Diese Konzeption hat in Zeiten globaler, transnationaler Politik an Bedeutung verloren. Rechtspopulisten versuchen dagegen nun erst recht, den Begriff identitätspolitisch aufzuladen. Propagieren das Bild einer homogenen Einheit, die Zugehörigkeit nach ethnischen Merkmalen definiert. Wie lässt sich dem Kulturkampf von selbstgerechten Universalisten und kleinbürgerlichen Homogenitätsfanatikern begegnen?
Das Interview in voller Länge:
Wolfgang Schiller: Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Das Wesen einer offenen Gesellschaft ist, dass sie Vielfalt zulässt. Und wenn man sich umschaut, darf man ja mit Recht sagen: Wir leben in einer sehr vielfältigen, heterogenen Gesellschaft, wo viele Lebensentwürfe möglich sind, zulässig sind, wo man sich ausprobieren kann. Ein Gutteil unseres Grundgesetzes besteht aus Artikeln, die eigentlich keinen anderen Zweck haben als diese Heterogenität zu schützen. Trotzdem werden in letzter Zeit die Rufe nach mehr Einheitlichkeit des Volkes immer lauter, Einwanderer sollen sich an eine deutsche Leitkultur anpassen, sich daran orientieren. Herr Professor Nassehi:, eine offene Gesellschaft und der Wunsch nach Homogenität, schließt sich das nicht eigentlich gegenseitig aus?
Armin Nassehi: Das schließt sich womöglich aus, aber man könnte vielleicht historisch sagen, dass der Wunsch nach Homogenität erst in einer Gesellschaft entsteht, die eine gewisse Offenheit erreicht, das heißt, in der es so was wie eine Art von Pluralität gibt, also, an der man feststellt, dass die Einheit operativ nicht einfach da ist, sondern durch bestimmte Sprechweisen, Semantiken, auch durch das Ausschließen bestimmter Sprechweisen, aber auch das Einschließen bestimmter Personen- oder Ausschließen bestimmter Personengruppen hergestellt werden muss. Also insofern hängen diese beiden Dinge schon sehr stark miteinander zusammen.
"Das deutsche Volk: Wer ist das eigentlich, wer ist es nicht?"
Schiller: Woher kommt diese Vorstellung, dass ein Volk so etwas sein könnte wie eine homogene Einheit?
Nassehi: Das ist eigentlich historisch eine sehr späte Erscheinung. Man kann sagen, dass so eine Art von Politisierung des Begriffs des Volkes erst um 1800 stattgefunden hat. Also, der Begriff selbst ist ja schon älter, also, der bezieht sich etwa auf die "ethnoi" im Griechischen, da bezeichnet es eigentlich eher so was – oder die "gentes" dann im Lateinischen – auf Abstammungsgemeinschaften, die man innerhalb größerer Reiche, etwa des Römischen Reichs dann durchaus beobachten konnte. Also, man könnte sagen: Das, was man später, was Luther Stämme genannt hat, die deutschen Stämme oder so etwas. Herder war es eigentlich, der den Volksbegriff dann als eine Art homogene Einheit formuliert hat, als eine Art historisch-kulturelle Gestalt, die gewissermaßen wie eine Kollektivpersönlichkeit funktioniert oder eine Identität hat mit Sprache, Dichtung, Konfession, eigener Geschichte. Und erst später wurde das dann stark politisiert. Also, der Nationalstaat, wie er im 19. Jahrhundert entstanden ist, der hatte dann schon die Idee einer inneren Homogenität und die nannte man das Volk. Man kann ja sagen, in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland steht in der Präambel auch tatsächlich, das deutsche Volk habe sich diese Verfassung gegeben. Und dann stellt sich in der Tat legitimerweise die Frage: Wer ist das eigentlich und wer ist es nicht?
"Wir richten uns in Sprechweisen ein, die Folgen haben"
Schiller: Man operiert ja gerne in Witzen oder Karikaturen, mit Stereotypen von Nationen, also, die Deutschen seien besonders gute Ingenieure und die Italiener können besonders gut kochen, oder ich war vor Kurzem in Heidelberg, wenn man da durch die Stadt geht, alle Chinesen, Amerikaner, Japaner, die dort kommen, sind auf der Suche nach der deutschen Romantik und dem deutschen Volkswesen, wenn sie diese Stadt besuchen. Gibt es vielleicht doch so etwas wie einen Volkscharakter? Oder ist das eine Fiktion?
Nassehi: Es ist weniger als eine Fiktion, würde ich sagen, und mehr als so was wie ein Volkscharakter. Also, interessanterweise ist es doch so etwas wie eine eingeführte Sprechweise, dass man sagen kann, die Skandinavier seien kühl – was ja eine interessante Formulierung ist, weil es in Skandinavien auch kühler ist als im Süden –, das ist eine Sprechweise, die gut funktioniert. Und wenn man sagt, dass die Deutschen besonders fleißig, pünktlich und gute Ingenieure seien, dann sind das Sprechweisen, die gut funktionieren. Wenn man sagen würde, die lateinischen Länder sind heißblütiger oder wie immer man die Vorurteile formulieren will, dann sind das einerseits Vorurteile, andererseits Sprechweisen, die tatsächlich gut funktionieren. Und spannenderweise richten wir uns ja in diesen Sprechweisen ein, das sind ja durchaus Formulierungen, die Folgen haben. Folgen haben heißt, die so etwas wie nicht kollektive Identität als etwas Statisches produzieren, aber als eine eingeführte Selbstbeschreibung, bei der man irgendwann dann glaubt, was man sagt. Und das ist, glaube ich, schon etwas, was eine große Bedeutung hat. Aber zu glauben, dass es so etwas wie einen Volkscharakter gibt, der sich quasi biologisch in den einzelnen Exemplaren wiederfindet, das gibt es mit Sicherheit nicht.
Rechter Begriff und linke Vorstellung von Volkszugehörigkeit
Schiller: Sind dann diese Sprechweisen hilfreich oder sollte man die eher kritisch hinterfragen?
Nassehi: Na ja, zunächst scheinen sie hilfreich gewesen zu sein, sonst hätten sie sich nicht so etabliert. Und im 19. Jahrhundert, natürlich auch schon davor, aber besonders im 19. Jahrhundert, als man versucht hat, die unterschiedlichen Volkscharaktere gewissermaßen als Grundlagen von Nationalstaaten zu machen, indem man gewissermaßen durch die Völker ja so etwas wie, man könnte sagen, gleichberechtigte Personengruppen produziert hat, hat sich das durchaus bewährt. Und heute würde man sagen, also, wenn man beschreiben will, wer ein Deutscher ist, dann fragt man jetzt nach der ethnischen Abstammung oder fragt man womöglich nach einem bestimmten genetischen Set oder fragt man nur nach jemandem, der einen deutschen Personalausweis oder Pass besitzt oder sind alle Deutschen diejenigen, die sich zu einer bestimmten politischen Form bekennen? Das gibt ja ungeahnte Möglichkeiten. Übrigens ist in dieser Spannung sehr schön zu sehen, dass man gar nicht so genau unterscheiden kann, ob der Volksbegriff jetzt eigentlich nur ein rechter oder auch ein linker Begriff sein kann. Weil, als rechter Begriff würde er natürlich schon heißen, wir können uns Menschen gar nicht anders als als Zugehörige zu einem Volk vorstellen, und die Idealvorstellung ist, dass diese Völker, die es ja alle geben darf, wie die Identitären heute sagen, aber bitte nicht auf einem Flecken, eben in dieser Weise voneinander getrennt sein sollen. Aber die linke Vorstellung des Volkes wäre ja schon eine emanzipatorische Idee, zu sagen, wenn wir alle zu dem Volk gehören, dann gehören wir alle gleich zu dem Volk, ganz unabhängig etwa von unserer ökonomischen Potenz. Sie merken also: Wenn man sich mit dem Begriff beschäftigt, dann changiert man eigentlich immer zwischen so etwas wie einer konkreten Definitionsebene und einer Bedeutungsebene, die in bestimmten Kontexten funktioniert.
"Wir sind mit Haut und Haaren Mitglied von Kollektivgruppen"
Schiller: Bleiben wir noch mal bei dieser Frage, ob es ein linker oder ein rechter Begriff ist! Weil, das ist ja. In der aktuellen Debatte denkt man, das ist immer sozusagen ein Begriff, der von den Rechten besetzt wird, während die Linke sich quasi in Universalismus auflöst. Aber es scheint eben doch nicht so einfach zu sein.
Nassehi: Ja, denken Sie an die Begriffe Volkssouveränität und Volkssolidarität. Also, Volkssouveränität wäre ja durchaus ein emanzipatorischer, wenn man so will, linker Begriff, bei dem man sagen kann, es sind nicht irgendwelche adeligen Gruppen oder Eliten, die über die Gesellschaft entscheiden, sondern das Volk. Also, das kommt ja bereits im Begriff der Demokratie letztlich vor in einer bestimmten Art und Weise, nämlich als "demos" vor, das durchaus in bestimmten Zusammenhängen sehr stark ethnisch definiert worden ist. Also, das wäre dann aber schon ein emanzipatorischer Begriff, das Volk gegen die Eliten oder das Volk gegen den Adel oder das Volk gegen diejenigen, die gar nicht im Namen des Volkes sprechen dürfen. Aber es ist natürlich im Sinne der Volkssolidarität ein rechter Begriff, weil es dann bedeuten würde: Solidarisch sind wir eigentlich nur mit den Volksgenossen, also mit denen, mit denen wir zu tun haben, das sei letztlich die letzte Identitätsinstanz, der letzte Identitätsanker, den wir haben. Man könnte sagen, Alain Finkielkraut hat das mal so schön formuliert: Eine Livree, die wir nicht ablegen können. Letztlich bleiben wir immer das, was wir sind. Armin Mohler, der rechte Beschreiber, rechte – man könnte sagen – Kritiker des Liberalen, hat formuliert: Die Liberalen haben die Menschen immer danach beurteilt, was sie sagen, nicht danach, was sie sind – was ja eigentlich eine. wunderbar will man das gar nicht nennen, aber eine geniale Formulierung ist, das Rechte auf den Begriff zu bringen: Wir sind mit Haut und Haaren Mitglied von Kollektivgruppen.
"Sprechweisen erzeugen etwas wirklich Reales"
Schiller: Und da ist ja die spannende Frage: Wie bilden sich diese Kollektive? Also, wir haben jetzt erst mal gehört, dass diese Vorstellungen von Völkern eine Sprechweise sind, aber sie sind ja mehr als eine Sprechweise, sie sind ja auch eine Selbstbeschreibung, eine Vorstellung, wer man selber ist. Ja, wie haben sich diese Kollektive dann als Volk gebildet?
Nassehi: Der Volksbegriff ist in dem Sinne ein politischer Begriff. Also, er meint tatsächlich die Grundlage der Nation. Und man kann das historisch ziemlich genau datieren, dass man sagen kann, so ab 1800 ungefähr haben sich alle Völker, die Nationen sein wollten und eine staatliche Einheit gewesen sind, nicht nur Sprechweisen etabliert, sondern ganz klare Identitätsmarker, die man über In- und Ausländer definieren konnte. Also, man hat einen Diskurs über die Menschenrechte geführt, universal, die aber als Bürgerrechte bestimmter, man könnte sagen, durch das Volk integrierter Gruppen – Volk in Anführungsstrichen – gesichert worden sind. Und spannend ist ja daran, dass man sagen kann, dass das dann eine praktische Bedeutung hat. Also wenn diese Dinge politisch funktionieren – und die Funktion des Politischen ist ja nicht nur, dass man kollektiv bindende Entscheidungen herstellt, sondern dass man auch Kollektivitäten ansprechen kann, also wirklich adressierbar macht, dann entstehen durch diese Sprechweisen genau diese Kollektivitäten. Also, im Fall von uns Deutschen kann man das ja eigentlich sehr schön sehen, dass die Erfindung des Deutschen immer zu tun hatte mit einer eigenen Geschichtsschreibung, mit einer eigenen Literatur, mit der Frage, das Deutschtum in ganz bestimmten kulturellen Formen zu finden – denken Sie an Wagners Schrift, "Das Judentum in der Musik", in dem man sozusagen versucht hat zu zeigen, dass der Jude, der ausgibt, ein Deutscher zu sein, gar keiner sein kann, weil er eben ein Jude ist, woraus man schließen kann, dass die eigentliche Identitätsform das Deutsche ist –, also, man kann sehr schön sehen, dass diese Sprechweisen wirklich etwas Reales erzeugen und damit eine große Wirkmächtigkeit produzieren.
"Erst mit den Nationalstaaten entstanden Konflikte von identitären Gruppen"
Schiller: Davor war das Volk unpolitisch?
Nassehi: Na ja, die Gesellschaft hatte eine andere Form von Politik. Wenn man an die großen europäischen Reiche, an das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder an das Habsburger Reich, oder wenn Sie nur an das Königreich Preußen denken, also, wenn Sie an solche Herrschaftsformen denken, dann muss man sagen, waren die nicht irgendwie durch kulturelle Formen integriert. Also, an den Höfen wurden. Am preußischen Hof zum Beispiel wurde Französisch gesprochen. Erst als man sozusagen auf die Idee kam, dass man so etwas wie eine Nation sein wollte, hat man dann das Deutsche tatsächlich stark gemacht. Aber diese Reiche hatten eigentlich keine starke, man könnte sagen, völkische Adressierung. Im Habsburger Reich konnte man das auch sehen, eine Germanisierungspolitik hat es eigentlich erst im 19. Jahrhundert gegeben, vorher ging es um die Frage, wie man die Völker gewissermaßen gegeneinander ausspielt, den einen etwas mehr Rechte zuweist, den anderen etwas weniger. Aber das waren Völker im Sinne von Abstammungsgemeinschaften, die etwa im Habsburger Reich sehr stark mit konfessionellen Bindungen zu tun haben, denken Sie an – für uns Deutsche interessant – Siebenbürgen, wo wir es mit evangelischen Deutschen, mit katholischen Ungarn, zum Teil mit ungarischen Juden und dann natürlich mit orthodoxen Rumänen zu tun haben, wo sozusagen diese Gruppen irgendwie in der Interethnik funktioniert haben. Erst als die Nationalstaaten entstanden, wurden daraus dann auch Konflikte von identitären Gruppen.
Ethnos oder Demos: "Verständnisse schließen sich wechselseitig aus"
Schiller: Und mit dieser Politisierung dieses Volksbegriffs bilden sich auch zwei Verständnisse von Volk klar heraus. Also, einmal das Ethnische, das Volk als vorpolitische Masse, einmal dann als demokratisch-emanzipatorisch, haben Sie vorhin schon mal angesprochen, das Volk als Souverän, als Quelle aller staatlichen Gewalt. Braucht man beide Verständnisse von Volk?
Nassehi: Ja, das sind ja zwei sehr widersprüchliche Verständnisse. Also, "ethnos" und "demos" zu unterscheiden – übrigens ein Buchtitel des Soziologen Emerich K. Francis, einer meiner Vorgänger auf meinem Lehrstuhl –, "ethnos" ist gewissermaßen die ethnische Abstammungsgemeinschaft. Also, man könnte sagen, so etwas wie eine Art Blutsverwandtschaft derer, die zum Volk gehören. Also, das ist das, was man tatsächlich unter ethnischer Identität versteht. "demos" ist nur der Träger der staatlichen Souveränität. Und wenn man sich die Geschichte etwa der Demokratien anguckt, die ja nicht Ethnokratien heißen, sondern Demokratien heißen, dann würde man etwa bei der ersten großen Demokratie, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika, sehen, dass sie – heute würde man ja nie auf die Idee kommen, das als ein "ethnos" zu beschreiben –, aber zunächst einmal als eine ethnisch integrierte Form Politik gemacht hat, aber dann durch die Einwanderung, die in den Vereinigten Staaten stattgefunden hat, man sagen kann: Also, so etwas wie die staatliche Souveränität ist gar nicht mehr gebunden an so etwas wie eine klare ethnische Zugehörigkeit. Man würde deshalb immer von politischen Nationen sprechen. Frankreich gilt auch eine eher politische Nation. Wobei man nicht sagen kann, dass in diesen politischen Nationen so etwas wie ethnische Konflikte nicht auftauchen. Also, wenn Sie etwa an die Rassentrennung in den Vereinigten Staaten, man muss ja fast sagen: Bis vor Kurzem nachdenken, oder wenn Sie an die riesigen Konflikte denken, die in Frankreich etwa mit den Abkömmlingen der ehemaligen Kolonien zu verzeichnen sind, dann spielen beide Fragen immer eine Rolle. Und in Deutschland diskutieren wir das ja auch: Kann eigentlich ein Flüchtling, der hierherkommt, ein im Sinne des "demos" Deutscher werden? Kann er aber auch im Sinne des "ethnos" ein Deutscher werden? Muss er das überhaupt? Heißt das deutsche Abstammungsgemeinschaft oder ist es eine bestimmte Form der staatlichen Souveränität, die sich an rechtliche Regeln hält? Hierfür gibt es keine eindeutigen Antworten, aber man sieht, dass diese beiden Verständnisse sich geradezu wechselseitig ausschließen.
"Gesellschaft selbst ist keine politische Veranstaltung"
Schiller: Wenn man sich Amerika anschaut, das Beispiel, was Sie gebracht haben: Macht eigentlich das Verständnis von einer ethnischen Homogenität in so einem Staatsgebilde kaum einen Sinn? Also auch die Rede von "Make America great again" von Donald Trump, spielt das überhaupt an eine ethnische Homogenität an oder ist da ein anderes Verständnis von Volk, das da zugrunde liegt?
Nassehi: Also, in den USA kann man ja sehr schön beobachten, dass wir auf der einen Seite eine auch verfassungsmäßig gesicherte und auch in der eigenen liberalen Tradition durchaus fundierte Idee davon haben, dass man von ethnischen Unterschieden absieht. Das heißt, der Gleichheitsanspruch, der in der amerikanischen Verfassung ja formuliert ist, und zwar explizit formuliert ist, der ist politisch gültig. Aber die Gesellschaft selbst in ihren ökonomischen und kulturellen Strukturen produziert durchaus Ungleichheit, und zwar an den Grenzen der Ethnien. Also, nach wie vor sind die meisten Eliten Abkömmlinge der weißen Europäer, und zwar meistens der protestantischen weißen Europäer. Schon der Katholizismus gilt in vielen Gegenden der USA gar nicht als eine richtige Religion, sondern als irgendwie ein magischer Glaube, um das mal etwas übertrieben zu formulieren. Also, das heißt, die Gesellschaft selbst produziert selbst viel mehr Ungleichheiten, als die Idee der Nation mit ihrer Gleichheit im Sinne der Zugehörigkeit zum Staatsvolk beschreibt. Und da haben wir eine weitere, könnte man sagen, Antinomie: Das Gleichheitsversprechen dessen, was die Nationen aus rechtlichen Gründen, man kann sagen: Seit Anfang des 19. Jahrhundert – also im Fall der USA Ende des Jahrhunderts davor – eigentlich immer schon gegeben haben, wird konterkariert durch Ungleichheitseffekte innerhalb dieser Gesellschaften, die sehr oft an ethnischen Grenzen sich orientieren, an ethnischen Grenzen, an konfessionellen Grenzen, an kulturellen Grenzen. Und daran kann man eben sehen, dass die Gesellschaft selbst keine politische Veranstaltung ist, selbst wenn wir politisch-rechtlich alle gleich sind, dann sind wir noch nicht längst gesellschaftlich alle gleich. Und ethnische oder Hautfarbenmerkmale und Ähnliches spielen dabei eine besondere Rolle.
"Geschichte Europas ist der Punkt, an dem man Solidarität einfordern kann"
Schiller: In Amerika gibt es dann trotzdem das Selbstverständnis eines gemeinsamen Staatsvolkes. In Europa gibt es das möglicherweise, also, hier haben wir noch ganz klar ein Gebilde an Völkern, an zumindest ethnisch auch definierten Völkern. Gibt es so etwas wie die Möglichkeit für einen europäischen "demos"?
Nassehi: Vielleicht von weit weg. Also, es hat ja wahrscheinlich jeder die Erfahrung gemacht, wenn er mal Europa verlässt und nach Übersee fliegt oder wo sonst auch hin, dann ist es leichter, sich selber als Europäer zu sehen, als in Europa selbst, wo wir dann Deutsche, Österreicher, Franzosen oder Belgier sind. Die Geschichte Europas ist so stark an den nationalstaatlichen Selbstzurechnungsformen orientiert, dass man sich schlechterdings schwer vorstellen kann, die zu ersetzen durch so etwas wie eine europäische Identität. Und daran kann man ja doch sehen, dass, selbst wenn wir heute sagen würden, diese Form der homogenen Völker, das gibt es alles nicht mehr, das dürfte eigentlich auch aus normativen Gründen keine Rolle mehr spielen, empirisch ist das nach wie vor der Punkt, an dem man so etwas wie Solidarität einfordern kann. Ich meine, ist doch ganz spannend zu sehen, dass es so etwas wie ein Starkmachen des Nationalstaates auch bei linken Theoretikern sehr oft gibt, auch bei linker Politik sehr oft gibt, die sagt: Es ist irgendwie leichter, innerhalb Deutschlands eine Solidarität zwischen von mir aus Bayern und Mecklenburg-Vorpommern zu machen, aber innerhalb Europas zwischen Deutschland und Portugal oder Griechenland, das fällt uns schon erheblich schwerer. Und da ist ja irgendwie was dran!
"Vielleicht braucht Europa... äußere Feinde"
Also, Wohlfahrtsstaaten hatten immer die Idee, dass man so etwas wie eine Solidarität innerhalb einer Gruppe natürlich irgendwie formulieren muss. Und wenn wir so etwas wie, ja, man könnte sagen, politische Zumutungen der Bevölkerung gegenüber formulieren, dann würde man politisch ja immer sagen: Wir Deutsche müssen das und das und das machen! Und für einige heißt das dann eben: Wir ethnischen Deutschen; für die anderen heißt das: Für die Bevölkerung, die da ist. Aber Sie sehen, das Bezugsproblem, wer ist politisch als Kollektiv eigentlich ansprechbar, das ist nach wie vor da. Und das kann man nicht einfach mit einem Wisch sozusagen vom Tisch hauen, indem man sagt, ab jetzt gilt sozusagen nur noch eine europäische Identität. Das sind die Sprechweisen, von denen wir vorher gesprochen haben. Das sind nicht einfach Sprechweisen, die man so ändern kann, sondern die müssen sich evolutionär bewähren können. Vielleicht braucht Europa – ich meine das jetzt nicht ganz ernst – äußere Feinde. Wenn wir einen äußeren Feind hätten, wäre es womöglich leichter, genau das zu tun. Das ist kein Plädoyer für einen äußeren Feind oder für eine militärische Form selbst, sich Feinde zu suchen, sondern das ist ein Hinweis darauf, dass historisch die europäischen Nationen sich ja vor allem dadurch stabilisiert haben, dass sie die anderen europäischen Nationen für Feinde halten konnten. Vielleicht ist das ja für eine jüngere Generation, die ganz andere Erfahrungen gemacht haben, die so etwas wie Grenzen gar nicht kennt, die so etwas wie Grenzkontrollen nicht kennt, die eigentlich selbstverständlich sich in unterschiedlichen Ländern aufhalten, viel einfacher zu machen. Was wieder ein Hinweis darauf ist, dass sich das nur evolutionär lösen kann.
"Erbsünde von kollektiven Identitäten"
Schiller: Es wäre irgendwie sehr beängstigend, wenn man äußere Feinde bräuchte, um eine gemeinsame Kollektivität zu bilden. Ich meine, man kann ja nicht froh sein darüber, dass wir uns jetzt vielleicht nicht unbedingt in Feindschaft, aber doch in klarer Abgrenzung zur türkischen Politik oder jetzt auch zu dem, was in Großbritannien, in dem Vereinigten Königreich passiert, sehen und setzen und sagen, so, hier in Europa machen wir das anders. Das wäre ja auch keine gute Entwicklung.
Nassehi: Das ist quasi die Erbsünde von kollektiven Identitäten. Das muss man wirklich sagen. Ich nehme ausdrücklich den Begriff der Erbsünde, weil er gewissermaßen aus so einer religiösen Tradition kommt, die uns ja sagt, dass sozusagen schon der Schöpfungsakt selbst uns in die Sünde versetzt. Und das ist vielleicht tatsächlich bei der Entstehung von moderner Staatlichkeit, im Schöpfungsakt der Staatlichkeit schon angegeben oder angelegt, dass wir immer sagen müssen, wer dazugehört und wer nicht. Und dass wir dieses Nicht ja auch qualifizieren müssen.
"Wenn man nicht weiß, wie man Altöl entsorgt ..."
Schiller: "Identitätszumutung" ist ein schönes Stichwort. Wissen Sie, wie man korrekt Altöl entsorgt?
Nassehi: Oh, wie man korrekt. Ich glaube, es gibt Stellen, an denen man das sozusagen abgeben kann, damit man es nicht selbst entsorgen muss.
Schiller: Also, die Frage bezieht sich halt auf einen Fall kürzlich in der Schweiz, wo eine türkischstämmige Einwanderin. nicht Einwanderin, eine türkischstämmige Frau, die in der Schweiz geboren ist, die dort völlig integriert ist, die mit einem Schweizer verlobt ist, nach Jahren endlich mal einen Einbürgerungsantrag gestellt hat, und dort muss man dann also vor einer Kommission erscheinen, die dann die eidgenössische Eignung prüft. Und dazu gehört eben auch das Wissen, wie man korrekt mit Reststoffen umgeht. Und da war sie eben nicht besonders gut aufgestellt, sie konnte auch nicht über typisch schweizerische Sportarten wie Hornussen, Schwingen Auskunft geben, sie sei eben – hat dann die Kommission gesagt – nicht vertraut mit den Lebensverhältnissen in der Schweiz, und deswegen: Antrag abgelehnt. Gibt es ein Recht auf Zugehörigkeit zu einem Volk?
Nassehi: Das ist eine schwierige Frage. Wenn es ein Recht gibt, muss das Recht irgendwie codiert werden. Und in diesem Fall ist es in einer Art und Weise codiert worden, bei der man bestimmte Fragen beantworten muss. Und schon ist man in Untiefen. Also, es gibt sicherlich kein Menschenrecht, einem bestimmten Volk anzugehören, also ein bestimmter Bürger zu sein, das gibt es sicher nicht, das wäre auch eine Merkwürdigkeit. Aber es gibt natürlich schon rechtliche Regulierungen, die einem vielleicht so etwas wie Erwartungssicherheit herstellen. Also, eine Einbürgerung war vor der Reform des Einbürgerungsrechts in Deutschland ein, wie sagt man, Gnadenakt, ein Act of Grace, das war sozusagen. Es gab keine Erwartungssicherheit. Heute gibt es Erwartungssicherheiten und man versucht sozusagen, die Erwartungssicherheit von Staats wegen auch noch mal zu prüfen und zu sehen, ob die Person eigentlich in der Lage ist, die Regeln zu kennen, um die es hier geht. Man stößt sofort auf die Paradoxie, dass man diese Frage denen, die gewissermaßen immer schon hier waren oder hier geboren sind oder automatisch Deutsche oder in diesem Fall Schweizer sind, dass man diese Frage ihnen nicht stellt. Also, niemand würde die Staatsbürgerschaft entzogen bekommen, wenn er nicht weiß, wie man Altöl entsorgt oder wenn er nicht weiß, wie ein bestimmtes historisches Datum ist. Wenn man sich diese Tests anguckt, dann sind das ja so schulähnliche Fragen, die man können muss. Also, ich halte die eigentlich nicht für besonders tauglich, diese Formen, weil sie eigentlich nichts abprüfen, was mit Identität wirklich zu tun hat, zumal es wahrscheinlich an jeder Volkshochschule Kurse gibt, mit denen man diese Tests ganz gut bestehen kann.
"Demokratische Pflichtfrage: Wer darf rein, wer darf nicht rein?"
Schiller: Es geht ja immer um die Frage: Wer darf dazugehören und wer darf darüber entscheiden, wer dazugehört? In der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung hat sich ja auch viel Kritik daran entzündet, dass viele Bürger das Gefühl bekommen haben, die Kontrolle, wer in unser Land kommt und vielleicht irgendwann dazugehören darf, die entgleitet der Politik. Es kommen möglicherweise zu viele und möglicherweise auch nicht die, die wir wollen, und wer entscheidet eigentlich darüber, wer dann irgendwann da bleiben darf, und wir haben keine Kontrolle mehr darüber? Beim Brexit war es ja auch ein ganz wesentliches Kriterium für die Austrittsbefürworter zu sagen: Wir bekommen die Kontrolle zurück über die Leute, die zu uns kommen dürfen. Und die Frage wäre: Ist das nicht ein demokratisches Recht der Bürger, darüber entscheiden zu dürfen, wer dazugehören soll und wer nicht?
Nassehi: Ich würde dazu gerne zwei Bemerkungen machen. Die eine Bemerkung ist: Wenn man sich die bundesrepublikanische Gesellschaft heute und die in den 1950er-Jahren anguckt, dann gibt es dort eklatante Unterschiede. Man würde, wenn man ein Schwärmer wäre, sagen, Deutschland ist bunter geworden, und zwar in jeglicher Hinsicht. Sowohl ethnisch als auch, was Nationen angeht, die da sind, als auch, was sozial-moralische Lebensformen angeht, als auch, was kulturelle Möglichkeiten angeht. Interessanterweise eine Sache, die gar nicht geplant war. Diese Gesellschaft ist pluralistischer geworden und das hat eigentlich im internationalen Vergleich ganz gut funktioniert. Es ist gar nicht mal demokratischer Kontrolle unterlegen gewesen, sondern das hat sich irgendwie ereignet. Die zweite Bemerkung: Viele – und dazu gehöre ich auch –, die sozusagen so etwas wie Flucht- und Migrationsfragen durchaus positiv gegenüberstehen und sagen würden, dass wir viel mehr könnten, wenn wir wollten, diskutieren zurzeit über die Frage, ob wir nicht ein Einwanderungsgesetz brauchen. Und ich bin mir sicher, wir brauchen ein Einwanderungsgesetz. Nur, die meisten, die das befürworten, sehen nicht mit, dass man genau die Fragen stellen muss, die Sie gerade genannt haben: Wer darf rein, wer darf nicht rein? Nach welchen Kriterien darf man dazugehören, nach welchen Kriterien darf man nicht dazugehören? Wem wird das Staatsbürgerschaftsrecht gegeben, wem wird es nicht gegeben? Wie codiert man diese Regeln? Also, das sind ganz, ganz schwierige Fragen, bei denen man sagen muss: Das ist die demokratische Kontrolle der Frage, wer eigentlich rein darf und wer nicht und wer dazugehören darf und wer nicht, und wenn man diese Frage so stellt wie Sie, ist das nicht eigentlich das Recht eines demokratischen Staates, darüber demokratisch zu entscheiden, würde ich sagen: Ja, das ist nicht nur das Recht, das ist sogar die Pflicht, genau das zu tun.
"Die inklusive Kraft ist viel, viel stärker als wir denken"
Schiller: Vielleicht kann man ja auch sagen, dass es in Deutschland auch verschiedene Milieus gibt, die sich auch in der Vorstellung unterscheiden, wie homogen wir sind oder sein sollen und dass es da die einen gibt, die sich kulturell, popkulturell orientieren an angelsächsischen, amerikanischen, globalen Formen und andere gerne, sagen wir mal, in ihrer Heimat bleiben, und wie begegnet man diesem sich abzeichnenden, nennen wir es mal: Kulturkampf zwischen Leuten, die universalistisch denken und solchen, die einfach lieber unter ihresgleichen bleiben würden?
Nassehi: Ich habe den Begriff des Kulturkampfs selbst auch schon öfter verwendet, und interessanterweise ist dieser Kulturkampf gar kein Kulturkampf zwischen den etablierten politischen Kräften. Das geht zum Teil quer durch die politischen Lager. Also es gibt Leute, die tatsächlich in dieser Art Homogenität bleiben wollen, nach außen abgrenzen, und es gibt aber auch eine andere Seite, die so tut, als sei das überhaupt gar kein Problem – das ist genauso problematisch. Also ich habe selber eine interessante Erfahrung gemacht. Ich habe mich ja sehr um die Flüchtlingsfragen gekümmert, ich habe mir zum Teil hier in Bayern auch in den kleineren Gemeinden angeguckt, was da so passiert, mit einer sehr konservativen Bevölkerungsstruktur, mit Bürgermeistern, die eher konservativ sind und jetzt bestimmte Dinge durchsetzen müssen, und da stellt man fest, dass zum Teil die Integration von Flüchtlingen besser funktioniert als in den Großstädten, während man zum Teil in den großstädtischen gebildeten Milieus wunderbare große Sätze hört, aber man kann dann sehen, dass sie ihre Kinder auf jeden Fall in Schulen schicken, in denen der Migrantenanteil relativ klein ist, und ich klage das gar nicht an. Ich beobachte das nur, dass die Dinge dieses Kulturkampfs gar nicht so eindeutig sind. Insofern würde ich sagen, und das kann man doch über diese Gesellschaft wirklich sagen, ist ihre inklusive Kraft viel, viel stärker als wir denken. Erinnern wir uns heute noch an die Asyldiskussion Anfang der 1990er-Jahre, wo man auch schon dachte, dass die Welt untergeht, wo es viel, viel feindlichere Formen der Kommunikation auch aus den etablierten Parteien gegeben hat. Diese Folgen sind geradezu unsichtbar geworden. Wir haben jetzt vielleicht mit Migranten zu tun, die stärker mit dem Islam zu tun haben, aber auch der Islam ist ja nur eine Ressource im Identitätskampf. Man würde sich ja wünschen, dass die Menschen so integriert sind, dass auch die religiöse Identität, ein Moslem zu sein, eben nur ein Aspekt unter anderen ist.
"Ein ziemlich erfolgreiches Einwanderungsland"
Ich will kein Romantiker sein, zu sagen, das geht von selbst – wir müssen dafür schwierige politische Entscheidungen treffen, und ich hoffe, dass es einen politischen Akteur gibt, der das wirklich in die Hand nehmen wird. Wir haben in Deutschland eine interessante, man könnte sagen: Schieflage gehabt immer wieder. Es haben eigentlich immer wieder die – in Anführungsstrichen – "falschen" politischen Akteure das Richtige gemacht. Also Adenauer war derjenige, der die Westbindung hingekriegt hat gegen ein deutsches Bürgertum, das sehr stark eher nach Osten orientiert war. Es ist Willy Brandt gewesen, der die Aussöhnung mit dem Osten hingekriegt hat. Es ist Helmut Kohl, ein Konservativer, gewesen, der wirklich Europaintegration stark gemacht hat, und es ist Gerhard Schröder, ein Sozialdemokrat, gewesen, der interessanterweise liberale Wirtschaftsreformen gemacht hat und ein Grüner, der das erste Mal die Bundeswehr in den Krieg geschickt hat. Vielleicht sind es heute die Konservativen, die womöglich viel genauer erklären können, was so ein Integrationsproblem ist. Vielleicht kann man das von denen eher erwarten. Ich darf das als Bayer sagen. In Bayern gibt es, was die operative Flüchtlingspolitik angeht, nichts auszusetzen, außer den zum Teil merkwürdigen Formen einer symbolischen Abschiebung, aber ansonsten, es findet eine hervorragende Politik statt, muss man sagen. Es wird mit Geld ausgestattet, und es wird genau das gemacht, was man tun muss, aber die CSU-Regierung in Bayern will darüber nicht sprechen. Es geht mir jetzt gar nicht um die CSU. Man könnte das über fast alle Parteien auch so sagen. Wir tun es, aber wir sind eigentlich nicht in der Lage, uns der Realität, ein ziemlich erfolgreiches Einwanderungsland zu sein, auch tatsächlich zu stellen, und vielleicht hängt das auch mit dem Thema zusammen, dass wir diese Differenz der Begriffe "ethnos", "demos", Volk, Bevölkerung vielleicht zu sehr im Hintergrund gehalten haben. Viele gehen ja schon hin und sagen, wenn man von Volk spricht, das ist ja schon ein, wie soll man sagen, belasteter Begriff, den man gar nicht verwenden darf. Das Bezugsproblem kollektiver Identität, das besteht nach wie vor.
Schiller: Herr Nassehi:, vielen Dank für das Gespräch!
Nassehi: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.