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EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
"Wichtiges Instrument, um Menschenrechte zu stärken"

Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller hat einen möglichen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als kontraproduktiv bezeichnet. Österreichs Kanzler Christian Kern hatte dies vorgeschlagen. Die Gespräche könnten ein wichtiges Instrument sein, um die Menschenrechte zu stärken und diejenigen Organisationen in der Türkei zu unterstützen, die sich mit Europa identifizierten, sagte Keller im DLF.

Ska Keller im Gespräch mit Christiane Kaess | 04.08.2016
    Die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller im Europaparlament in Straßburg.
    Die Visaliberalisierung sei ein ganz großer Knackpunkt, sagte die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller. (imago / Zuma Press)
    Man solle diejenigen Menschen und Organisationen nicht vergessen, die sich in der Türkei mit Europa identifizierten, sagte Keller.
    Als Reaktion auf das umstrittene Vorgehen der Türkei nach dem Putschversuch im Juli hat der österreichische Bundeskanzler Christian Kern vorgeschlagen, die Verhandlungen mit der Türkei zu beenden. Im ORF-Fernsehen kündigte er an, dass er das Thema Mitte September beim EU-Gipfel ansprechen werde. Dass die türkische Regierung deshalb den Flüchtlingspakt mit der EU platzen lasse, glaube er nicht, sagte Kern.
    Ska Keller kritisierte das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei. Es beruhe darauf, dass Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt würden. Die Türkei sei aber kein sicherer Staat für Flüchtlinge, da sie dort nicht anerkannt würden und nur selten Arbeit fänden.
    "Es wäre richtig, den Flüchtlingspakt aufzukündigen"
    Keller kritisierte zudem, dass Europa sich scheinheilig verhalte: Die EU wolle sich abschotten, fordere aber von der Türkei offene Grenzen. Es wäre richtig, den Flüchtlingspakt aufzukündigen, sagte Keller, allerdings müsse man dann daran arbeiten, dass die Flüchtlinge innerhalb Europas verteilt würden.
    Die Verteilung von Flüchtlingen könne nicht daran scheitern, dass einzelne Staaten nicht mitmachten, so Keller. Einige Mitgliedsländer könnten die Initiative ergreifen. "Die Bundesregierung hätte durchaus Mittel und Wege, für Verständnis bei anderen Ländern zu sorgen." Wer nicht mitmache, könne beispielsweise aus dem Schengenraum herausfliegen - dies sei ein "interessanter Vorschlag" aus Schweden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung Bärbel Kofler hat klare Worte zum EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei gefunden. Ihrer Meinung nach kann das Abkommen nicht so fortgesetzt werden wie bisher wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, dies gelte auch für die Bearbeitung der Asylanträge von Afghanen, Irakern und Iranern in der Türkei. Bernd Riexinger, der Vorsitzende der Linken, geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Vereinbarungen als gescheitert. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte zuvor erklärt, dass die Regierung in Ankara Abstand vom Flüchtlingspakt mit der EU nehmen müsse, wenn es nicht zu einer Visaliberalisierung komme. Darüber sprechen möchte ich mit Ska Keller, sie ist stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, guten Morgen, Frau Keller!
    Ska Keller: Guten Morgen!
    Kaess: Das Europaparlament ist Gesetzgeber für die Visaliberalisierung. Hat Sie denn die Drohung des türkischen Außenministers verschreckt?
    Keller: Nein, hat sie nicht wirklich. Denn es ist klar, dass die Visaliberalisierung ein ganz großer Knackpunkt ist. Das ist das, was die Türkei haben will, was ihr auch – wenn wir jetzt mal über den Flüchtlingspakt hinausdenken – schon seit vielen Jahren versprochen worden ist und wobei es immer wieder hapert. Klar ist auch, dass die Kriterien momentan nicht erfüllt werden, und es ist auch klar, dass diese Atempause, die ja irgendwie geschaffen worden durch den Flüchtlingspakt, den ich nach wie vor furchtbar finde, nicht genutzt worden ist, um darauf zu reagieren oder reagieren zu können, wenn die Türkei davon Abstand nimmt. Das hat man jetzt verpasst und jetzt wird es höchste Eisenbahn.
    Kaess: Jetzt kommt zu diesem alten Streit um die Terrorgesetze in der Türkei dazu, dass die Rechtsstaatlichkeit in dem Land nach dem Putschversuch ja mehr denn je infrage steht. Die regierende AKP verteidigt sich hier allerdings, der AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu hat sich gestern dazu bei uns im Programm geäußert. Wir hören mal, was er gesagt hat:
    O-Ton Mustafa Yeneroglu: Stellen Sie sich mal vor, dass der Deutsche Bundestag von Soldaten aus der Bundeswehr beschossen werden würde, bombardiert werden würde, wenn eben Menschen auf offener Straße von Kampfhubschraubern erschossen werden würden, Panzer auf der Straße Menschen überrollen würden. Die Türkei befand sich insgesamt in einer Notsituation. Und dass aus der Situation zur Existenzsicherung des Rechtsstaats der Rechtsstaat natürlich mit allen seinen Möglichkeiten zurückschlägt und die Putschisten sowie ihre Helfer und Helfershelfer aus dem Amt Jagd, ist wohl selbstverständlich.
    "Es ist ganz wichtig, auf den Rechtsstaat zu beharren"
    Kaess: Selbstverständlich, sagt der AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu. Ist es überheblich, Frau Keller, aus deutscher Perspektive das Vorgehen gegen die Putschisten in der Türkei so zu verurteilen, dass es aus türkischer Perspektive schon so ankommt, das wird stärker verurteilt als die Putschisten selbst?
    Keller: Ich glaube, es ist ganz wichtig, auf den Rechtsstaat zu beharren, darauf, dass rechtsstaatliche Mittel angewandt werden. Aber andererseits ist es auch sehr wichtig, die Gefahr durch diesen Putschversuch anzuerkennen. Anzuerkennen, dass in der Tat, wie er es gerade gesagt hat, das Parlament bombardiert wurde und dass es tatsächlich eine reale Gefahr gab. Das ist wichtig anzuerkennen. Und dann wird auch die Kritik an dem Vorgehen glaubhafter. Denn die Kritik sollte man sich auch nicht verbieten lassen, es ist ganz wichtig klarzustellen, dass es um rechtsstaatliche Mittel gehen muss. Aber klar muss man Putschisten bekämpfen. Die Frage ist halt nur, inwieweit macht man das und wen wirft man damit auch noch aus dem Amt und ist das alles noch verhältnismäßig? Und da hätte ich große Fragezeichen anzumelden.
    Kaess: Sie sprechen von Anerkennung dieser Gefahr, dieser großen Gefahr, die der Putsch gebracht hat. Diese Anerkennung hat gestern auch Europaratsgeneralsekretär Jagland gestern in Ankara geäußert. Er hat gesagt, von Europa aus habe es bislang zu wenig Verständnis dafür gegeben, welche Herausforderung der Putschversuch für die demokratischen und staatlichen Institutionen der Türkei bedeutet. Über die Gülen-Bewegung sei Europa schon sehr lange informiert gewesen, deshalb sehen wir eine Notwendigkeit, da zu säubern. Zitat Ende. Hat Herr Jagland zu viel Verständnis für die Türkei?
    Keller: Was Sie gerade im O-Ton gespielt haben von Herrn Jagland, da sagt er allerdings nicht Säuberung, er sagt "cleaning up all this".
    Kaess: So ist es übersetzt worden.
    Keller: Ja, das kann man aber nicht wirklich als Säuberung übersetzen. Natürlich weiß ich nicht den Kontext, ich habe nur einen Satz im O-Ton gehört, aber das kann man nicht als Säuberung übersetzen. Deswegen wäre ich da vorsichtig, weil, in der Tat klingt das sehr krass zu sagen, dass Säuberungen das richtige Mittel wären. Dem würde ich nicht zustimmen, aber ich glaube, das hat er nicht so gesagt, ich weiß allerdings nicht, ob er es so gemeint hat. Das war aber nicht die Frage.
    "Wichtig anzuerkennen, was für eine unglaubliche Gefahr dieser Putschversuch war"
    Kaess: Aber er hat für mehr Verständnis auf alle Fälle geworben, das hat er auf alle Fälle getan.
    Keller: Ja. Es ist auch wirklich wichtig anzuerkennen, was für eine unglaubliche Gefahr dieser Putschversuch war. Und in der Tat haben ja bisher alle immer gesagt, gut, die Gülenisten, das sind schon komische Leute, aber die stellen keine konkrete Gefahr dar. Viele Leute haben so gedacht, auch die Menschen in der Türkei, mit denen ich bisher gesprochen habe, und die sind in der Tat überrascht davon, dass tatsächlich es dazu gekommen ist, dass diese Gülenisten tatsächlich einen Putschversuch unternommen haben, wenn wir davon ausgehen, dass es in der Tat sie waren, danach sieht es aus. Und dann muss man natürlich etwas gegen die Gefahr unternehmen. Aber nach wie vor trotzdem mit allen rechtsstaatlichen Mitteln. Und das kann nicht dazu führen, dass Unschuldige inhaftiert werden, dass die Todesstrafe wieder eingeführt wird, dass Journalisten gefeuert werden, dass Menschen gefoltert werden, wie verschiedene Menschenrechtsorganisationen berichten. Das ist einfach nicht verhältnismäßig, das ist nicht korrekt und das ist nicht rechtmäßig.
    "Das Flüchtlingsabkommen fand ich von Anfang an keine gute Idee"
    Kaess: Und bei all dieser Kritik, die Sie haben, Frau Keller, wäre es dann nicht nur konsequent von der EU, das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei zu kündigen?
    Keller: Das Flüchtlingsabkommen fand ich von Anfang an keine gute Idee, denn es beruht ja darauf, dass Flüchtlinge aus der EU zurückgeschickt werden in die Türkei unter der Annahme, dass die Türkei sicher für sie wäre. Aber das ist sie nicht. Denn in der Türkei sind unglaublich viele Flüchtlinge – auch das, glaube ich, muss man anerkennen, dass die Türkei sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat, dass, wann immer der Ruf kam, Europas Grenzen zu schließen, gleichzeitig der Aufruf kam an die Türkei, die Grenzen offenzuhalten, auch das ist sehr scheinheilig, auch das kann man nicht vergessen, dass die Türkei sehr viele Flüchtlinge aufgenommen hat –, aber die Flüchtlinge leben dort unter sehr prekären Bedingungen, das hat sich auch nicht geändert, bei denen einige von ihnen eine Arbeitserlaubnis bekommen haben, und es ändert sich auch nichts daran, dass die Türkei mehr und mehr die Grenze schließt, dass kaum ein Flüchtling Anerkennung findet, auch gerade Nicht-Syrer nicht. Und deswegen ist aus meiner Sicht der Flüchtlingspakt von Anfang an nicht haltbar gewesen. Ich finde es absolut richtig, ihn aufzukündigen, allerdings muss da noch was getan werden, nämlich alle müssen daran arbeiten, dass die Flüchtlinge dann aufgenommen werden und verteilt werden über die Europäische Union.
    "Eine Politik der Abschottung kann nicht die europäische Politik sein"
    Kaess: Wie soll das denn passieren, man kommt ja zu keiner Einigung?
    Keller: Genau, das ist das Problem. Weil, aus meiner Sicht kann eine Flüchtlingspolitik nicht darin bestehen, dass wir die Grenzen dicht machen und die Flüchtlinge irgendwo hinschieben, sei es jetzt nach Griechenland abschieben, sei es in die Türkei abschieben, sei es in andere Länder abschieben. Eine Politik der Abschottung kann nicht die europäische Politik sein. Das muss aber erst klar werden, dafür braucht es auch politischen Druck, auch von der Bundesregierung, und ich denke, die hat diese Atempause, wenn wir es so nennen wollen, in den letzten Monaten nicht genutzt.
    Kaess: Jetzt fordert die griechische Regierung schon einen Plan B von der EU. Wenn das Europaparlament, dem Sie angehören, das Flüchtlingsabkommen an der Visafrage scheitern lässt – im Moment sind die Positionen ja so –, wie sieht denn Ihr Plan B aus?
    Keller: Das Europaparlament wurde übrigens überhaupt gar nicht in diesen Flüchtlingspakt eingebunden. Die einzige Entscheidung letztendlich, die wir darüber zu treffen haben, ist die Visaliberalisierung.
    Kaess: Aber das wird die entscheidende Entscheidung sein.
    Keller: Das ist in der Tat eine entscheidende, aber vielleicht wäre es ja auch gut gewesen, wenn das Europaparlament insgesamt einbezogen worden wäre, dann wären auch noch ein paar andere Kritikpunkte, zum Beispiel Menschenrechte und Flüchtlingsschutz zur Sprache gekommen.
    "Eine Flüchtlingspolitik kann nur mit Aufnahme verbunden sein"
    Kaess: Gut, aber jetzt war die Frage nach dem Plan B.
    Keller: Ja. Meiner Ansicht nach kann ein Plan B nur darauf beruhen, dass sich alle Mitgliedstaaten darüber ins Klare setzen, dass eine Flüchtlingspolitik nur mit Aufnahme verbunden sein kann, dass es nicht um Abschottung gehen kann.
    Kaess: Darüber sind sie sich nicht im Klaren.
    Keller: Wenn da einige nicht mitmachen wollen, dann muss man auf eine Kooperation unter einigen, also nicht allen Mitgliedstaaten setzen, die die Aufnahme von Flüchtlingen koordinieren.
    Kaess: Und die anderen sind aus dem Schneider?
    Keller: Die anderen sind nicht aus dem Schneider, aber ich möchte nicht, dass eine Flüchtlingspolitik der Aufnahme daran scheitert, dass ein oder zwei Mitgliedstaaten nicht mitmachen wollen. Es geht auch ohne sie. Es heißt dann immer, nein, wir können nichts tun, weil, die anderen 27 Staaten wollen ja nicht mitmachen. Nein, auch einzelne Mitgliedstaaten, auch einige und viele Mitgliedstaaten zusammen können einiges tun. Es ist nicht so, dass es nur vorwärts geht, wenn man irgendeine Einigung erreicht mit allen 28.
    Kaess: Welches Druckmittel hat die EU denn für diejenigen bereit, die nicht mitmachen?
    Keller: Der schwedische Ministerpräsident hat einmal vorgeschlagen, dass, wer sich nicht an der Flüchtlingsaufnahme beteiligt, der sollte aus dem Schengenraum rausfliegen. Ich fand das einen ganz interessanten Vorschlag, weil der auch mit Grenzen zu tun hat, und weil kein Mitgliedstaat aus Schengen rausfliegen will. Bis jetzt hat man immer Griechenland gedroht, aus Schengen rausgeschmissen zu werden, wenn sie die Grenzen nicht schließen, aber ich finde es einen viel interessanteren Vorschlag, das mit der Aufnahme zu verknüpfen. Darüber hinaus hätte auch zum Beispiel die Bundesregierung, die ja immer sagt, sie setzt sich ein für eine solidarische Lösung, durchaus Mittel und Wege, für mehr Verständnis bei anderen Ländern zu sorgen, abgesehen davon, dass die Bundesregierung in ihrer Vergangenheit leider auch nicht für viel Verständnis und Respekt gesorgt hat, wenn sie zum Beispiel vor gerade mal drei Jahren mehr oder weniger die letzte Sammelreform blockiert hat, wo es um die Verteilung der Flüchtlinge geht. Andere Länder wollten das, Deutschland wollte es nicht. Aber egal, in Zukunft geschaut könnte sie zum Beispiel viel tun, wenn sie bei der Frage von Pipelines mehr auf die Bedenken aus Osteuropa eingeht. Also, ich glaube, da gäbe es viel Spielraum, wenn sich alle Akteure einig oder nicht einig, sondern klar werden, dass das die Herausforderung ist und dass man darauf eine solidarische Antwort finden muss, die nicht heißt: Grenzen zu, wie das zum Beispiel der österreichische Außenminister will.
    Kaess: Ja, genau, da möchte ich noch kurz mit Ihnen drüber sprechen zum Schluss: Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern, der will die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stoppen. Ein richtiger Vorschlag zu diesem Zeitpunkt?
    Keller: Ich denke, nein. Klar muss man die Situation beobachten, aber zum jetzigen Zeitpunkt würde ich das nicht tun, sondern eher für kontraproduktiv halten. Gerade die Beitrittsverhandlungen, wenn sie ordentlich geführt werden, können ein wichtiges Instrument sein, um Menschenrechte zu stärken, um auch die Menschen und Institutionen oder Organisationen zu stärken, die sich mit Europa identifizieren. Und die sollte man nicht vergessen in der Türkei.
    Kaess: Die Meinung von Ska Keller, sie ist stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Danke schön für das Gespräch heute Morgen!
    Keller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.