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EU-Beitritt bedeutet für Litauens Bürger "viel mehr Freiheiten"

Remme: Will man die künftige Europäische Union in kleine und große Mitgliedsländer aufteilen, so ist der Platz Litauens mit dreieinhalb Millionen Einwohnern wohl unstrittig. Doch wie sich die Beitrittsländer in das bestehende EU Gefüge einordnen werden, das ist wohl noch nicht klar. Denn es wird wohl nicht automatisch zu einem Block der kleineren Länder kommen. Zu unterschiedlich sind die Interessen armer und manchmal recht großer Länder und der reichen Mitglieder, die gleichzeitig auch zu den kleinsten gehören können. Auch historische Beziehungen spielen eine Rolle. Man ist leicht geneigt, die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen vorschnell über einen Kamm zu scheren. Worin unterscheidet sich Litauen von seinen Nachbarn im Baltikum, diese Frage habe ich Alvydas Nikzentaitis gestellt, er leitet das Institut für die Geschichte Litauens an der Akademie der Wissenschaften in der Hauptstadt Wilna.

    Nikzentaitis: Eigentlich hat uns unsere Multikulturalität, die auch noch bis jetzt in großen Städten von Litauen spürbar ist, durch die ganze Zeit geprägt und prägt uns bis jetzt. Eigentlich, glaube ich, unterscheidet sich Litauen von den anderen baltischen Staaten, die auch teilweise multikulturell sind. Ich kann ein sehr gutes Beispiel nennen, wo eigentlich die Besonderheit von Litauen heute liegt und was eigentlich von viel früher geprägt ist. Einmal war ich mit meiner Frau im Bahnhof in Vilnius und da wollte ich einfach ein Ticket kaufen. Vor mir standen drei Damen, eine hat ein Ticket gekauft und sprach russisch, die zweite wollte ein Ticket nach Warschau kaufen und fragte, ob sie hier polnisch sprechen darf und die Verkäuferin war entsetzt und hat gesagt, wieso, das ist doch hier normal. Dann kamen wir und haben das Ticket auf litauisch gekauft. Sagen Sie mir, wo Sie einen anderen Bahnhof finden, wo man in drei Sprachen ein Ticket kaufen kann. Was jetzt in den letzten Jahren erst vorkommt, meine Mitbürger fangen jetzt an, diese Multikulturalität wirklich zu schätzen, wir sind einfach stolz darauf, dass hier in diesem Land nicht nur Litauer leben, sondern dass wir viele andere Nachbarn haben, die andere Zungen sprechen.

    Remme: Herr Nikzentaitis dann bleiben wir doch noch beim Alltag, wo Sie die Situation eben besprochen haben. Was wird sich für den Normalbürger ändern, wenn Litauen 2004 der EU beitritt?

    Nikzentaitis: Ich glaube, vieles. Ich erinnere mich jetzt noch an die EU Werbung in den letzten Monaten kurz vor der Volksbefragung. Ich war mit dieser ganzen Werbung etwas unzufrieden, denn es wurden eigentlich viel mehr die materiellen Sachen betont, dass wir so und so viel von der EU kriegen und viel weniger das, was wir für die EU geben. Also, ich glaube, es ist wirklich sehr schwierig über den einfachen Bürger Litauens zu sprechen, wie soll man diesen einfachen Bürger definieren? Wahrscheinlich muss man von bestimmten Gruppen von Leuten sprechen. Für die Intellektuellen bedeutet das vor allem der Austausch von Meinungen, der Austausch von Ideen.

    Remme: Aber die Intellektuellen sind eine Minderheit.

    Nikzentaitis: Ja, die sind die Minderheit. Für den ganz einfachen Bürger bedeutet das, sie bekommen noch mehr Freiheiten, viel mehr Freiheit zu reisen, viel mehr Freiheit zu studieren. Und da kann ich die Worte der einfachen litauischen Bürger oder jungen Studenten, kurz nachdem die Entscheidung bei dieser Volksbefragung gefallen ist, dass Litauen der EU beitritt. Was haben sie da gesagt? Oh, wir können jetzt wahrscheinlich schon im Mai sofort irgendwo nach Deutschland zum Studieren fahren, der andere hat überlegt, nein, Deutschland lohnt sich nicht, ich überlege irgendein anderes Land. Man bekommt nicht einfach nur materielle Sachen, man bekommt einfach ein ganz anderes Denken.

    Remme: Das sind jetzt Vorteile, die Sie beschrieben haben. Wird es auch Verlierer geben, wenn Litauen EU-Beitrittsland wird?

    Nikzentaitis: Ich glaube, ja. Da war ich wieder mit der EU Werbung unzufrieden, weil als eigentliche Gewinner die litauischen Bauern gezeigt wurden. Meiner Meinung nach, wie die Situation der litauischen Landwirtschaft ist, werden wir leider auch Verlierer des EU-Beitritts haben. Das heißt die litauischen Bauern und die Teile der Wirtschaft, die nicht genug Zeit hatten, sich den EU-Standards anzupassen und eigentlich konkurrenzfähig zu sein.

    Remme: Auch nach dem EU-Beitritt bleibt Litauen ja eine Schnittstelle zwischen Ost und West. Heißt das auch ein stetiges, vorsichtiges Tasten zwischen Westeuropa einerseits und dem mächtigen Nachbarn Russland andererseits?

    Nikzentaitis: Was eigentlich Außenpolitik anbetrifft, glaube ich, haben die litauischen Politiker schon rechtzeitig angefangen zu denken, welche außenpolitische Rolle sie in der EU spielen. Eigentlich sind da schon gewisse Prioritäten festgestellt worden und wir wollen eigentlich ein Vermittler zwischen der EU und vor allem Weißrussland und der Ukraine sein. Es sind auch in den letzten Jahren und Monaten entsprechende Schritte gemacht worden. Es sind in Litauen solche "Non Profit Institute" für Weißrussland und die Ukraine gegründet worden, die sollen vor allem die kulturellen, aber auch politischen Kontakte zwischen Litauen und diesen Ländern fördern.

    Remme: Aber, wenn Sie sagen: Vermittler. Übernimmt sich Litauen da nicht?

    Nikzentaitis: Vielleicht ja. Aber sehen Sie, welche Situation haben wir beispielsweise in den Beziehungen zwischen der EU und Weißrussland. Ich bin keinesfalls Anhänger von Lukaschenko, aber ich sehe, dass diese Blockade eigentlich nichts bringt. Die Position von Lukaschenko in Weißrussland bleibt genauso stark wie früher. Viele Probleme bleiben ungelöst, beispielsweise haben wir bis jetzt keinen Vertrag zwischen Weißrussland und Litauen wegen der Situation der Flüchtlinge, dort ist eine gewisse Gefahr. Aber, was für mich viel schlimmer ist durch diese Isolationspolitik, ist, wir isolieren nicht nur Lukaschenko sondern auch die demokratischen Kräfte und auch die weißrussischen Intellektuellen. Wir stoppen diese Prozesse und da muss jemand anfangen die Kontakte mit Weißrussland zu suchen.

    Remme: Herr Nikzentaitis blicken wir noch einmal auf das künftige Binnengefüge in der Europäischen Union. Ich habe historische Beziehungen angesprochen, da bietet es sich an über Polen zu sprechen. Wer sind die natürlichen Partner Litauens in dieser neuen EU?

    Nikzentaitis: Wenn Sie mich gefragt hätten, wie sieht die Situation heute aus, da hätte ich Ihnen ohne Probleme gesagt, na ja, eigentlich sind wir politisch und kulturell auch selbstverständlich mit Polen verbunden, dass Polen eigentlich lange Zeit unser wichtiger Anwalt bei der Frage EU-Erweiterung und vor allem NATO-Erweiterung war. Aber jetzt ab Mai 2004 wird sich die Situation ändern. Ich glaube, wenn wir in einem Europa leben, dann wird es keinen festen Block geben. Und wie Sie auch schon gesagt haben, die Grenze wird nicht zwischen klein und groß verlaufen. Dann sieht man schon jetzt gewisse Unterschiede in der Position von Litauen und Polen. Sie kennen sehr gut diese Diskussion über die neue Verfassung der Europäischen Union. Eigentlich ist die litauische Position bei all diesen Debatten viel gemäßigter als beispielsweise die unserer polnischen Nachbarn. Das Hauptargument ist, dass eigentlich die litauische Seite mit dieser Verfassung zufrieden ist. Wir Kleinen müssen verstehen, dass die Großen da auch irgendwelche Rechte haben wollen.

    Remme: Es ist nur ein kleiner Aspekt, aber ich frage trotzdem nach. Braucht Litauen einen eigenen EU-Kommissar?

    Nikzentaitis: Das wäre sicherlich schön, aber wenn es das nicht gibt, wenn wir keinen EU-Kommissar haben, dann beschleunigt das nur die Zusammenarbeit mit anderen Ländern, wahrscheinlich mit diesen Kleinen, wahrscheinlich mit solchen Ländern wie Österreich oder wahrscheinlich auch mit Malta und so weiter und so fort, um unsere Position in der EU zu verteidigen.

    Remme: Alvydas Nikzentaitis war das, er leitet das Institut für die Geschichte Litauens an der Akademie der Wissenschaften in Wilna.