ein bisschen chaotisch.
Bildungsort für Kinder des Viertels
Axel Bödefeld ist in den vergangenen Monaten oft in seinen kleinen Geländewagen gestiegen, um hierher zu kommen. Weit muss er nicht fahren, das Viertel liegt nur fünf Autominuten vom Loyola-Gymnasium in Prizren entfernt. Bödefeld war bis Mitte April Direktor des Gymnasiums, das vor 14 Jahren von einem seiner Ordensbrüder gegründet wurde. Bei Loyola-Tranzit gehe es darum, einen "Bildungsort" für die Kinder des Viertels zu schaffen, denn Schule und Bildung spielten in Roma-Familien traditionell eher eine kleine Rolle:
"Häufig müssen die Kinder sich mit um das Einkommen der Familie mühen, müssen arbeiten in Autowaschanlagen oder betteln gehen. Dadurch wird die Schule vernachlässigt. Und leider müssen wir sagen, ist die Regierung des Landes und auch die Stadtverwaltung, die für Bildung zuständig wäre, nicht aktiv und auch nicht gewillt sich dafür einzusetzen, dass die Schulpflicht, die im Land besteht, für alle Kinder und Jugendlichen durchgesetzt wird. Und dass sie besonders wenig dafür tut, dass die Schulpflicht für Kinder und Jugendliche aus Minoritäten, also Roma, Aschkali, Ägypter, durchgesetzt wird."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Bildung im Kosovo - Versagen eines jungen Staates".
Von Anfang an war Ramadan Mustafa mit dabei. Angefangen habe alles auf einem Stück Wiese, erinnert sich der 19-Jährige: Improvisierter Nachmittagsunterricht, ältere Schüler des Loyola-Gymnasiums zeigen Kindern aus dem Viertel, wie man einen Stift richtig hält, erklären Zahlen und Buchstaben. 2017 dann wird ein Raum angemietet, 2018 mit Spendengeldern schließlich das Loyola-Tranzit-Haus gebaut, nur 50 Meter entfernt rauscht die Autobahn von Pristina in Richtung albanischer Grenze vorbei. Ramadan ist hier einer von vielen "Bashkëpuntorë", jungen Mitarbeitern, die alle im Viertel wohnen und auch dort aufgewachsen sind.
"Als wir angefangen haben, mussten wir noch jeden Morgen von Haus zu Haus gehen, um die Kinder abzuholen. Es gab auch Vorbehalte von Eltern. Die dachten, die Kinder werden hier religiös umgepolt, weil Loyola ja von Christen geleitet wird. Das hat sich aber alles schnell gelegt. Heute kommen die meisten Kinder von alleine. Und auch für die Älteren im Viertel wie mich ist das wichtig. Erst vor Kurzem haben wir einen neuen Mitarbeiter bekommen. Der hatte vorher in einer Waschanlage gearbeitet. Es war nicht einfach, die Familie zu überzeugen, dass er den Job aufgibt und zu uns kommt. Das ist schwierig, wenn die Eltern selbst wenig mit Bildung zu tun hatten. Meine Mutter zum Beispiel ist auch nur ein Jahr zur Schule gegangen."
Schüler übernehmen Verantwortung
150 bis 200 Kinder besuchen täglich das Loyola-Tranzit-Haus: Es gibt einen Kindergarten, Hausaufgabenbetreuung, Musik- und Tanzunterricht. Dabei übernehmen auch Schüler des Loyola-Gymnasiums Verantwortung – und lernen dabei die soziale Realität vor ihrer Haustür kennen, eine wichtige Erfahrung, sagt Axel Bödefeld. Die Bildungssituation im Kosovo, das schlechte Abschneiden bei Pisa und die Vernachlässigung vor allem der ethnischen Minderheiten – am fehlenden Geld liege all das nicht:
"Weil die internationalen Zuwendungen, zum Teil auch zweckgebunden für den Bildungsbereich, sind immens. Wenn die alle annähernd zweckgebunden eingesetzt würden, dann hätten wir eine völlig andere Bildungssituation. Wir haben es leider mit Verantwortlichen zu tun in fast allen politischen Ämtern, die wenig politischen Gestaltungswillen haben und doch sehr stark damit beschäftigt sind sich und ihre Clans gut zu versorgen. Wir haben eine Vermischung aus Korruption, Fantasielosigkeit, Unwille und einem anderen Verständnis von Staat: Die eigentliche verlässliche Größenordnung war und ist die Großfamilie. Bis dahin, dass die Symbole des Staates nicht wirklich eine Bedeutung haben: Die Flagge und die Hymne werden immer gedoppelt mit der albanischen Hymne und der albanischen Flagge."
Eine kosovarische Flagge jedenfalls ist weit und breit nicht zu sehen im Tranzit-Viertel, und wenn die Kinder singen, dann ist es "Djelem, djelem" – die Hymne der Roma.