Originalfassung
Sie können das Interview mit Michel Barnier, EU-Brexit-Chefunterhändler, auch im französischen Original hören.
Sie können das Interview mit Michel Barnier, EU-Brexit-Chefunterhändler, auch im französischen Original hören.
Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU gehen kommende Woche in die vierte Runde. Beide Seiten liegen hinter ihrem ursprünglichen Zeitplan zurück, da die durch COVID-19 erzwungene Pause die Verhandlungen per Video ausbremsen. Die Gespräche laufen aber nicht gut. So wollen zum Beispiel die EU alle Bereiche wie Warenhandel, Luftfahrt und Fischerei in einem großen Freihandelsabkommen regeln, die Briten wollen mehrere Einzelabkommen abschließen. Außerdem schließen sie eine Verlängerung der Verhandlungen aus.
EU-Chefunterhändler Michel Barnier sagte, die Briten müssten verstehen, dass sie nach ihrem Austritt nicht die gleichen Bedingungen und den gleichen Status haben könnten, wie zur Zeit ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Christoph Heinemann: David Frost, der britische Chefunterhändler, hat gesagt, dass Großbritannien der Politik, die Ihrem Verhandlungsmandat zugrunde liegt, nicht zustimmen könne. Was erwarten Sie von der vierten Verhandlungsrunde?
Michel Barnier: Ich erwarte, dass ich erfahre, ob das Vereinigte Königreich Ende dieses Jahres mit einem Abkommen aus dem Binnenmarkt, aus der Zollunion ausscheiden möchte, oder ohne ein Abkommen mit uns. Darum geht es bei diesen Verhandlungen. Wir haben nach drei Jahren Verhandlungen, die in einem guten Geist verliefen, auf politischer und institutioneller Ebene eine geordnete Scheidung in die Wege geleitet.
Seit dem 1. Februar handelt es sich beim Vereinigten Königreich um einen Drittstaat, nicht mehr um ein Mitglied der Union. Noch für einige Monate gehört das Land dem Binnenmarkt und der Zollunion an. Der Austritt muss nun geordnet herbeigeführt werden. Ich verfüge über ein Mandat, das mir von den 27 Ländern der Europäischen Union einstimmig und solide vorgegeben wurde und das auch vom Europäischen Parlament unterstützt wird. Ich halte mich an dieses Mandat.
Die Briten haben nicht verstanden, oder sie wollen nicht verstehen, dass der Brexit für sie mit Folgen verbunden ist. Für uns auch. Aber eben auch für sie. Dass sie nach ihrem Austritt nicht die gleichen Bedingungen und den gleichen Status haben können, wie zur Zeit ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Das ist ihre Wahl. Es ist schwierig für sie, die Folgen des Brexit anzunehmen. In London sollte in der nächsten Zeit mehr Realismus einkehren, wenn sie ein geordnetes Abkommen wollen, um aus dem Binnenmarkt und der Zollunion auszutreten.
Wir können kein Dumping akzeptieren
Heinemann: Wollen sie ein Abkommen?
Barnier: David Frost, der Chefunterhändler und auch der Premierminister haben mir gesagt, dass sie ein Abkommen schließen möchten. Denn es liegt im gemeinsamen Interesse, diesen Austritt möglichst geordnet zu organisieren und für sie und für uns gegenseitig die besten Bedingungen zu erzielen. Unser Ziel ist es, möglichst reibungslos zwischen zwei Märkten Handel zu treiben, die nicht gleich sind: der britische Markt umfasst 60 Millionen Verbraucher. Der Europäischen Binnenmarkt 450 Millionen. Deshalb müssen wir auf gerechte und faire Bedingungen achten. Unsere wichtigste Forderung bezieht sich auf das `level playing field´, Spielregeln für fair play in Wirtschaft und Handel. Wir können nicht akzeptieren, dass neben uns das Vereinigte Königreich seinen Markt dereguliert, um Dumping gegen uns zu betreiben. Denn auf dem Spiel stehen - und das habe ich in Deutschland vor den Handelskammern, dem BDA und BDI, mit denen ich einen sehr konstruktiven Dialog führe, immer wieder erklärt - auf dem Spiel stehen hunderttausende Arbeitsplätze (*) bei uns in den 27 Ländern der Europäischen Union.
"Wir legen die Bedingungen für den Zugang zu unserem Markt fest"
Heinemann: David Frost hat auch gesagt, Ihr Mandat werde bei den wichtigsten Problemen wahrscheinlich nicht zu einem Abkommen führen. Muss Ihr Mandat verändert werden?
Barnier: Die Frage nach einer Veränderung des Mandats der Europäischen Union stellt sich überhaupt nicht. Ich erinnere daran, dass das Vereinigte Königreich den Binnenmarkt und die Zollunion verlässt, nachdem es aus der Europäischen Union ausgetreten ist. Wir legen weiterhin die Bedingungen für den Zugang zu unserem eigenen Markt fest. Ein Drittstaat, das Vereinigte Königreich, wird uns nicht die Zugangsbedingungen zu unserem Markt für britische Waren, Dienstleistungen, Daten oder für Arbeitnehmer und Unternehmen diktieren. Wir bleiben souverän. Das ist mein Mandat. Wir legen selbst die Zugangsbedingungen für unseren Markt in allen Bereichen fest.
"Wir kommen nicht voran, wenn die Briten weiterhin Rosinen picken"
Heinemann: Über welchen Handlungsspielraum verfügen Sie, um einen Kompromiss erreichen zu können?
Barnier: Ich habe das Vertrauen der 27 Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments. Ich kenne die Regeln und die Grenzen dieses Mandats. Dank dieses Vertrauens glaube ich, dass ich über gewisse Fähigkeiten verfüge, um mögliche Kompromisse auszuloten: Beim Fischfang, den Wettbewerbsbedingungen, den Governance-Regeln, die eine effektive Umsetzung und Durchsetzung des Abkommens gewährleisten sollen. Das sind die schwierigsten Bereiche. Nur kommen wir dort nicht voran, wenn die Briten weiterhin Rosinen picken und das Beste aus beiden Welten für sich wollen. Man hat mir die populäre Redewendung der deutschen Sprache erklärt: Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen (Deutsch). Das ist die Haltung der Briten: Austritt aus der Europäischen Union, alle Vorteile möchten sie aber behalten. Mehr Realismus ist da vonnöten.
Heinemann: Welche sind die Bedingungen für den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt?
Barnier: Wenn es keine Zölle und Quoten geben soll, was wir noch keinem Drittstaat vorgeschlagen haben, das ist beispiellos, bedarf es einiger Spielregeln. Und was mich bei der britischen Position sehr erstaunt: Premierminister Johnson hat das selbst in der politischen Erklärung, die er unterzeichnet hat, anerkannt. Wir haben das im Oktober mit ihm und mit David Frost Schritt für Schritt, Zeile für Zeile und Komma für Komma ausgehandelt. Sie kennen den Text dieser politischen Erklärung, die deutlich sagt, wir benötigen Spielregeln, um jedweden unfairen Wettbewerb, unfairen Wettbewerbsvorteil und jede Deregulierung, die den Wettbewerb verzerrt, in den Bereichen Soziales, Umwelt, Klima und Staatshilfen, zu verhindern. Wir möchten, dass unsere Regulierungen gleichwertig sind.
Heinemann: Nun fordert Herr Frost die Europäische Union auf, sie möge ihre Vorschläge überarbeiten.
Barnier: Herr Frost sollte sich daran erinnern, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union und den Binnenmarkt verlässt. Das Vereinigte Königreich möchte mit uns Handels- und Wirtschaftsbeziehungen festlegen. Für Dienstleistungen, Transport, Luftfahrt, die innere Sicherheit. Sie wünschen dieses Abkommen. Wir auch, aber sie verlassen die Europäische Union, nicht wir das Vereinigte Königreich.
"Kein Abkommen auf Kosten des europäischen Binnenmarktes"
Heinemann: Das ist Ihr letztes Wort?
Barnier: Mein letztes Wort ist: Wir wünschen, mit diesem großen, befreundeten, benachbarten und verbündeten Land, dem Vereinigten Königreich, ein partnerschaftliches und ausgewogenes Abkommen abzuschließen. Dazu wird es aber niemals auf Kosten des Binnenmarktes, der europäischen Verbraucher und der europäischen Unternehmen kommen, wie die Briten das zu erreichen versuchen. Wir können unseren Binnenmarkt nicht schwächen: Ich kann es auf Deutsch sagen: Unser Binnenmarkt ist unser Heimatmarkt (Deutsch).
Heinemann: Die Briten akzeptieren inzwischen Kontrollen bestimmter Waren zwischen Großbritannien und der Provinz Nordirland. Allerdings nur absolut minimale Kontrollen. Welchen Sinn ergeben die?
Barnier: Ich verstehe diesen Begriff, den Briten verwenden, nicht. Ich weiß, was in dem Austrittsabkommen steht, das Herr Johnson unterschrieben hat, dass vom Unterhaus und dem Europäischen Parlament ratifiziert wurde, und das von den 27 Mitgliedsstaaten unterstützt wird: Es ist klar festgelegt, dass Nordirland und die Republik auf einer Insel in Frieden leben sollen, mit Stabilität, mit dem Karfreitagsabkommen. Wir haben mit Herrn Johnson eine Lösung gefunden, die das Karfreitagsabkommen und die Bedingungen für den Frieden bewahrt, und gleichzeitig den Binnenmarkt schützt. Dazu gehört eine strenge, eine normale Kontrolle aller Güter, die nach Nordirland gelangen sollen. Denn von dort werden sie weiter nach Deutschland, Frankreich oder Belgien transportiert. Wir wollen keine Grenzen. Das Vereinigte Königreich hat sich verpflichtet, alle Güter, die nach Nordirland gelangen, zu kontrollieren. Aus meiner Sicht gibt es über diesen Punkt keine Diskussion.
Einigung "extrem schwierig, aber noch möglich"
Heinemann: Ist ein Abkommen bis zum Ende des Jahres erreichbar?
Barnier: Das ist sehr schwierig, aber es ist möglich. Noch möglich, auch wenn die Briten uns heute einen zeitlichen Zwang auferlegen, indem sie jede Verlängerung der Verhandlungen ablehnen. Diese könnten um ein oder zwei Jahre verlängert werden, wenn sie dies wünschen. Wir sind dazu bereit. Wenn sie nicht wollen, bleiben uns jetzt acht Monate, sogar weniger, sechs Monate, damit noch Zeit für die Ratifizierung bleibt. Also: extrem schwierig, aber noch möglich.
Heinemann: Man gewinnt nicht den Eindruck, dass David Frost Ihr bester Freund ist. In welcher Atmosphäre finden die Verhandlungen statt?
Barnier: Mir geht es da nicht um innere Befindlichkeiten, unsere Beziehung ist sehr herzlich, wie auch die mit Olly Robbins, der im vergangenen Jahr seinen Platz innehatte, bei den Verhandlungen über das Austrittsabkommen. Es geht nicht um Freundschaft. Wir respektieren uns. Dem Vereinigten Königreich, seinem Volk, vielen früheren politischen Entscheidern, seiner Kultur bringe ich eine hohe Wertschätzung und Respekt entgegen. Und das bleibt auch so. Jetzt befinden wir uns in Verhandlungen, wo große Interessen im Spiel sind. Wir müssen unsere Interessen verteidigen. Diejenigen der deutschen, französischen, belgischen und irischen Verbraucher, der europäischen Unternehmen. Es geht um den Schutz des Binnenmarktes gegenüber einem Land, das direkt neben uns zu unserem Konkurrenten wird. Wird dies ein freier aber loyaler Wettbewerb sein, oder entwickelt es sich zu einem Krieg der Reglementierung und des Dumping? Darum geht es. Wir müssen wachsam und wir werden niemals naiv sein.
(*) Hier haben wir einen Übersetzungsfehler bei der Zahl korrigiert
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.