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EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Abbruch wäre formal leicht umzusetzen

Die Türkei gilt als wichtiger EU-Partner in der Flüchtlingskrise. Doch die vergangenen Monate zeigten, das Verhältnis mit den europäischen Partnern ist mehr als angespannt. Immer lauter wird daher über einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen nachgedacht. Und das geht leichter als bisher unterstellt.

Von Jörg Münchenberg |
    Die türkische Fahne weht neben der Fahne der Europäischen Union. Der mögliche EU-Beitritt der Türkei wird seit längerer Zeit kontrovers diskutiert.
    Der mögliche EU-Beitritt der Türkei wird seit längerer Zeit kontrovers diskutiert. (MAXPPP/MAXPPP)
    Das Zugeständnis an Ankara war von Anfang an hoch umstritten. Im Zuge des Flüchtlings-Pakts hatte sich die EU auch bereit erklärt, die brachliegenden Beitrittsgespräche mit der Türkei wieder aufzunehmen. Erst im März wurde deshalb ein weiteres der insgesamt 35 Verhandlungskapitel eröffnet – dabei geht es allerdings nur um die vergleichsweise unverfängliche Haushaltspolitik.
    Seit dem Putschversuch und den darauf folgenden innenpolitischen Säuberungsaktionen bei Polizei, Justiz und Militär ist die Kritik an den Beitrittsgesprächen jedoch wieder lauter geworden. Angesichts der zahlreichen Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien gehe es um die Glaubwürdigkeit der EU, lautet ein zentrales Argument. Einen Abbruch der Verhandlungen aber hat nicht zuletzt die EU-Kommission bislang zurückgewiesen – auch mit Verweis auf die vermeintlich hohen formalen Hürden. So meinte erst Anfang des Monats EU-Kommissionspräsident Jean Claude Juncker in der ARD:
    "Ich sehe nicht, dass es jetzt hilfreich wäre, wenn wir jetzt einseitig der Türkei bedeuten würden, dass die Gespräche zu Ende sind. Das geht so nicht. Das müssen alle Mitgliedstaaten einstimmig beschließen, dass diese Verhandlungen abgebrochen werden. Diese Bereitschaft aller Mitgliedstaaten sehe ich zu diesem Zeitpunkt nicht."
    Die Hürde ist deutlich niedriger als von Juncker behauptet
    Eine Behauptung jedoch, die so nicht zu halten ist. Denn tatsächlich heißt es ausdrücklich im Rahmenabkommen für die Beitrittsgespräche aus dem Jahre 2005 unter Artikel 5, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit einen Abbruch der Verhandlungen beschließen kann. Demnach müssten also nur 16 der insgesamt 28 Mitgliedstaaten diesen Schritt unterstützen, sofern sie mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung vertreten.
    Die Hürde also ist deutlich niedriger als von Juncker behauptet – was inzwischen auch die Kommission kleinlaut gegenüber der Nachrichtenagentur DPA eingeräumt hat, die zuerst über den offenkundigen Widerspruch berichtet hatte. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Beitrittsgespräche grundsätzlich ablehnen. Hier werde Politik gemacht, kritisiert der CSU-Abgeordnete im EU-Parlament, Marcus Ferber, die Juncker-Äußerungen. Dabei sei die Rechtslage klar:
    "Insofern sollte sich auch Herr Juncker auf die Vertragstexte konzentrieren und nicht politische Signale aussenden. Ich hatte schon den Eindruck, dass es Herrn Juncker wichtig war, in die Hauptstädte das Signal zu senden, es wird keinen Abbruch geben. Das ist aber nicht seine Aufgabe – über diese Frage entscheiden die Mitgliedsstaaten und nicht die Europäische Kommission."
    Österreichische Bundeskanzler will eine klare Positionierung
    Doch das Thema bleibt ohnehin auf der politischen Tagesordnung. Denn inzwischen haben sich einige EU-Mitgliedsländer festgelegt. Obwohl ein Ende der Beitrittsgespräche auch ein Ende für den EU-Türkei-Flüchtlingspakt bedeuten dürfte, fordert der österreichische Bundeskanzler Christian Kern eine klare Positionierung. Zumal man bei den laufenden Beitrittsgesprächen auf der Stelle trete:
    "In Wahrheit passiert da im Moment kein substanzieller Fortschritt. Und ich denke, nachdem der Prozess schon jahrelang läuft, ohne dass wir uns dem Ziel angenähert haben, wär es eigentlich ehrlich, wir denken darüber nach. Und die Conclusio kann im Moment nur heißen: Es gibt in Wahrheit keine realistische Beitrittsperspektive."
    Schon beim informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs Mitte September in Bratislava will Kern deshalb das heikle Thema ansprechen. Formal gesehen wäre ein Abbruch der Beitrittsgespräche relativ leicht umzusetzen, nicht nur wegen der dafür notwendigen qualifizierten Mehrheit.
    Artikel 5 nennt als Begründung einen ernsthaften und anhaltenden Verstoß gegen die Prinzipien der Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Vorgaben, die viel Interpretationsspielraum zulassen. Ob ein Ende der Beitrittsgespräche mit der Türkei aber auch politisch mehrheitlich gewollt ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.