In der Europäischen Union wird über die Ausgestaltung eines Wiederaufbauprogramms für Mitgliedsländer beraten, die besonders hart unter den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise zu leiden haben.
Bislang sind zwei Vorschläge auf dem Tisch: der Merkel-Macron-Plan und der Vorschlag der soganannten sparsamen Vier, die Nettozahler Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark. Streitpunkt sind vor allem die Konditionen, mit denen Kredite an Mitgliedsländer vergeben werden sollen.
Merkel-Macron-Plan und die "sparsamen Vier"
Der Streit um EU-Finanzhilfen in der Coronakrise zeigt sich an zwei vorliegenden Konzepten. Ein Überblick über die aktuelle Diskussion.
Der Streit um EU-Finanzhilfen in der Coronakrise zeigt sich an zwei vorliegenden Konzepten. Ein Überblick über die aktuelle Diskussion.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am 27. Mai ein eigenes Konzept vorgestellt. Vorab erklärte Guntram Wolff, Direktor des Think Tank Bruegel-Institut, welche Auswirkungen ein Wiederaufbauprogramm auf die EU haben kann.
Das Interview im Wortlaut:
Dirk-Oliver Heckmann: Herr Wolff, die EU-Kommission rechnet ja mit einem Wirtschaftseinbruch von 7,4 Prozent. Das wäre die tiefste Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie groß ist die Gefahr, dass Europa daran zerfällt?
Guntram Wolff: Ja, die Gefahr ist auf jeden Fall groß. Wir haben einen enormen Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität und einhergehend damit ist auch ein enormer Vertrauensverlust in Europa. Gerade im Süden Europas zeigen Umfragen sehr klar, dass die Stimmung immer skeptischer gegenüber Europa ist. Man fragt sich, wo bleibt eigentlich die Europäische Union, wo bleibt die Hilfe.
Die ökonomischen Mechanismen
hat Herr Kapern ja schon diskutiert. Wir haben tatsächlich die Gefahr, dass der Binnenmarkt verzerrt wird, dass es keinen vernünftigen Wettbewerb mehr in diesem Binnenmarkt gibt, und das wäre natürlich auch ein langfristiger Schaden auch für Nordeuropa, auch für Deutschland, weil wir natürlich als Nation einen funktionierenden Binnenmarkt mit einem starken Wettbewerb brauchen. Meine Sorge ist wirklich, dass der Wettbewerb sehr stark leidet und dass die politische Zustimmung zu Europa auch sehr leidet.
"EU-Budgetverhandlungen sind nie einfach"
Heckmann: Wir haben es gerade schon ausführlich gehört. Frankreich, Deutschland, die südeuropäischen Länder setzen auf Kredite. Die sogenannten sparsamen Vier lehnen das strikt ab. Die EU-Kommission setzt jetzt offenbar auf eine Mischung, wie gerade gehört. Könnte das Wiederaufbauprogramm daran scheitern?
Wolff: Diese EU-Budgetverhandlungen sind nie einfach. Jetzt sind sie noch mal einen Tick komplizierter geworden, weil zusätzlich zu den normalen 1000 Milliarden, eine Billion, die man diskutiert im Rahmen des Sieben-Jahres-programmes, noch mal diese 500 oder 700 Milliarden für diesen Aufbauplan diskutiert werden. Das heißt, wir haben wirklich eine sehr komplexe Gemengelage. Am Ende müssen sich alle bewegen und es muss irgendeinen Kompromiss geben, weil sonst de facto die EU nicht mehr funktionieren kann ab 2021.
Ich denke, normalerweise kriegt man es hin, aber dieser Kompromiss kommt spät. Er wird bestimmt nicht jetzt Mitte Juni kommen am Gipfel, am 18. Juni beim Gipfel der Chefs, sondern eher während der deutschen Ratspräsidentschaft.
"Wir brauchen temporäre Hilfen, die substanziell sind"
Heckmann: Die einen sagen ja, die Länder sind unverschuldet in die Krise geraten. Auch Deutschland habe ja nichts davon, wenn der Rest Europas abstürze. Die anderen wiederum, Österreich vorneweg, sagen, wir wollen keine Schuldenunion durch die Hintertür. Das heißt, wir wollen nicht, dass die einen Länder für die Schulden der anderen aufkommen. Das ist ja auch laut EU-Vertrag ausgeschlossen. Wer hat Recht?
Wolff: Ich denke, wir brauchen in so einer Situation temporäre Hilfen, die substanziell sind. Damit schafft man natürlich temporäre Schulden. Diese Schulden werden nicht sofort zurückgezahlt werden, sondern über 10, 15 Jahre eher zurückgezahlt werden. Insofern hat man tatsächlich ein gemeinsames Schuldenelement geschaffen. Aber man kann das, glaube ich, gut begründen mit der Massivität, mit der Größe dieses Schocks dieser Pandemie und letztendlich auch einer weisen vorausschauenden Europapolitik, die ja immer schon im deutschen Interesse war. Letztendlich ist es im deutschen Interesse, dass es Europa gut geht, und in so einer dramatischen Situation kann man nicht mehr nur vorherige Sünden aufzählen, sondern man muss sich auch wirklich dann mal auf den gemeinsamen Kern besinnen, und der gemeinsame Kern ist, dass wir einen gut funktionierenden Binnenmarkt haben und auch eine gewisse wirtschaftliche Prosperität, so dass alle Mitgliedsländer der EU letztendlich in dieser EU sein wollen.
Heckmann: Das könnte aber auch der Türöffner sein, Herr Wolff, für eine dauerhafte Schuldenunion. Das sagen jedenfalls die Skeptiker.
Wolff: Ja! Es ist auf jeden Fall so, dass hier ein Präzedenzfall geschaffen wird. Es wird eine europäische Schuld aufgenommen und diese Schuld wird langfristig sein. Es wird nicht in drei Jahren zurückgezahlt, sondern eher in 10, 15 Jahren. Und durch den Präzedenzfall ist es natürlich so, dass bei der nächsten großen Pandemie oder einem ähnlichen riesigen Schock, wenn er denn kommen sollte, man dieses Instrument tatsächlich wieder aktivieren kann. Ich glaube aber nicht, dass das jetzt zu einer permanenten Fiskalunion führt, in der in jedem Jahr es irgendwelche Transfers gibt. Das ist wirklich ein Instrument, das klar für riesige dramatische Schocks wie diese Pandemie genutzt werden wird.
"Die sparsamen Vier machen wichtige Punkte"
Heckmann: Die sogenannten sparsamen Vier geben sich hartleibig, zumindest jetzt zu Beginn der Verhandlungen, die ja noch anstehen. Was wird es kosten, ihre Zustimmung zu erzielen?
Wolff: Zunächst mal ist es wirklich eine Verhandlungstaktik der sparsamen Vier, die ich auch gut verstehen kann, und ich finde, die sparsamen Vier machen wichtige Punkte, wichtige Beiträge, indem sie sagen, dass das Geld wirklich, wenn das Geld genutzt wird, auch vernünftig genutzt wird, dass es eine vernünftige Überwachung dieses Geldes gibt. Diese Aspekte sind absolut zentral. Man kann nicht gemeinsames Geld aufnehmen und dann gibt jeder das Geld aus wie er will.
Als Kompromiss werden sie einfordern nicht nur eine gewisse Konditionalität - diese Konditionalität ist absolut notwendig -, sondern sie werden auch einfordern, dass es tatsächlich gewisse Rabatte weiterhin gibt. Das ist die andere große Debatte. Seitdem die Briten aus der EU draußen sind, fehlt ein großes Land, das erhebliche Rabatte auf den EU-Haushalt immer bekommen hat. Diese Rabatte, diese Ermäßigungen möchten die Niederlande, Schweden und Österreich gerne aufrechterhalten und darum kämpfen sie jetzt auch.
"Nicht akzeptieren, dass Mitgliedsländer langfristig keine Rechtsstaaten mehr sind"
Heckmann: Also ein Verteilungskampf, der sich dort anschließt. – Herr Wolff, relevante Kräfte sagen ja auch, das Geld muss an Bedingungen geknüpft werden, zum Beispiel an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Auch EVP-Chef Manfred Weber hat das heute Früh im Deutschlandfunk noch mal betont. Was wird aus dieser Forderung werden? Wird sie im Orkus der Geschichte landen, weil Ungarn, Tschechien, Polen nicht mitspielen?
Wolff: Politische Vorhersagen sind immer schwierig zu machen. Aber ich stimme da Manfred Weber vollkommen zu. Man kann nicht akzeptieren, dass EU-Recht in einigen Ländern nicht mehr vernünftig gilt, nicht mehr voll gilt. Das gilt genauso für Polen und die Tschechische Republik wie natürlich auch die Bundesrepublik Deutschland. Wir haben gemeinsame Verträge unterzeichnet. In diesen Verträgen steht auch, dass letztendlich die Kompetenzauslegung beim EuGH liegt, und wenn Länder sich langfristig nicht an diese gemeinsamen Verträge halten, untergräbt das die Basis aller gemeinsamer europäischer Politik – sei es die Binnenmarktpolitik, sei es die Wettbewerbspolitik oder sei es die Geldpolitik. Insofern ist diese Konditionalität absolut zentral. Man kann nicht akzeptieren, dass Mitgliedsländer langfristig keine Rechtsstaaten mehr sind. Dann ist die Basis der EU letztendlich dahin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.